Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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Er saß eben in der Diwanecke seines Ateliers, die Lampe vor sich auf einem kleinen Tisch, und las in Pierre Lotis »Frère Yves«, welches Buch ihm Rolmers geliehen hatte, als er die vielen Tritte über die zwei Treppen zu seiner Tür heraufkommen hörte. Die Stimme der Hausmeisterin, welche von unten nach dem Begehren der Herren fragte, ließ ihn aufhorchen und gleich darauf Rolmers' Erkundigung vernehmen: »Ist Herr Moralt noch nicht ausgegangen?« Gleichzeitig glaubte er an einem stoßweisen Lachen auch Holleitner zu erkennen, der zum Treppaufsteigen mit seinem Stöckchen auf Äbis breitem Rücken Takt schlug.

Da sprang er auf, hob eilig von der Staffelei eine große Leinwand weg und trug sie leisen Schrittes nach der Wand, an die er sie behutsam mit dem Rande der Vorderseite anlehnte. Dann schob er den niederhängenden Teppich von der Tür zurück und schloß auf, als eben Holleitner anklopfen wollte.

»Servus Moralt!« salutierte dieser mit zwei Fingern am Hut, »bist du zu Hause?«

»Eigentlich nicht! aber wie sollte man der 42 Liebenswürdigkeit einer ganzen Invasion von Freunden widerstehen?« – und Äbi herzlich begrüßend und Rolmers an der Schulter in die Türe ziehend, lud er sie ein, ihre Mäntel abzulegen.

»Ihr kommt von Rahde?«

»Jawohl!«

»Und habt noch nicht gespeist?«

Holleitner machte einen hohlen Bauch und klopfte sich vor den Magen.

»So bleibt Ihr da! Ich besorge zu essen!«

Alle drei stimmten zu; so blieb man den Abend beisammen.

Der kleine Österreicher lag in der nächsten Minute auf dem Diwan und blätterte in dem Bande Loti. Selbstgefällig reckte er seine graziösen Beinchen nach allen Himmelsrichtungen.

»Ein üppiges, molliges Lager bei diesem Moralt, aah! – – Und was für ein neuer Wandteppich da hinten? sehr gut in der Farbe – sehr gut, wo hast du den her?«

»Vom Schah von Persien!« gab an Moralts Stelle Rolmers zur Antwort, der des Kleinen Beine sachte nach der Wand zu geschoben und sich ebenfalls auf das berühmte Polster niedergelassen hatte.

Äbi allein stand noch in bescheidener Unentschlossenheit, wo er Platz nehmen sollte, mitten im Atelier 43 und rieb sich mit einer Langsamkeit, die noch ein wenig den Bauern verriet, die Hände.

»Setz' dich in den Kirchenstuhl, wie es deiner Würde zukommt!« wies ihn Moralt an. Da gehorchte er.

Der Kirchenstuhl – der Brutstall für die großen Gedanken, wie ihn Holleitner getauft hatte, war ein wertvolles Stück altertümlicher Holzschnitzerei in gotischem Stil und offenbar ursprünglich ein Teil eines reichen Chorgestühls gewesen.

In der Mitte der hintern Breitwand, an deren Ende der Diwan stand, war er dem braunen Holzgetäfel eingefügt, welches bis zu Manneshöhe den Wänden entlang lief. Moralt hatte den eigenartigen, traulichen Sitz seinem Vorgänger im Atelier abgekauft. Wie Äbi mit seinem vollen, roten Gesicht jetzt in dem dunkeln Schnitzwerk saß, machte er ein hübsches Pfäfflein aus.

»Jetzt will ich aber auch hier bedient werden!« rief er.

»Das soll geschehen!« Moralt schob einen Tisch, den er inzwischen geräumt, vor den würdigen Sitz, stellte Stühle auf die drei übrigen Seiten und improvisierte mit der Geschicklichkeit einer Hausfrau in den nächsten zehn Minuten den Freunden eine leidliche Tafel. 44

»Holla Alter!« rief er dem Norweger zu, den er so behaglich faulenzen sah, – »wupp' dich ein bißchen auf von deinem Wonnepfühl, ich bin mit dem Tisch fertig, nun tu', was deines Amtes!«

Der Andere sprang auf und kramte gleich darauf, als Wohlbekannter am Ort, in einem Schranke. Er war bei Moralt erwählter Mundschenk. Er suchte vier Gläser hervor, vier böhmische Weinkelche aus dünnem, feinem Glas, jeden von anderer Form, und stellte sie vor die Freunde hin. »Wähle Jeder nach seinem Geschmack!«

Äbi faßte den seinen mit der Vorsicht eines Ungeschickten.

»Wozu ist das nütze, wenn die Gläser so dünn sind?« gestattete er sich zu fragen.

Die Hausmeisterin war inzwischen mit einem Korb voll kalter Speisen und einer Anzahl Flaschen eingetreten und besetzte eben damit den Tisch.

»Das sollst du gleich erfahren,« sagte Moralt und entkorkte eine der Flaschen. Rheinwein duftete daraus. Er goß das klingende Gefäß mit der Goldflut voll und hieß den Schweizer kosten.

»Hm?«

Ein frohes Schnalzen der Zunge war die Antwort.

Holleitner war angesichts der appetitlichen 45 Platten und beim lockenden Tröpfeln des Weins blitzschnell von seinem Lager geglitten und hatte sich vor Äbi hingestellt, dessen Kosten beobachtend, um eine allfällig entstehende Kennermiene sofort zu verspotten. Da der aber nur schnalzte und schwieg, erhob der Kleine dozierend den Finger: »Zu einem feurigen Wein, du unübertünchter Kanadier! gehört immer ein richtiges Glas; das ist eben eine andere Sorte Trunk, als das ewige hirnlähmende Bier im plumpen Krug; merk' dir das, mein Sohn!« Dabei schielte er nach Moralt hinüber, von dem dieser weise Ausspruch eigentlich stammte.

»Wohl, wohl, die Vorzüge des Weins kenne ich schon von daheim;« schmunzelte der Schweizer, – »am Sonntag und bei festlichem Zusammensein trinken auch wir zu Hause einen kräftigen Tropfen; bloß daß das Glas seine Sache dazu tut, ist mir neu; aber ich lerne da soeben, daß du recht hast.«

»Zu Tisch denn!« rief der Hausherr, – »wo steckt übrigens das Brot?«

»Dort! hinter dir!«

Sie setzten sich mit fröhlichem Geräusch; denn die drei Gäste behaupteten, einen Wolfshunger mitgebracht zu haben, und betrachteten mit Wohlgefallen die reichlichen Vorräte.

»Fanget an!« – sang näselnd mit des Merker 46 Beckmessers Stimme aus den Meistersingern der Kleine.

Rolmers hatte derweil die Etikette eines Glases zu sich herumgedreht: »ha! mixed pickles!« rief er, – »Piccallili sogar; da, Holl, greif zu! Das ist so was zum Kräftigen scharfer Zungen!«

Aber der streckte sofort das Glas zurück, Rolmers die scharfe Senfsauce dicht unter die Nase haltend, und fragte verbindlich:

»Fressen die Herren Eisbären auch mixed pickles

Sobald die Zwei außer der Schule beisammen waren, gab es Plänkeleien; und der große Rolmers ließ sich viel von dem Jungen gefallen, verzieh ihm eine Menge Schabernack, den er von keinem Andern hingenommen hätte, ein wenig wie ein großer Neufundländer, der sich im Gefühl seiner Stärke die Possen eines mutwilligen Pinschers gefallen läßt. Holleitner war aber auch ein drolliger Bengel, sah Alles, hörte Alles, schnappte Alles auf, was ihn nichts anging und ließ über Jegliches seinen lustig frechen Schnabel spazieren.

Der Norweger hatte inzwischen, sorgsam wählend, von dem kalten Roastbeef, dem rohen Schinken und der Gänseleberwurst ein paar schöne Schnitten auf seinen Teller gelegt; jetzt schob er ihn liebenswürdig 47 seinem Nachbar im Kirchenstuhl zu und wechselte ihn gegen dessen leeren. Der Hausherr versah den Eingesperrten mit den Beilagen.

