Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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Zuweilen auch wandelte er in den späteren Nachmittagsstunden dem Bach entlang, der den Talgrund durchfloß. Beinahe von der Stärke eines Flusses, zog er in vielfachen Windungen dahin, hier und dort über ein breites Wehr hinabstürzend, oder in zwei Arme geteilt, eine Insel voll Buschwerk bespülend. An seinen Ufern wuchsen neben den Erlen und Haselstauden, neben kleinen Birken und vereinzelten Weißdornbüschen prachtvolle Weiden, so fein in der Farbe, so reizvoll und malerisch in den Formen, wie die Weiden auf den Wiesen Hollands, welche die Maler aufsuchen. Auf der hellen, blauduftigen Ferne der Bergwände zeichneten sie sich ab in vornehm graugrünen Halbtönen, und die schwärzlichen, knorrigen Stämme und Äste überschnitten lustig und zierlich in den mannigfaltigsten Zeichnungen die ruhigen Massen der Farbe. Wiesen und Laub darum her welkten ab; aber hier im Tal nicht mit der lebhaften Buntheit wie droben an den Abhängen, wo Buchen und niedrige Eichen, Espen und Vogelbeerbäume in allen Schattierungen von Grün zu Rot erglänzten, – nein, stumpfer, 175 zarter, in müden Olivtönen, in mattem Braun, in schimmerndem Grau. Als einzige scharfe Farbe hie und da ein paar hochragende Zweiglein in glühendem Herbstgelb.

Dazu leuchteten die alten, gebleichten Holzzäune, welche einzelne Wiesen durchschnitten und bis zum Ufer reichten, in metallischem Glanz auf, in dieser weichen Oktobersonne, und die Stämme der Birken blinkten wie Silber darein. Das helle, klare Bergwasser aber, das im Sommer vom stets abschmelzenden Schnee oder von Gewitterregen bald trüb, bald gänzlich farblos, inmitten der grünen Büsche vorübergeflossen war, schillerte jetzt in türkisfarbenem Widerschein des grünlichblauen Herbsthimmels und zog wie ein funkelndes Band zwischen den ersterbenden, blassen Laubwänden dahin.

Und über Allem eine große Stille, nur vom Murmeln der Wellen durchzogen. Kein Vogel sang mehr in dieser Jahreszeit, und des Dorfes Werklärm und des Lebens Laute drangen nicht bis hier herüber. Ungestört, ohne einen Menschen zu treffen, konnte Moralt da wandeln und sinnen.

In all diesem Reichtum von wechselnden Bildern regte sich denn bald auch wieder ein wenig von seinen. alten Malerinteresse. Er blieb auf dem Wege des öftern stehen, hielt die gerundete Hand vor's Auge, 176 eine besonders interessante, fertige Bildwirkung, welche die Natur vor ihm zeigte, so vor seinem Blick abzuschließen und zu studieren. Er beschäftigte sich auf solchen Gängen oft halbe Stunden lang damit, Bilder im Sinne Holleitners zu entdecken, oder dann ließ er sich durch den und jenen abgeschiedenen Ort, welcher seine Phantasie anregte, zu einem längern Verweilen und zum Versinken in Träumerei verleiten. Dabei entdeckte er bald in sich ein neues Bedürfnis und eine seltsame Fähigkeit, nämlich: sich die wunderlichsten Gestalten und Vorgänge in dieser einsamen landschaftlichen Umgebung vorzustellen, den jeweiligen Ort vor ihm mit den erdenklichsten phantastischen Dingen zu beleben, welche, wenn er sie hätte aufschreiben wollen, – das sagte er sich selber – als Ausgeburten einer in's Unmögliche gesteigerten Phantasie hätten erscheinen müssen. Und doch, immer und immer solche Absonderlichkeiten fielen ihm jetzt ein! Sein Geist hatte ein halb dichterisches, halb malerisches Bedürfnis, die Stimmung des Ortes, der es ihm mit stummem Zauber antat, in einer figürlichen Erscheinung gipfeln zu lassen: eine ureinsame, welke Wieshalde mit felsiger Einbuchtung durch die wunderliche Gestalt eines Greises zu beleben, der, von je hier hausend, alle Zeiten kennend und alle Zeiten überdauernd, dem einsamen Wanderer aus dem Felsen entgegenträte und 177 ihm, dem Menschen des wechselnden Augenblicks, in mystisch-tiefsinnigen Worten vom unwandelbar Ewiggleichen spräche. Desgleichen in einem bunt ersterbenden, flüsternden Laubgehölz mit einem melancholischen, stehenden Wasser ein schönes, trauriges, rothaariges Weib in blaßblauem Gewand auftauchen zu lassen, das zur Harfe irrsinnig ein klagendes Lied sänge, von des Lebens Vergänglichkeit und Leere und der einzigen, einzigen Lust, an der sich der Menschen Seele zerbricht: – von der Liebe, der Liebe!