»Äbi, sei nicht dumm!« rief Holleitner herüber, – »dies Grüne, was du da wegschiebst, ist das Beste!«

»Was der Bauer nicht kennt, frißt er nicht!« gab der trocken zur Antwort und fuhr fort, seinen Tellerrand mit Oliven zu garnieren.

»Bravo Alter, laß dir nicht dreinreden!« mahnte väterlich Moralt.

Ein lustiges Geklipper der Gabeln hub nun an in dem hohen Raum, dessen Ausstattung in dem unbestimmten Licht der einen Lampe und zweier Leuchter den behaglichen Eindruck eines vornehm wohnlichen und doch nicht überladenen Ateliers gab. Große, ruhige Flächen der Mauern waren frei, während da und dort Reihen von Studien hingen oder vom Gesims der Holzvertäfelung eine Statuette, eine Vase, verlängert oder verkürzt, je nachdem sie stand, ihren zierlichen Schatten an die Wand warf.

Über das hohe, breite Atelierfenster hinter sich zog Moralt, indem er sich auf seinem Sitze zurückbog, den grünen Vorhang ganz empor, so daß er die Scheiben vollständig verhüllte. Und nun zeichnete sich sein Kopf in weichem Halblicht auf den Grund des dunkeln Stoffes hinter ihm. 48

Unter reichem, dunklem Haar, das in der Bewegung kürzerer und längerer Wellen nach rückwärts lag und dann in einzelnen dichten, lockigen Büscheln, welche sich losmachten, beschattend in eine schöne Stirn von großer Klarheit fiel, lag ein Antlitz, welches man auf den ersten Anblick versucht gewesen wäre, für das Gesicht eines sehr lustigen Menschen zu nehmen. Denn die angenehmen Züge huben leicht ein bewegliches Spiel an, welches ihnen den Ausdruck liebenswürdigster Fröhlichkeit verlieh. In den Augenblicken der Ruhe aber legte sich über dieses selbe Angesicht ein stilles, tiefes Sinnen, zugleich mit einem Zug von Energie, aber von einer fast schmerzlichen Energie, als würden hinter den feingezeichneten, vollen Lippen in einer plötzlichen, festen Entschlossenheit die Zähne aufeinandergebissen. Dann wurde das eben noch so glänzende, große Auge allmählich unbestimmt im Blick, träumerisch, hüllte sich gleichsam in einen dunkeln Schatten, und die noch so jugendlich ruhigen, in ihrer kräftigen, reinen Zeichnung unverdorbenen Brauenbogen zogen sich leise zusammen. Ein kleiner Schnurrbart, heller als das Haupthaar, Nase und Kinn von charaktervoller Bestimmtheit der Form. Ein Ohr von auffallend sorgfältiger Durchbildung.

Der junge Mann glitt einen Augenblick von seinem Stuhl hinweg, um auch noch den Türvorhang, 49 der zurückgeschoben geblieben war, vorzuziehen; einen karamanischen Teppich von schwerem, tieffarbigem Muster.

»So! nun wird es erst gemütlich!« sagte er, während er wieder zu essen begann. »Spürt Ihr, daß ich heute schon tüchtig habe heizen lassen da drin?«

»Sehr behaglich!« brummte Rolmers. Der kleine Österreicher machte eine verbindliche Handbewegung von den Lippen zu Moralt hinüber: »Alles vortrefflich, Herr Wirt, oberster Hypersuperlativ!«

»Aber das Beste bleibt doch immer dein heimischer Wein!« meinte der Norweger und erhob sein Glas.

Sie stießen an, und ein melodisches Klingen zitterte von den edlen Kelchen durch den Raum.

Dieses öftere Bewirten eines kleinen Freundeskreises mit rheinischem Wein war bei Moralt nicht eine bloße Liebhaberei, war nicht die Befriedigung eines anspruchsvollen eigenen Gaumens, es war eine Art Kultus. Seltsam zu sagen – eine Art Kultus, die sich auf eine ganz subjektive Wirkung des Rheinweins auf Moralt gründete. Auf eine Wirkung vermittelst des Geruches, weit mehr als des Geschmacks, auf seine Fähigkeit: in dem jungen Manne starke Reminiszenzen zu erwecken, Ideenassoziationen hervorzurufen, wie sie in gleicher Weise kaum durch andere äußere Einflüsse zustande kamen. Denn mit dem 50 feinen, flüchtigen Geruch, der aus den gefüllten Gläsern stieg, erwachte in ihm, wenn zugleich der Schall fröhlicher Stimmen ihn umtönte, jedesmal leise und beseligend die Erinnerung an die gastliche Atmosphäre seines elterlichen Hauses am Rhein, das nun ausgestorben war. Bei diesem besondern Duft erstanden vor ihm alle Einzelheiten wieder, die einst gewesen waren. Er schaute in lebendiger Erinnerung das feine, liebenswürdige Wesen seiner Mutter, mit dem sie ihren Gästen ihr Haus heimisch zu machen verstanden hatte; und die angeregte Vorstellungskraft führte ihn, kraftvoll reproduzierend, von diesem ersten, dem gastlichen, zu einer ganzen Reihe anderer, intimerer Bilder seiner Heimat. Er lebte wie in einem Traume wieder, was er einst gelebt, und vergaß dann auf Augenblicke ganz, daß das Alles nun vergangen, begraben und für ihn verloren sei, und daß er allein stehe, allein in der Welt mit seinem reichen, liebebedürftigen Herzen, dem Erbteil seiner Mutter, und mit seiner Kunst.

Konstantin Moralt war von Geburt ein Landsmann Äbis. Seine frühesten Jugendeindrücke hatte er in Zürich erlebt, wo sein Vater an der Universität Staatswissenschaft lehrte und sich gleichzeitig an der Politik seines engern und weitern Vaterlandes beteiligte. 51

Der Großvater Moralt war, einer alten Familie angehörig, einer der ersten Seidenherren der Limmatstadt gewesen und hatte durch lange Zeiten einen Teil des Jahres in der Heimat, einen Teil in seinen Seidenzüchtereien in Italien zugebracht. Auf seinen Wunsch war der Großsohn Konstantin getauft und Tino genannt worden, zum Andenken an einen ihm jung in Italien verstorbenen Sohn.

Als eine Strömung im Regierungswesen des Heimatkantons Oberhand gewonnen hatte, welche Tinos Vater, der den gemäßigten Fortschritt vertrat, zu radikal war und ihm auf längere Zeit jede ersprießliche Beteiligung an den Staatsfragen unmöglich zu machen schien, war er einem Ruf an die Universität Bonn gefolgt, und Tino hatte mit neun Jahren die schweizerische Heimat verlassen. Von Bonn war der Vater schon drei Jahre später nach Heidelberg übergesiedelt, wo er dann in wissenschaftlich und gesellschaftlich hochgeachteter Stellung bis zu seinem vor vier Jahren plötzlich erfolgten Tode gewirkt hatte. Die Mutter war ihm schon nach fünfzehn Monaten nachgefolgt. Diese Mutter, die in ihrer zweifachen Liebe zum Gatten und zum Sohn, in ihrer zweifachen Aufgabe: einer positiven, tatkräftigen, und einer künstlerisch veranlagten, träumerisch lässigen Natur gerecht zu werden und Alles zu sein, ihr Lebenswerk gesehen 52 und mit den reichen Gaben eines hellen Geistes und eines tiefen, warmen Gemütes treu zu Ende geführt hatte.

Durch diesen mehrfachen Wechsel der Umgebung und der Eindrücke während seiner Entwicklung, hauptsächlich aber durch diese Mutter, die aus aristokratischem Hause stammte, in ihrer Jugend Italien, Frankreich und die Niederlande mit einem kunstsinnigen Vater bereist und zeitlebens etwas Selbständiges und Vorurteilsfreies in ihren Ansichten bewahrt hatte, die stets den verschiedensten Interessen zugänglich und für alles Schöne warm empfänglich geblieben war, hatte Tino geistig ein kosmopolitisches Wesen bekommen.

Sein Gemüt und seine Phantasie allerdings hatten, ihm und Andern fühlbar, ihre früheste Nahrung ganz aus der heimischen Scholle gezogen. Er liebte sein schweizerisches Vaterland auch innig; so warm, als es ihm der reiche, wohlbewahrte Schatz seiner glücklichen und lieben Kindheitserinnerungen in's Herz legte, aber er fühlte sich dabei geistig doch zugehörig zum großen deutschen Stamme, der über Grenzpfähle und Politik hinweg hüben und drüben nur ein geistiges Gesamtwesen ausmacht, – und gleichzeitig in seinem durch und durch künstlerisch, und zwar vielseitig künstlerisch veranlagten Wesen 53 in mancher Hinsicht auch mächtig angezogen von der malerischen und literarischen Kunst der Franzosen.

Das schweizerische Blut ist gewissermaßen Mischlingsblut, und wie der begabte und gebildete Deutschschweizer im persönlichen Wesen mit der Gründlichkeit deutscher Art meist ein Teilchen jener Lebhaftigkeit und Elastizität verbindet, die dem welschen Stamme eigen ist, dem Deutschen reinen Blutes aber fehlt, so entspricht auch, wenn er sich überhaupt für andere Kunst als für Musik interessiert, seinem Geschmack, ja seinem Bedürfnis in gar mancher Hinsicht die Kunst der französischen Nachbarn ebensosehr, wie die der deutschen.

Der junge Maler lebte nun in einer glücklichen Unabhängigkeit der äußern Lage, und frei, wie er war von hemmenden Verpflichtungen politischer Zugehörigkeit, ganz und ausschließlich der Kunst. Er hatte von seinen Eltern ein Vermögen ererbt, welches ihm eine Ausbildung in aller Muße gestattete, und von dieser Freiheit wollte er den vollen Gebrauch machen.

Denn wie bei Äbi, so war auch bei ihm das endliche Kunstschaffen ein schwer erkämpftes, bezahlt mit Jahren schmerzlichen Gehorsams, die er, infolge der entschiedenen Abneigung seines Vaters gegen einen künstlerischen Beruf, bei einer seinem Wesen 54 widerstrebenden Arbeit: in den Schreibstuben vornehmer Bankiers, hatte durchleben müssen.

Aber die überzeugte Zustimmung der Mutter und ihre Versicherung, daß auch im Vater ohne das unerwartete Dazwischentreten des Todes der Entschluß noch ausgereift wäre, einen nachträglichen Berufswechsel des Sohnes zu veranlassen, weil ihn dessen sichtlich gestörte Lebensfreude bekümmerte, gab Moralt die Beruhigung, daß er mit gut erworbenem Recht jetzt endlich in der längst erstrebten Laufbahn stehe. Und der Glaube der Mutter an seinen Erfolg in der Kunst, wie er ihn von der Sterbenden gehört, begleitete ihn wie ein stärkendes Amulett auf diesem schwierigen Wege, den er in seinem vierundzwanzigsten Jahr erst hatte antreten können, in einem Alter, in dem Andere die Zeit künstlerischer Ausbildung bald zu beenden pflegen.

So war er unter den Rahde-Schülern mit Äbi einer der ältesten und empfand oft genug, daß sein ganzer Mensch durch die Jahre der Hintanhaltung die erste kecke Frische und selbstvertrauende Unbefangenheit eingebüßt hatte, die so unendlich viel beiträgt zum glücklichen Durchlaufen der von Zweifeln leicht beunruhigten Studienzeit eines Malers. Er fühlte vor Allem, daß jene, nur der besten Jugendzeit eigene, von aller lähmenden Reflexion noch unbehinderte 55 Freudigkeit zu wagen, unwiederbringlich verloren gegangen sei durch die Jahre, in denen der eingesperrte künstlerische Trieb heimlich mit doppelter Macht in ihm gearbeitet hatte. Da er nicht produktiv tätig sein konnte, hatte dieser Trieb sich um so schärfer nach der kritischen Seite hin entwickelt und verfeinert, und überdies – weil keine Hingabe an eine einzelne Kunst als erwählten Beruf möglich war – sich auch noch auf drei Gebieten zersplittert, für welche Moralt Anlage besaß: in Malerei, Literatur und Musik.

Gerade dieses gleichmäßige Hinneigen zu den verschiedenen Künsten und daher so unbestimmte Herumschwärmen in Kunst im Allgemeinen war auch ein Hauptgrund gewesen, weshalb der Vater sich nicht hatte entschließen können, den Sohn den Weg gehen zu lassen, auf welchen dieser hinstrebte. Der tatkräftige Mann nannte des Sohnes Wesen Zerfahrenheit und trachtete ihm Halt zu geben durch einen Beruf, der ihn auf gegebenem Geleise führte. Er liebte sein einziges Kind über Alles und wollte sein Heil, aber er verstand die ununterdrückbare Gewalt des Talentes nicht und begründete dadurch ein düsteres Geschick. Dieses Unbestimmte, Tastende des künstlerischen Bedürfnisses in dem Knaben zu klären, ihm Bestimmtheit und Richtung zu geben, das wäre die Aufgabe gewesen, nicht aber die Verweisung des ganzen 56 Menschen auf irgend eine sichere, schnurgerad vorgezeichnete Bahn, wobei die eigentlichste Natur unberücksichtigt blieb, ja unterdrückt wurde.

Aber wie manche reiche künstlerische Veranlagung geht zugrunde an der Verständnislosigkeit ihrer Umgebung, die darum doch nicht immer eine harte Anklage verdient, die oftmals voll treubesorgter Liebe und zu den größten Opfern bereit ist, jedoch aus Mangel an Klarblick in die besondern Umstände einen furchtbaren Irrtum für das einzig Richtige, für eine heilig gebotene und deshalb rücksichtslos durchzuführende Pflicht hält.

Ein tragisches Geschick! unter welchem der Betroffene sein Leben dahinschleppt als ein unglückseliger Mensch, oft innerlich noch gleich elend im Glanz der erreichten Stellung, welche die treue Fürsorge jener Verständnislosen ihm zum vermeintlichen Heil erträumt hat.

– An der kleinen Abendtafel im Atelier ging es lebhaft zu. Sie sprachen über alles Mögliche, nur nicht über ihr Schaffen; denn den Gästen schien jene große, so sorgsam der Wand zugekehrte Leinwand eine stumme Aufforderung zu sein, nicht nach Moralts Arbeit zu fragen.

»Wie weit bist du schon mit dem ›frère Yves‹ gekommen?« erkundigte sich Rolmers. 57

»Ich habe ihn beinahe zu Ende gelesen!«

»Nun?«

»Oh – ›pêcheur d'Islande‹ und ›frère Yves‹, die sollte jeder Maler lesen! Ich liebe und bewundere diese Kunst der Darstellung immer mehr, welche das Knochengerüst der Handlung in Roman und Novelle nicht bloß mit Fleisch und Blut des realen Lebens umgibt, sondern stellenweise sogar, aus Freude an der Deskription, Seiten hindurch gänzlich im hohen, herrlichen Grase blumiger Wiesen versteckt, die Szenen an murmelnde Bäche, in die durchsonnte oder neblig brauende Landschaft, in den Schatten flüsternder Baumgruppen oder in den herben, gesunden Duft des freien, frischgepflügten Ackerlandes hinaus verlegt und so neben der dichterischen Kunst, neben den psychologischen Entwicklungen, auch ein Stück echtester Landschafterei bietet. Aber allerdings nur, wenn ich solche wahre Maler vor mir habe, wie sie die moderne französische Literatur an Zola und Loti besitzt und an den beiden de Goncourt, auch an Flaubert und Daudet, oder die Russen an Turgenjew! Ihre Malerei ist so gesund, so prächtig, daß man sie direkt mit der Kunst der modernen Landschafter in Paris und Holland vergleichen kann. Es geht etwas von den Dupré, Daubigny, Troyon und besonders von Bastien-Lepage durch diese Schilderungen, das wird Jeder sich sagen, 58 der Empfindung dafür besitzt. Und daß diese Autoren solch' ein Geständnis vom Leser erringen, will viel heißen in einer bloßen Schwesterkunst der Malerei, in welcher die Mittel zur Wiedergabe von Form und Farbe, Beleuchtung und Stimmung nur in Worten bestehen! Hat Rahde das Buch schon gelesen?«

»Nein, er bekommt es nach dir.« antwortete Rolmers.