Wenn er dann aus solch' einer halb dichtenden halb malenden Traumtätigkeit erwachte, schüttelte er meist ganz verwundert und betreten den Kopf. War das jetzt merkwürdig geworden mit seiner Phantasie!

Dennoch versuchte er eines Tages zu Hause, sich zu notieren, was er da droben an einem Berghang in einsamer Großartigkeit gesehen und in sich aufgenommen, – und was er hineinphantasiert hatte. Studien nach der Natur hatte er ja auch als Schriftsteller zu machen; und was die jeweilige Stimmung eines Ortes ihm spontan im Innern erstehen ließ, schien ihm schließlich doch wert, festgehalten zu werden. Aber o Schrecken! Es war ihm nicht möglich, das, was dort droben mit größter Intensität in ihm aufgetaucht war, was mit greifbarer Deutlichkeit vor ihm gestanden hatte, jetzt auch nur in ungefähren Worten 178 wieder zum Bilde zusammenzustellen. Er sah es, – sah es noch jetzt, wenn er die Augen schloß und den Atem anhaltend, horchend, als käme es aus unbekannten Regionen über ihm, wartete und wartete. Da – – es kam: die Figuren, das Äußere, die Farben, die Worte, die Handlung; Alles wollte sich wieder zum Zusammenhängenden aneinanderfügen, wollte wieder werden, werden wie es dort droben fast fertig vor ihm gestanden hatte, ein Augenblicksbild, eine dichterische Konzeption. Aber wenn er es schreiben wollte, begann es sofort zu zerrinnen, zu zerfließen, war zerlöst, war weg. Entsetzt warf er die Feder aus der Hand und starrte auf das mit sinnlosen Worten, mit Satzfragmenten, wie mit Trümmern eines Bildwerkes bedeckte Papier.

War er denn nicht mehr fähig, in Worte zu fassen, was in seinem Kopfe stand? fehlte etwas an seinem geistigen Apparat?

Er probierte es nun, da das Fixieren dieser flüchtigen Bilder durchaus nicht gelingen wollte, mit der näherliegenden, gegebenen Arbeit seines halbfertigen Romans, um sich zu überzeugen, ob es an seinem Zustand überhaupt, oder nur an den besonderen Schwierigkeiten jener mißglückten Versuche liege, daß er nichts festhalten könne. Er nahm einzelne Kapitel der ersten Niederschrift vor, begann sie zu lesen und auszufeilen. 179 Aber bald wurde es für ihn unverkennbar, daß er auch dazu nicht fähig sei. Denn am einen Tage beherrschte ihn eine grausam und unkünstlerisch nüchterne Stimmung, die mit kalter Kritik an dem Dastehenden herumnörgelte und ihn in Versuchung brachte, Alles, was er von seiner früheren Arbeit wieder auf sich wirken ließ, für wertlos, für schwächlich, für erquält zu halten, – und am folgenden Morgen schien ihm im Gegenteil dies und jenes früher Geschriebene so gut, daß er sich sagte, er werde nie wieder die Kraft haben, Gleichwertiges von sich zu geben, und Alles, was noch entstehen könne, müsse dagegen abfallen.