»Ah!« rief Moralt, »der wird sich freuen; er, der die Bretagne so liebt! Weißt du, die Bretagne riecht man ja förmlich dadrin, mit Meer und Nebelluft und düsterer Heide, und dann wieder mit den blühenden Wiesen und Bäumen im Lenz. Man sieht diese niedern Bauernhütten mit ihren Moosdächern vor sich auf dem Boden wachsen und die uralten Granittürme der Dorfkirchen mit dem hundertjährigen Epheu dastehen, – lauter Bilder, wie sie nur ein echter Maler geben kann!« Er hatte sich mit seinem Interesse an Loti ganz warm geredet und nahm jetzt einen kräftigen Schluck Wein. »Morgen Abend komme ich zu Ende; dann kann ich das Buch ja selber bei Rahde abgeben.«

Der Norweger nickte einverstanden.

»Was hat er Euch diese Woche in der Schule gestellt?« fragte Moralt, mit seinen Gedanken auf 59 den Meister gelangt, plötzlich seinen Nachbar zur Linken.

»Einen weiblichen Akt,« gab Äbi ausweichend zur Antwort.

»Interessant?«

»Die rote Pöntl,« sagte Rolmers ruhig.

Äbi schien zu erschrecken. Mußten sie dem Freund von dem widerwärtigen Geschwätz erzählen, dessen Gegenstand er gewesen war?

»Nun, da bereue ich nicht, ausbleiben zu müssen,« sagte Moralt, während er einen Korb mit Nüssen zu sich her zog und davon für die Freunde aufzuknacken begann. »Ich hatte diese Person hier, um etwas zu versuchen. Unmöglich, etwas Anderes als leere Form an ihr zu studieren! Gebt Acht, wie die Euch bis zum Samstag verleidet sein wird!«

»Oh!« rief Rolmers und winkte mit der Hand ab, – »eine Gleichgültigkeit und Leblosigkeit, wie ich sie an einem so schönen Körper nie gesehen! Um so lebhafter ist das Mundwerk, mein Lieber!« fügte er, möglichst unbefangen lachend, hinzu. »Das Klatschmaul hat, wie ich merkte, Podjenyi von der Sitzung geplaudert, die sie bei dir gehabt hat, und ich habe ihm, als er sich wunderte, daß du ein Bild unternehmest, bedeutet, er möge sich einstweilen aller vorwitzigen Bemerkungen darüber enthalten.« 60 Moralt, sichtlich unangenehm berührt, hatte sich aufgerichtet und schaute verlegen auf Äbi und Holleitner.

»Ich sage dir das bloß, damit du dich nicht unnötig ärgerst,« fügte der Norweger bei – »wenn du etwa von Podjenyi darauf angeredet würdest, oder von Paschke, oder von – – – nun, es standen eben Einige in der Nähe, als er in der Pause mit mir sprach.«

Moralt zuckte unwillig die Achseln. Er befand sich in peinlicher Verlegenheit den beiden andern Freunden gegenüber, denen er trotz ihres warmen Interesses für sein Schaffen bis jetzt noch kein Wort von seinem Entschlusse mitgeteilt hatte, sich auf längere Zeit von der Schule zurückzuziehen und ein Bild zu schaffen. Er hatte es nicht getan aus einer instinktiven Abneigung, von einem Werke zu reden und unklare Erwartungen darauf zu erwecken, bevor es auf einen gewissen Punkt gediehen, wirklich dastand; – nicht getan aus jener unerklärlichen Scheu, die eine Art Gefühlskeuschheit des Mannes ist, der im Begriffe steht, sich aus seinem innersten, heiligen, künstlerischen Bedürfnis heraus zum erstenmal in einer Schöpfung auszusprechen; – nicht getan endlich auch aus einem bangen Mißtrauen gegen sich selber und seine schöpferische Kraft, wie es fast bei jedem wahren Künstler 61 vor dem ersten großen Werk im Innern umherzuschleichen pflegt.

Äbi sah verlegen in seinen Teller und grub mit unnötiger Anstrengung einen festgewachsenen Nußkern aus seiner Schale. Holleitner wollte der Situation eben mit einem scherzhaften Vorwurf über dies Verschweigen eine leichtere Wendung geben, aber das Wort blieb ihm auf den Lippen, als er Moralts Miene sah.

War denn das Unternehmen eines Bildes eine solche Guillotinenfrage?

»Es ist mir sehr ärgerlich,« sagte schließlich, nach ein paar Augenblicken ungemütlicher Stille, Moralt, »daß Ihr, Äbi und Holl, in der Schule zuerst habt erfahren müssen, was ich selbst Euch sagen wollte, sobald ich mit mir selber mehr im Klaren war über mein Bild. Ich bin im Einverständnis mit Rahde für das Wintersemester ausgetreten! Ich habe in den letzten Wochen einen scheußlichen Moralischen durchgemacht und werde davon überhaupt nicht mehr frei, das fühle ich, bis endlich etwas Geschaffenes dasteht, das mir vor mir selber das Recht gibt, die Stellung einzunehmen, die ich unter Euch, die ich in der Schule, die ich überhaupt in der Gesellschaft hier einnehme. Ich werde die immer wiederkehrenden, quälenden Zweifel über die Kraft und den Wert meiner malerischen Fähigkeiten 62 nicht los, bis ich ein Abbild davon gegeben habe, dem ich mich selber kritisch gegenüberstellen, an dem ich endlich klare Einsicht über mich gewinnen kann. Darum muß ich, koste es, was es wolle, jetzt ans Werk. Meine Gedanken, ha!« – er warf schmerzlich den Kopf herum – »die erzeugen wohl fort und fort Bilder, und ich weiß es, keine schlechten! Wenn ich ein einziges von denen mit den Händen geschaffen hätte, die ich im Innern schon gemalt habe, fürwahr, ich zweifelte nicht mehr an mir. Aber ob der Phantasie auch die wahre schöpferische Kraft, die ganze grausame Energie gegen sich selbst zur Seite steht, mit der einzig Großes zustande gebracht wird und ohne die alle Phantasie nur ein Anlaß zu jahrelanger künstlerischer Selbstbetörung bleibt, – das muß ich jetzt wissen. Meine Zweifel sind mir unerträglich geworden!«

Er goß den Rest aus seinem Glas mit Hast hinunter und stand vom Tische auf. Die Andern verstanden seinen Zustand; sie erwiderten nichts. Das Schweigen über sein Vorhaben war jetzt gebrochen; er fühlte sich mitten in die Stimmung zurückgeführt, die ihn seit Wochen beherrscht hatte, sobald er allein gewesen war; und während er mit großen Schritten im dunkeln Hintergrund des Ateliers auf und nieder ging, fuhr er erregt fort: »Ich stehe vor einem doppelt schweren Schritt, da mir die 63 Leichtigkeit des Wesens fehlt, an irgend einem beliebigen guten Bild, zu dem ich vielleicht fähig wäre, meine Beruhigung zu holen. Ich verlange zu viel, ich weiß es, viel zu viel vereint von meinem ersten Werk; und doch kann ich davon nicht ablassen, sonst ist mir die Probe nicht maßgebend. Ich kann mich nicht begnügen mit dem Wert einer rein malerischen Leistung. Mein künstlerisches Ich verlangt von sich zugleich die Verwirklichung einer bestimmten, für Euch vielleicht seltsamen Idee, welche in mir erwacht ist und Gestaltung fordert. Ich verlange, daß mein Werk der volle, erschöpfende Ausdruck dessen im Bilde werde, was in mir lebt und drängt als der Urgrund meines künstlerischen Seins und wovon sich mein Inneres einmal befreien will im Kunstwerk: jener unendlichen, unbestimmten Sehnsucht, aus der, seinem letzten Grunde nach, überhaupt unser ganzes poetisches Empfinden hervorgeht!«

»Also doch!« dachte Holleitner, und eine Regung wie Mitleid zuckte in ihm auf für den Freund.