Er zwang sich trotzdem mehrere Tage hintereinander zur Arbeit, versuchte, versuchte; denn die Energie, rief er sich zu, ist noch die einzige Rettung! Draußen leuchtete weiter und weiter das goldige Licht, webte weiter und weiter der milde, lockende Spätherbst und lud zum wohltuenden, heilenden Wandern, während nach kaum zweiwöchiger Ruhe in den neuen Verhältnissen und in dieser schönen Natur der ganze Mensch bereits auf's Neue dem unheilvollen Brüten verfallen war.

Wie war es nur möglich, fragte er sich, daß er jetzt, wenn er sein angefangenes Werk zur Hand nahm, immer über der Sache stand, kritisch und kühl, wo er doch vollständig darin zu stecken nötig hatte? 180 Jener Stoff, den er im noch ungeschriebenen Teil zu behandeln hatte, war doch verwandt genug mit dem Stoff, den sein eigenes jetziges Leben, sein eigener Zustand ihm täglich lieferten! Dort im Roman der junge Mann in der Weltstadt, der, die Schuld in der Seele, menschenscheu, mit Gott und sich und der Welt zerfallen, seine Tage in einer ärmlichen Mansarde gesellschaftsflüchtig verbringt, oder zu einzelnen Stunden weit über die Festungswerke von Paris hinaus ins Freie der Landschaft flüchtet, um an der Natur sich aufzurichten, und der dennoch die Kraft zum neuen Aufnehmen des Lebens nicht findet, – hier er, Tino selber, in einer ähnlichen Menschenscheu und Einsamkeit, und mit Stimmungen, welche wahrlich das Nachfühlen der Zustände eines mit sich zerfallenden Menschen wohl hätten begünstigen können. Und dennoch, dennoch, in dieser denkbar fruchtbarsten Konstellation keine Gedanken, keine schöpferische Kraft!

Ein ganze Woche verzweifelter Versuche, unablässigen Von-vorn-Anfangens, verschiedenartigsten Anfassens einer und derselben Sache, – es war wirklich nicht möglich! Es entstand nichts Brauchbares, und Tino fühlte nur von Tag zu Tag störender im Kopf einen dumpfen, beengenden Druck.

Eines Morgens, als er erst eine Viertelstunde am Schreibtisch saß und unnützerweise wieder und wieder 181 an einem Bogen weiterzuschreiben versucht hatte, stand er auf, bleich und starr, und nahm seinen Hut.

Durch die Föhren über seinem Häuschen stieg er, wie mit einer Peitsche getrieben, bergan. Es war neblig an diesem Morgen, und ein kühler Frühwind trieb die Wolkenstreifen in eiliger Flucht zwischen den Stämmen hin. Aber Tino war es schwül und dumpf. Er stieg empor bis zum ersten Jägersteig, der in beträchtlicher Höhe quer den Bergkamm entlang lief, und blieb dann stehen. Das Dorf und das Tal lagen jetzt weit unter ihm; hier oben herrschte vollkommene Stille. Da warf er seinen Hut neben sich auf den Boden, den dürre Nadeln und zerbrochenes Geäst bedeckten, und setzte sich auf eine querüber gestürzte Tanne. Die Hand an den Kopf pressend, wo er immer diesen beengenden Druck fühlte, schaute er lange vor sich hinaus, den Blick leer, ohne etwas Bestimmtes zu betrachten. Sein dunkles Haar fiel ihm über die Hand; die war so bleich wie sein Gesicht.