»Wenn meine Kunst nicht imstande sein sollte, meinem innersten Empfinden Ausdruck zu werden, so ist sie mir wertlos!« rief Moralt – »und ob sie es vermag oder nicht, soll sie jetzt zeigen!«

Der Ausdruck jener schmerzlichen Energie war nun fast mit Härte auf seine Züge getreten. Er lehnte sich 64 müde mit dem Rücken gegen die Wand, die Hände trotzig in den Taschen seiner kurzen Jacke.

Rolmers, der mit ihm in der letzten Zeit verschiedene seiner düstern Stunden geteilt hatte, rollte unruhig eine Brotkugel auf dem Tischtuch hin und her. Er fühlte sich unbehaglich in der gewissen Voraussicht, daß Holleitner nicht verfehlen werde, gegen diese Eröffnung mit Macht Einwendungen zu erheben und den Freund in einen Disput zu führen; er fürchtete aber jeden Disput für Moralt in diesem Augenblick. Er hatte volles Verständnis für dessen Natur und wußte, daß durch Widerspruch und Abdrängen aus der einmal eingeschlagenen Richtung gar nichts zu erreichen war bei einer solchen, durch den ganzen Menschen bedingten, künstlerischen Eigenart; daß es da vielmehr nur einen Freundschaftsdienst zu leisten gab: das immer neue Beweisen des Glaubens an sein Talent, und das Ermutigen und Bestärken in seinen Entschlüssen, damit es überhaupt in diesem unglücklich kritischen und reflektierenden Menschen zu einer Tat kam.

Äbi hatte sich mit den Augen förmlich festgeheftet an Moralt. Der sprach ja da Gedanken aus, welche ihn selber nur zu oft auch quälten, aber doch noch nie auf diesen Punkt verzweifelter Augenblicksforderungen getrieben hatten. 65

»Da helf Gott!« dachte er im Stillen, – »wenn ein so hochbegabter Mensch solche Krisen durchmacht, was wird meinen geringeren Fähigkeiten noch von Zweifeln und Kämpfen aufgespart sein?«

»Ich fürchte, du willst Unmögliches!« sagte schließlich Holleitner kopfschüttelnd. »Du verlangst von der Malerei, was ich außer ihrem Wesen glaube, – übrigens ein Punkt, worüber wir uns schon unendliche Male gestritten haben! Du solltest Musiker sein oder Dichter, mit deinen künstlerischen Bedürfnissen, nicht Maler. Nur Musik und Dichtung bieten die Befreiung vollen, sofortigen Ausdruckes für ein Empfinden wie das deine!«

»Und wir Maler wären in der Kunst die Fische ohne Klage und ohne Jauchzen?« fragte Moralt mit einer leisen Bitterkeit.

Da rührte sich Äbi, und im Bedürfnis, möglichst auf Moralts Ideen einzugehen, wandte er sich gegen Holleitner: »Feuerbach hat in seiner Iphigenia doch vollkommen die Sehnsucht nach der fernen Heimat ausgedrückt, denke ich! Das gestehst du doch zu? Sehnsucht in der ganzen Haltung der Figur, Sehnsucht in jeder Falte der Gewandung, in der Örtlichkeit, in der Stimmung.«

»Nun, das ist doch etwas Anderes,« gab Holleitner zurück, »wenn man zu solcher Verkörperung eine 66 historisch oder mythologisch bekannte Figur wählt, die dem Beschauer als Trägerin einer Empfindung schon von Jugend auf vor der Seele steht, wie eben Iphigenia als die unablässig Sehnende nach der fernen Heimat, oder wie es Niobe für den stummen Schmerz einer Mutter, Hiob für die männliche Resignation unter grausamen Schicksalsschlägen ist. Ob aber eine Figur ohne diesen erläuternden Charakter, an und für sich schon, dem Beschauer so klar und überzeugend, wie Moralt es von einem Werk seiner Hand verlangen wird, zu sagen vermag, was der Maler wollte, darüber kann ich nicht entscheiden; ja, das vermag ich nicht einmal anzunehmen, bis ich das also geschaffene Bild vor mir sehe.«

»Du sollst es sehen! sollst überzeugend empfinden, daß es das vermag, sollst dich selber in die Stimmung hineingezogen fühlen, die mich beseelte, da ich es schuf, oder dann bin ich kein Maler!« rief Moralt erregt, – »und zwar ohne erläuternden Charakter der Figur; einzig aus ihrem Ausdruck und aus der Stimmung der Landschaft, mit der ich sie verbinde. Innerlich steht es vor mir, und ob ich nun auch die Fähigkeit habe, das Gestalten dessen, was in mir drin so lebendig ist, außer mir zu vollbringen, daran mag sich erweisen, ob mein Talent ein wahres schöpferisches ist, welches das Drangeben eines Menschenlebens rechtfertigt!« 67

Holleitner schwieg einen Augenblick. Er vermochte nicht zu begreifen, wie ein Mensch mit der feinen Naturempfindung und dem großen technischen Können Moralts sich in derlei vermeintliche Gesuchtheiten verlieren mochte, während die ganze Welt voll Motive, voll Bilder steckte, – wie ein Maler von dieser Fähigkeit sich zerquälen konnte an Phantasiegebilden, die er vielleicht als Ausgeburten seiner Stimmungen innerlich erschaute, aber nie im Bilde zustande bringen würde. Und in der guten Absicht, eine letzte Anstrengung zur Rettung des Kollegen aus den düstern Gedanken zu machen, begann er den von Rolmers vorausgesehenen und gefürchteten Prinzipienstreit, den er, jung wie er noch in Allem war, immer mit der ganzen hartnäckigen Überzeugtheit und Hitze zu führen pflegte, welche der Halbreife strebender Talente eigen ist.

»Und wenn du nun in dem einen Bilde erreichtest, was du erzwingen willst,« fragte er Moralt – »was dann? Wirst du nicht inzwischen vielleicht in eine Anschauung hineingekommen sein, welche dir diese ganze, große Arbeit, diesen Kampf gegen dein unwilliges Talent ohne bleibenden Wert erscheinen läßt, weil der Sieg dir einen Irrtum und nicht eine Errungenschaft bedeutet, weil du die Probleme, deren Lösung du heute erzwingen willst, bis dahin vielleicht 68 selber als außer dem Wesen der Malerei liegend beurteilst?« Er hatte herausfordernd den Kopf zurückgebogen und erwartete ziemlich siegesgewiß, daß die Antwort ein Einlenken sein werde. Aber er täuschte sich.

»Für wie beschränkt du doch das Wesen der Malerei halten mußt, lieber Freund!« entgegnete Moralt mit mühsam bezwungener Ungeduld. »Jeder Maler hat doch das berechtigte Bedürfnis, das zu schaffen, wozu er sich angetrieben fühlt, und wenn es dich, der du für dein Schaffen ausschließlich Anregung durch äußere Eindrücke kennst und zulässest, nach der höchsten Vollendung der Form als einem Selbstzweck drängt, so drängt es mich bei meinem Ringen um die Form noch nach etwas Weiterem: nach dem möglichst erschöpfenden Ausdruck einer im Innern entstehenden künstlerischen, nenne es meinethalben malerisch-poetischen Idee. Da muß Jeder von uns seinen Weg gehen, wie er es vermag. Er muß ihn selbst dann gehen, wenn die Möglichkeit besteht, daß er im Kampf um das Erreichen seines für richtig gehaltenen Zieles untergeht. Mein Gott! was gibt es denn überhaupt für eine andere Wahrheit im Künstlertum, als daß Jeder das hergibt, was er in sich hat, und so, wie er es in sich hat?«

Der Andere fand im Augenblick nichts zu 69 entgegnen, aber er war keineswegs zu Ende mit seiner Opposition.