Wie war das heute abermals gewesen, als er zu arbeiten versucht hatte! Nichts hatte sein Kopf hergegeben! Stumpf, leer hatte er seinen eigenen Gestaltungen gegenübergesessen; – er hatte nichts empfunden für sie, nichts, hatte nichts sich regen gefühlt, als ein wachsendes Entsetzen über sich selbst. Und wenn das nun so fortginge? Was dann? Ein 182 Gedanke machte ihn einen Augenblick den Atem anhalten vor Schrecken, und er starrte hinaus, als sähe er dort – dort – zwischen den Tannen in der Luft plötzlich etwas Ungeheuerliches, Unertragbares sich aufrichten: wenn seine Schaffenskraft zerstört wäre?

»Aber nein, nein!« schrie er, – es war ja unmöglich. Wodurch denn sollte sie zerstört sein? Durch seine Erlebnisse und deren Folgen? Aber das hatte er doch gerade so bekämpft, hatte immer sein armes, verwundetes Persönliches hintangesetzt, gewaltsam unterdrückt, um aus allen Stürmen, aus allen traurigen Dunkelheiten nur um so reiner, schmerzgeläuterter seine Kunst zu retten! Oder durch die längere Untätigkeit während der letzten Zeit in der Stadt? Da mußten ja die Kräfte jetzt, wo wieder Anregung durch neue Umgebung gekommen war, just frischer sein! Oder hatte er denn je so gelebt, daß er nun dafür zu büßen brauchte? Nie! was hatte er denn überhaupt bisher vom Leben verlangt, von vollem Untertauchen in Genüsse und Freuden? Was hatte er für sich gefordert von all dem, was Andere in seinen Jahren gierig heischten, was sie erst Leben nannten?

So viel wie nichts! Sein Anrecht an's Menschenglück hatte er zurückgedrängt, und als er es einmal im edelsten Sinne geltend gemacht, einen Schlag in's tiefste Herz erhalten. Und nun, nun wollte ihn einen 183 Augenblick lang ein dunkles Ahnen überkommen, daß es mit ihm bergab gehen könnte, daß etwas in ihm wachse, ein Verhängnis, ein unabweisbares, düsteres Geschick.

Er lief hin und her, den entsetzlichen Gedanken in seinem dumpfen, schmerzenden Kopf herumwälzend.

Er setzte sich wieder. Nervös stocherte er mit der eisenbeschlagenen Spitze seines Stockes in der schwarzen Walderde herum.

»Was ist das nur für ein Leben?« fragte er sich in plötzlicher eisiger Nüchternheit. »Wo bin ich nun hingeraten, bevor ich im Leben ein einziges von all dem heilig Gewollten habe zustande bringen können? Wo bin ich angekommen, bevor ich auch nur das geringste genießen konnte von dem Glück, worauf der Ärmste Anspruch zu haben glaubt? Nichts als den Reichtum einer echten Menschenseele habe ich gehabt, um stärker zu leiden als tausend Andere, und die wenigen Freuden, welche unsereiner rein haben kann, als seltene, göttliche Strahlen durstig und selig in mich hineinzusaugen in der langen, langen Finsternis. Und nun will diese Finsternis zunehmen, es wird Nacht, und keiner jener Strahlen dringt mehr bis zu mir. Der helle Schein, der mich freundlich geleitete auf dunkeln Wegen: das milde Leuchten einer dichterischen Gabe, es erlischt, und ich bleibe hilflos, blind und 184 verhungernd in der öden, grausigen Nacht! Gott, Gott! was willst du mit mir?«

Sein Blick war irr. Er hielt es nicht mehr aus an diesem Ort. Er sprang auf und lief weiter. Etwas Wildes war in seine Bewegungen gekommen. Er wußte nicht, wohin er ging. Immer bergauf, daß sein Atem keuchte. Und mehr und mehr war ihm, als hätte sich – unerträglich! – ein bleierner Reif um seine Stirn gelegt. »Wär's Wahnsinn, was mich langsam, wachsend, faßt?« Jammer malte sich auf seinen Zügen, und er lief wie sinnlos immerzu, – bergauf. 185

 


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