Moralt war von Anfang der Bekanntschaft an ein aufrichtiger Bewunderer von Holleitners Talent gewesen. Er gab ihm auch willig die große Bedeutung des modernen, strengen, allem Übrigen vorangestellten Naturstudiums zu; ja, er hatte ihm sogar schon bald zugegeben, daß dieses bei einer künstlerischen Eigenart, wie der kleine Österreicher sie zeigte, Hauptsache bleiben dürfe. Denn der hatte, ohne Bedürfnis nach einer andern Poesie für seine Bilder, als der rein malerischen, die er aus der koloristischen Stimmung einer Landschaft zu empfinden vermochte, eine ausschließlich in einer intimen Anschauung der Natur und in raffiniert feiner Formen- und Farbenempfindung bestehende Begabung. Das bewiesen schon die Motive, die ihn anzogen, die er sich zu seinen Studien und zu den kleinen Bildern wählte, welche er bereits zuweilen gut verkaufte.

Diese Winkel von Baumgärten, von zerfallenen Lattenzäunen umhegt, im ersten Frühling, wenn kaum ein grüner Anflug die interessante Zeichnung der knorrigen Apfelbäume belebte; – die Wirkung grauen Gemäuers und alten, wettergebleichten oder sonngebräunten Holzwerks zu blühenden Bäumen und Büschen; – der feine, halbtönige Farbenzauber 70 silbergrauer, zierlich vielästiger Weiden am Rand eines welligen, durchsichtigen Baches, aus dessen stahlhellem Wasser die bunten Steine emporblinkten, das Ganze in der stumpfen Beleuchtung eines dunstigen Morgens; – oder wiederum Gebüschgruppen im Uferwinkel eines stillen Teiches, der in seiner schwärzlich-grünen Flut das Farbenspiel der Büsche übersetzt wiederholte; all das mit einem bereits eminenten Können dargestellt.

»Glaube mir nur, Kleiner,« versicherte Moralt dem Freunde, der in verhaltener Ungeduld mit dem Nußknacker spielte und immer noch nach den richtigen Worten für das suchte, was er entgegnen wollte –, »wenn ich mir gestatten könnte, bloß nach dem Einfluß und in der Richtung unserer Schule zu malen, wie du, so würde ich heute leichter atmen. Denn ich traue mir zu, bald auch ein Stück jener Meisterschaft in der direkten Naturwiedergabe zu erreichen, die so Vielen von Euch das Ziel bedeuten darf. Aber ich kann das nicht! ich kann das nicht! weil nun einmal mein Bedürfnis zum so großen Teil auf das Inhaltliche geht.«

Da warf Holleitner den Nußknacker auf den Tisch, daß es hallte.

»Dann bist du eben kein Maler im modernen Sinn, sondern halb Maler, halb Poet; magst du es 71 beleuchten, wie du willst! Inhalt! – immer voran der Inhalt! Was nützen dich da die Franzosen, wenn du durch sie von dem alten deutschen Poetisieren in der Malerei nicht loskommst, sondern sie immerzu nach der überlebten Mode als eine Verquickung behandelst, als eine Ausdrucksgelegenheit nimmst für literarische, musikalische und Gott weiß was alles für künstlerische Bedürfnisse? Wollen wir denn noch einmal anfangen, Kantische Ideen in allegorischen Gemälden darzustellen, wie die deutschen Maler in Rom Anno 1796?«

»Himmel! Donnerwetter! redest du heute unglücklich,« fuhr da Moralt auf, – »jetzt sprechen wir ein deutlicheres Deutsch! Du bist doch sonst ein gescheiter Kerl, Holl! aber beim Himmel, Euer Fanatismus macht Euch borniert! Bis jetzt haben wir es in der deutschen Malerei noch immer als eine schöne, uns ganz speziell eigene Stärke empfunden: Gemüt und Phantasie zu besitzen, wenn wir auch nicht malen konnten wie die Franzosen. Jetzt, wo wir von diesen endlich tüchtig gelernt haben und wissen, was gesunde, wahre Malerei ist, stürzt Ihr Euch mit einer Gier, einer Ausschließlichkeit auf die bloße, endlich bemeisterte Form, daß Ihr nicht nur selber alles Inhaltliche vergeßt, sondern diejenigen noch auslacht, die ihrem innerlichen Bedürfnis weiter sein Recht lassen 72 und bei aller Begeisterung für das Neuerrungene die alte Tiefe zu wahren trachten. Über die Köpfe solcher Sturmböcke hinweg, das kannst du glauben, schreitet die echte Kunst lächelnd auf ihrer neuen Bahn vorwärts und betrachtet sie vornehm als die nützlichen Wegreiniger, die vor ihr her mit etwas viel Geschrei die Straße vom alten Unrat säubern, – aber nicht als Vollberechtigte, mit ihr dahinzuziehen und eigene Spuren zu hinterlassen!«

»Vollkommen einverstanden!« rief Rolmers und schlug mit seiner großen Hand auf den Tisch. Sie wurden immer hitziger. Holleitners Kopf glühte. Er schien eben auf Moralt losfahren zu wollen.

»Nur sachlich, Kleiner!« bemerkte ihm dieser ruhig – »ich rede im Allgemeinen und du weißt ganz gut, daß wenn ich gegen die himmeltraurige Leerheit zu Felde ziehe, welche uns jetzt von Eurer Richtung geboten wird, ich nicht gegen dich persönlich und deine Kunst protestiere; schon darum nicht, weil dein ganzes malerisches Empfinden dich vor allem Gewöhnlichen bewahrt; weil ein Stück Natur, um dich zu interessieren, immer schon sehr vornehme Reize aufweisen muß. So ist nun einmal dein Talent; sei froh darüber! Wäre es nicht so, dann allerdings – müßte ich fürchten, daß du bei deiner Schroffheit genau so werden würdest, wie Jene, die ich meine: wie unsere 73 Tagesberühmtheiten, welche wir pflichtgemäß als die bedeutendsten Erscheinungen in der reformierten Malerei der Gegenwart bewundern sollen, und von deren großer Wahrheit in ihrer Malerei man soviel Wesens macht. Was sehe ich aber in den meisten ihrer Werke? Ein erstaunliches, mit Riesenfleiß erreichtes Vermögen: reale Dinge, die sie mit mehr oder minder nüchternen, aber gut geschulten Augen scharf angeschaut haben, in Malerei wiederzugeben, poesielos und ohne daß sie tiefere eigene Empfindung hineintrugen. Zuweilen ist es leidlich Anmutiges, öfter Gewöhnliches, durch gar nichts als durch den Fleiß der Darstellung Erfreuliches, sehr oft Abstoßendes und nicht selten eine Auslese von gesucht Häßlichem. Und nun wird Jeder ein Simpel genannt, oder für einen Menschen gehalten, dem durch überlebte Kunstbegriffe die Fähigkeit abhanden gekommen ist, einzusehen, was wahre Malerei sei, wenn er diese technischen Übungsleinwanden, diese Beweise, daß der Maler vortrefflich sehen und meisterlich malen gelernt hat, nicht auch zugleich als Werke eines Künstlers und als Kunstwerke gelten lassen will!

Weißt du, daß gerade wir, die hartnäckig Andersdenkenden, es sind, die lächeln dürfen! Lächeln darüber, daß ihnen über der Neuschulung des Handwerklichen, ohne daß sie es nur merken, vollständig der 74 Geist abhanden gekommen ist, daß ihnen die Erinnerung gänzlich verloren gegangen zu sein scheint: daß zu jedem Kunstwerk neben der beherrschten Form auch mindestens ein bißchen Inhalt gehört. Unglaublich! daß die gleichen Herren, die doch so viel besser sehen als die gewöhnlichen Menschen, dort auf einmal blind sind, wo der einfachst empfindende Kunstfreund nur die Augen aufzumachen braucht, um zu rufen: Sie haben ja an Ihrem Werk eine Hauptsache vergessen, Herr Maler, – den Stempel Ihres Genius!«

Jetzt lachte Holleitner laut auf.

»Lachen ist kein Widerlegen,« bemerkte Moralt kühl. »Wie habt Ihr neulich im Chorus gelacht, an Eurem sogenannten Pleinairisten-Abend, als Äbi Euch Goethe entgegenhielt! Eine Schar Maler, die über Goethe einfach lacht, als wären seine Ansichten über Kunst für sie überwundener Kram, hat aber noch viel zu lernen, oder sie bleibt auf einer Stufe, auf der sie nicht ernstlich beachtenswert ist!«

»Was war das?« fragte Rolmers, der damals nicht dabeigewesen war.

»Oh, es war gelegentlich der ausgestellten Pleinairistenbilder,« erzählte Äbi. »Ich erlaubte mir bei aller Bewunderung für ihr Können die Bemerkung: wenn doch nur bald diese Übergangszeit überwunden wäre, in der sie uns immer nur so unbedeutende, 75 reizlose Motive bringen, – diese ewiggleichen stupiden Figuren, welche nichts tun und nichts bedeuten, als dastehen und ein Beleuchtungsproblem bilden. Ich sagte: wenn nur endlich Einer etwas in seiner neuen Ausdrucksweise brächte, woran neben dem Könner auch wieder der Künstler mit seinem besonderen Empfinden zu spüren wäre. Da lachten mich Alle aus. Wie? Sie Äbi, auch solch ein unverbesserlicher, altväterischer Schönheitshuber? Ich ließ mich aber nicht auslachen, sondern zitierte ihnen ein Goethesches Wort, an das ich mich mit Vorliebe halte, und welches sie mit ihrem absichtlichen Kultus des Leeren, Unschönen und Reizlosen schlagend als Nichtkünstler hinstellt, das Wort: ›man sagt: studiere, Künstler, die Natur! Es ist aber keine Kleinigkeit, aus dem Gemeinen das Edle, aus der Unform das Schöne zu entwickeln.‹ Und ich bewies ihnen, daß man heute das Bewußtsein ganz und gar verloren zu haben scheine, daß es die Kunst überhaupt mit dem Edlen und dem Schönen, und nicht mit dem Gemeinen und der Unform zu tun habe. Worauf mir Mehrere entgegneten, das treffe für die Malerei durchaus nicht zu, und überhaupt seien Goethes Ansichten über Malerei nicht mehr möglich. Über Malerei in ihrer neuesten Erscheinung – als ein von der Kunst abgetrenntes, hochgeschultes Darstellungsvermögen – allerdings vielleicht nicht, sagte 76 ich; über das Wesen der wahren Kunst aber bleiben sie wohl unvergänglich gültig!«

Der Norweger stimmte lebhaft bei. Holleitner aber hielt nach wie vor ihre Ansichten für ebenso philiströs, als sie die seinigen für fanatisch ansahen, und vom Allgemeinen auf ihren gegebenen Fall zurückkehrend, hielt er die Behauptung aufrecht, daß Moralt andere Künste mit der Malerei verquicke.

»Sei es wie es sei,« sagte der Hausherr, der seine Gäste aus dem erregten Disput in ein ruhigeres Gespräch zurückzuleiten wünschte, – »wir einigen uns doch nicht, lieber Holl, und drum bleibt es erst recht Hauptsache, daß Jeder von uns sich seine eigene Sprache für das bilde, was er zu sagen das Bedürfnis hat. Eine solche zu haben, ist der berechtigte Ehrgeiz eines ganzen Künstlers zu allen Zeiten und in jeder Kunst gewesen; diesen Ehrgeiz hast du, diesen Ehrgeiz habe ich, und Keiner kann den Andern da irgendwie lenken oder gar ändern wollen. Bleibe nur Jeder sich selber treu, so wird sein Werk, wenn er eine wirkliche Künstlernatur ist, immer etwas Echtes und Künstlerisches werden, mag es dann zu den Begriffen stimmen oder nicht, welche im Augenblick das Urteil der Menge und der Kritik leiten.«

Rolmers zog jetzt den Freund auf seinen leeren Stuhl nieder und hieß ihn trinken, während er 77 Holleitner einen Wink gab, der »Genug jetzt!« bedeutete.

»Zum Kuckuck!« sagte er, während er sein Glas an die Lippen führte und Moralt zutrank – »daß Holl immer maulmalen muß, wenn er hieherkommt! Diese Prinzipienstreiterei ist für dich wie Gift, der du so schon nie unbewußt genug bleibst!«

Moralt nickte in stummem Zugeständnis. Dann füllte er die Gläser nach und sah freundlich nach dem Österreicher hinüber, der sich auf den Lippen herumbiß. »Auf die Selbständigkeit!« stieß er mit ihm an.

»Es ist eigentlich toll,« bemerkte Äbi – nun im Tone ruhiger Betrachtung – »daß man überhaupt darüber streiten muß, ob eine andere Richtung als die augenblickliche, extrem realistische auch noch berechtigt sei, und toll zu sehen, wie eine Strömung die Menschen dermaßen mitreißen und die Begriffe in kurzer Zeit so umgestalten kann, daß am Anfang und am Ende einer Periode von wenigen Jahren rein gegenteilige Ansichten herrschend sind, wie wir es zur Zeit in der Malerei erleben. Man muß ja heute mit wahrer Mühe eine Auffassung verfechten, an deren Berechtigung vor zehn Jahren kein Mensch gerüttelt hätte.«

Obwohl er das durchaus im Allgemeinen gesagt hatte, nahm Holleitner es als letzten Trumpf für 78 seine Rechnung und brummte höhnisch: »Mumienkabinett!«

»Mumien?« – lächelt der Schweizer, »nun, ich denke mir, was zu allen Zeiten bei einzelnen Malern bestanden hat und von selber immer wieder bei einzelnen sproßt, wie jetzt bei Moralt und in bescheidenerem Maße auch bei mir: dieses Bedürfnis, in sein Schaffen nicht nur sein malerisches, sondern auch sein poetisches Empfinden hineinzutragen, das kann doch wohl so unecht und so unkünstlerisch nicht sein! Jedenfalls muß ein Mensch, der es in sich fühlt, damit rechnen, und die Meinung des Tages darf ihn nicht kümmern.«

»Sie vermag es auch nicht mehr, mich zu kümmern!« rief Moralt, durch Holleitners Halsstarrigkeit noch einmal heiß geworden, und erhob sich mit einer ungestümen Bewegung. »Ja, je mehr sie mich in der Schule mit ihrer Einseitigkeit dazu trieben, mich im Gegensatz zu dieser Tagesmeinung zu fühlen, desto trotziger ist in mir das Bedürfnis erwacht, ihnen im Vertrauen auf die künstlerische Echtheit meines so ganz andern Wollens mit einem Werke geradezu entgegenzutreten.«

In wachsender Erregung schritt er abermals das Atelier auf und nieder. Zuletzt stellte er sich in die alkovenartige Vertiefung des Raumes, wo sein Flügel 79 stand und lehnte sich an, die Arme trotzig verschränkt. Sein Kopf beugte sich vornüber; er sprach jetzt wie mit sich selbst.

»Wartet nur, ich will Euch beweisen, Euch modernen Nurmalern, die Ihr bald gar keine Künstler mehr seid, ob das neuerrungene, gesunde Können, das wir dem Einfluß der Franzosen danken, sich nicht glücklich mit unsern deutschen Vorzügen vereinigen lasse; ob sich in einem Bilde realistische Wahrheit, wie wir sie heute fordern, nicht mehr mit Poesie, nicht mehr mit der Tiefe und Innerlichkeit eines künstlerischen Gedankens vertrage. Darin – gerade darin sehe ich jetzt die wahrste Tat, die im Augenblick in der jungen Malerwelt um uns her zu vollbringen ist!«

Er fuhr mit dem Arm durch die Luft, ohne den Blick zu erheben, als führte er in seiner Vorstellung eine Schar an.

»Einem flatternden Panier gleich ist solch' ein Kunstwerk jetzt hinzustellen, ist Allen voranzutragen, die jung im Schaffen, einstweilen gedankenlos der Strömung folgen; es ist voranzutragen, um diejenigen zur Rückkehr von der Äußerlichkeit zu veranlassen und zu neuer Einkehr in die Vertiefung anzufeuern, denen die Fähigkeit dazu innewohnt!

Oh, es sind ihrer genug, denen etwas fehlt bei der Sache, die sie treiben; denen es zuweilen ist, sie 80 fänden darin nicht die volle Möglichkeit, ihr eigenstes Ich auszuleben. Aber sie werden von der Beeinflussung durch die Gesamtheit um sie her nicht frei. Sie schwimmen mit, weil Keiner Vertrauen genug in sich hat, frischweg mit einer Ausnahmestellung den Anfang zu machen. Jeder fürchtet den Spott der Andern. Er will mit seinen besonderen Ideen nicht in die Rumpelkammer der überwundenen Periode zurückrangiert werden und ebensowenig der Nachbeter irgend eines der wenigen originalen großen Zeitgenossen heißen. So verliert er die fruchtbarsten, ideenreichsten jungen Jahre im Mitschwimmen und vertagt das selbständige Heraustreten wohl auf eine Zeit, da er sich durch ein paar gute Arbeiten, wie sie auch dieser oder jener tüchtige Andere gemacht haben könnte, erst eine gewisse Achtungsstellung errungen haben wird.

Es ebenso zu machen, habe ich keine Geduld! Vom ersten Werk an muß ich sein, der ich bin; und jetzt erst recht will ich es sein, gerade um des Beispiels willen. Gut, daß du mich das noch klarer hast erkennen lassen, Holl! Gut, daß du kamst, daß du dich mit mir strittest; ich danke es dir; durch Reibung kommt Feuer! Wohl fühlte ich es schon in mir, dies Werden, fühlte, wie aus den dunkeln Vorstellungen meines seit Wochen ruhelos tätigen Geistes sich von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht deutlicher formte, 81 was zu dem endlichen Bilde sich verdichten muß. Jetzt aber weiß ich auch, welche Mission dieses Werk erfüllen kann.

Sie mögen lachen, sie mögen spotten über meine Idee, ich bleibe bei meinem Entschluß. Ja! der Sehnsucht, der vagen, ewig mit uns gehenden Sehnsucht im Bilde Ausdruck zu geben, das soll mir die Aufgabe sein, die zu jenem geträumten Kunstwerke führt, – zu dem Kunstwerk, welches das Bedürfnis meines Lebens ist und das Bedürfnis des jetzigen Augenblicks in unserer Malerei!«

Er sprach mit einem Fieber, einer Kraft, einem Glauben, der die Andern mitriß. Stumm lauschten sie seiner Begeisterung. Er stand jetzt vor ihnen am Tisch, in seiner stolzen, schlanken Größe, und die Lampe beschien sein Gesicht. Die braungrünen Augen mit den langen, dunkeln Wimpern funkelten in der unheimlichen Glut höchster Aufregung, während sein ohnehin blasses Gesicht vollends bleich geworden war und zwischen seinen schmerzlich geöffneten Lippen die zusammengebissenen Zähne hervorschimmerten.

Eine Weile starrte er in das Licht; dann sah er plötzlich zur Seite. Ein anderer Gedanke schien in ihm erwacht; sein Ausdruck ward ruhiger.

»Ob ich nun selber das maßgebende Bild hinzustellen imstande bin,« fuhr er ernst, mit milderer 82 Stimme fort, »oder ob das, was ich gebe, bloß der erste Anstoß wird, der dann einen Größeren, welcher meine Bestrebung versteht und sich davon angeregt fühlt, dazu führen wird, seinen Zeitgenossen das entscheidende Kunstwerk zu geben – das sei mir Nebensache. Idee und Bedürfnis, ein solches überhaupt in diesem Augenblick zu schaffen, bleibt jedenfalls mein eigenstes geistiges Eigentum, und die Gewißheit behalte ich immerhin als Lohn: daß ich mit denjenigen Mitteln, welche mir von der Natur verliehen waren, meiner Zeit das Mögliche gegeben habe; das genügt mir. Das ist Alles, was ein Künstler von sich verlangen kann!«

Er warf sich auf den Diwan und legte den Kopf hintenüber auf die Kissen. Keiner sprach. Eine heilige Scheu verbot jetzt selbst Holleitner, den es zu einem freundlichen Wort, zu einer beruhigenden Bemerkung drängte, die Stille zu unterbrechen.

Eine Weile blickte Moralt unverwandt zur Decke empor.

»Jetzt könnte ich zeichnen!« rief er plötzlich – »jetzt könnte ich an der Skizze arbeiten, ich fühl' es.« Er erhob sich: »Nehmt es mir nicht übel, aber heben wir unsere Plauderei für heute auf! – – – treffen wir uns morgen – – oder Sonntag, – wann Ihr wollt, – ich muß den Augenblick benutzen!« 83

Er legte wie bittend seine Hand auf Äbis Schulter. Einen Augenblick später verließen die drei Freunde mit kurzer, herzlicher Verabschiedung das Atelier; Rolmers als der letzte. Eine Sekunde lang schaute er Moralt in die Augen; in seinem Blick lag eine gewisse Besorgnis, und von seinen Lippen kam ein leises: »Mut!«

Während auf der Treppe noch die Tritte hallten, hatte Moralt schon den Leinwandrahmen von der Wand geholt und auf die Staffelei gestellt. Er blieb lange in den Anblick des Entwurfs versunken.

»Ihr sollt es erleben! daß das Euch eines Tages sagt, was es, ungeschaffen im Innern vor mir stehend, heute mir schon sagt. Zweifelt! Schüttelt die Köpfe! Du lebst doch in mir, und niemand kann dich mir wegleugnen. So wie du vor mir stehst, so bist du darstellbar; ich fühle es, ich seh es, ich weiß es. Und drum muß ich; und ich will!« Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Ein krampfiger Schmerz, wie ersticktes Weinen, schnürte ihm einen Augenblick die Kehle zu. Aber er befreite sich in gewaltsamem Aufschwung. »O Kunst, heilige Kunst! Daß du doch in der entscheidenden Stunde das Eine selbst dem ärmsten deiner Jünger zum Halte lässest, wenn du ihn zu einem Werk entzündet hast: den blinden, überzeugten Glauben an die Echtheit der Flamme, die du in ihm auflodern ließest, ob auch Alle um ihn her ihn zu verwirren 84 suchten! Und meine Flamme brennt; sie will wirken. So schließ' ich mich von Stund an von Euch ab, die Ihr soeben diesen Raum verließet; ich schließe vor Euch diese Türe, bis unbeirrt geschaffen steht, was jetzt entstehen muß!«

Er schritt zur Tür und drehte laut den Schlüssel um. Hastig, als könnte von außen ein Hauch ihn noch stören, riß er den Teppich vor. Dann setzte er sich, eng zusammenkauernd, in die Ecke auf den Diwan. Er dachte nicht mehr ans Zeichnen.

Mit dem Fuße schob er den Tisch beiseite, drauf die leergetrunkenen Gläser klirrten. Er stand wieder auf und trug die Lampe aus der Nähe fort; sie störte ihn mit ihrem hellen Schein. Dann zog er sich abermals in den Winkel zurück, in die Dunkelheit, und schaute vor sich hin über den Raum.

Es war ganz still. Kein Lärm drang mehr von der Straße herauf. Die Freunde waren bis spät geblieben. Alles im Hause lag längst im Schlaf. Aber ihm war er noch fern.

Eine volle Stunde blieb er regungslos in seiner dämmerigen Ecke. Und vor ihm erstand in dieser nächtlichen Stille mit visionärer Klarheit nun auch alles Einzelne an seinem zukünftigen Werk. 85

 


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