Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Die Entlarvung des Buschhahns

Unter dem Himmel, gestirnt und weit,
grabt mir die Kammer der Ewigkeit.
Da ich des Lichtes mich gefreut
und willig den Tod verträum',
wähl' ich den Spruch (er daure gut):
»An tiefersehntem Ort er ruht;
»Der Seemann kehrte von der Flut,
»Der Jäger vom Hügel heim.«

Nach R. L. Stevenson.Das Requiem von Stevenson lautet:

Under the wide and starry sky,
Dig the grave and let me lie.
Glad did I live and gladly die,
And I laid me down with a will.
This be the verse you grave for me:
Here he lies where he longed to be;
Home is the sailor, home from sea,
And the hunter home from the hill!

Die Notsegel lagen dick zusammengerollt auf dem Hinterdeck.

Zwischen ihnen kletterten und jagten sich nacktbeinige amerikanische Kinder. Hagere, gutangezogene Männer lagen Gummi kauend da und dort auf Deckstühlen. Eine Gruppe Weiber in Waschblusen schwatzte in einer Ecke; ihr schleimiger Tonfall floß wie ein verpestender Strom von Alltäglichkeit über das ganze Schiff. – Und während diese nacktbeinigen Kinder sich zeternd über Ballen von Teertuch rollten und die Weiber in Waschblusen ihre Stimmen an den Themen der Mutterschaft wetzten, ging – mit einzigartigem Gepränge – der Tag zur Rüste. – – –

Gerhart lehnte sich über das Geländer und verlor sich in der Aussicht. – – Einmal wurde er noch durch einen der gutangezogenen Männer mit näselnder, belangloser Bemerkung gestört; erwies sich jedoch als wenig mitteilsam. – Dann verloren sich die Geräusche hinter ihm; – offenbar leerte sich das Deck.

Tutuila, aus Gold und Kupfer, prunkte zackig über dem siedenden Dunkelblau der Wasser. Immer höher kroch das Kupfer an den Spitzen der Felsengruppe, bis die Silhouette zu Violett erblindet gegen den grünlichen Himmel stand. Dann schwärzte sich ihr Umriß; kleinste Spitzen stachen deutlich empor; entferntere Kuppen traten zusammen; Schluchten verschmolzen zu tintenschwarzen 326 Flächen. Währenddessen stahl sich das Grün zögernd aus der Welt, und der blaue Abgrund schloß sich auf, bestreut mit Massen südlicher Sterne. Schwärze floß in Schwärze, und die Silhouette sickerte hinein . . . . Des Schiffes ruhevolle Schaumfächer zerrieselten opalgrün; dann und wann schleppte der Salzhauch schläfrige Möwenschreie herzu. – – Alles funkelte von zögerndem Silber; die Nacht war da. –

Gerhart zog sich einen Liegestuhl ans Geländer und bettete die Füße gegen die Stäbe. Er brannte sich seine Pfeife an, verschränkte die Arme unter dem Kopf und blickte ziellos in die Nacht. – Tot und fern kreisendes Silber taute herab; das Takelwerk seufzte; die Maschine pochte. – Es war Gerhart, als belausche er sein eigenes Herz –: da war ein tiefes, urvertrautes Dröhnen aus einer Welt, die ihm zu entschlüpfen drohte.

Auf einmal packte es ihn wie ein Ekel, der ihm fast den Atem nahm.

Da, da . . . auf dem Grund der Nacht zuckte es wieder auf mit verstümmelter Bewegung, rothaarig, weiß wie Kalk; winkend . . . Und jetzt, zum erstenmal, glaubte er zu wissen, warum er jene Fratze nicht aus seinem Blute brachte.

Sie war es nicht allein, wovor er zurückwich.

Sie war das Sinnbild für eine ganze Klasse; für eine allzu laute, allzu zahlreiche, allzu rohe und zugreifende Gruppe von Menschen, die, von seelenloser, absurder Disziplin zusammengeschlossen, eine fürchterliche Macht bildete: – eine Macht, die die Erde zu veröden drohte. Denn sie erklärten ein bastardhaftes Nebenprodukt des Geistes – den Glauben an das nackte Rechteck – für den Geist selbst.

Gerhart setzte sich auf. Er schloß die Faust hart um das Geländer.

Doch dies Surrogat – so fett es wuchert; so pomphaft es gedüngt und gepflegt wird –: sie können es nie auf Kosten des Mutterbodens großzüchten und sprechen: »Wir haben das Wahre gefunden.« – – – Sie sollen es nur 327 versuchen. – – – Denn der mißhandelte Geist bringt Gegenkräfte hervor; namenlos starke, die nicht mit sich spotten lassen; Kräfte stark gleich Freudentränen, vergossen über den Bau eines jungen Leibes, über eines Farnblatts Fiederung vor dem Morgenhimmel, über Dichtwerke von großer Kindlichkeit und Tiefe; – die ätzend wie heilsames Gift den rohen Stolz des Bastards brechen. – Und wenn es Leute gibt an jenem Strand und anderswo, die sich in seinem unfruchtbaren Schatten spreizen; denen wohl ist in Gemeinschaft des wuchernden Dornengewächses mit metallenen Spitzen: – die Zeit beginnt schon sie hinwegzuschwemmen . . . Andere werden kommen; vielleicht von derselben Rasse, vielleicht von einer anderen . . . Etwas muß reifen; etwas Besseres, Duldsameres, Gütigeres . . . Der Anfang ist da; seit drei Wochen ist der Anfang da!

 

Plötzlich bemerkte er, daß eine Gestalt neben ihm am Geländer lehnte; er sank zurück, wieder an seiner Pfeife saugend. Aus den Augenwinkeln betrachtete er die Erscheinung. Sie trug einen Mackintosh und die Schiffsmütze tief ins Gesicht gezogen; doch als sie den Kopf halb nach ihm drehte, fiel ein trüber Lichtstrahl aus dem Speisesaalfenster auf ihr Gesicht. Es war ein rotes, feistes, bartloses Antlitz mit einer aufgestülpten Nase.

Gerhart stieß einen Laut der Überraschung aus.

»Verzeihung,« sagte Doktor Säuerlich. – Er ging ohne Formalität aufs Ganze. – »Ich höre Sie da murmeln . . . Worüber regen Sie sich auf? . . . Sie haben doch wahrhaftig keinen Grund . . .« – Er blickte sich kurz um und zog die Mützenkrempe etwas tiefer.

Gerhart überlegte sich, ob es nicht besser sei, kurz und höflich abzuwinken; dann aber überwog die Neugier.

»Sie haben mich überrumpelt.«

»Glaube ich; glaube ich. – Promeniere mit Vorliebe 328 nachts auf Deck. – War zuerst Postpaket nach Pago-Pago unter dem Öltuch, bei all dem Benzingestank; – aber von da ab: Kapitänskajüte! –Distinguiert; verstehen Sie. – Nicht angenehm das alles, bei meinem Alter; – aber wer weiß, ob sie einen nicht noch unterwegs abfangen; – da vermeidet man Popularität.« – Er holte sich einen Stuhl heran und ließ sich schwer schnaufend neben Gerhart nieder.

»Sie haben's besser,« fuhr er fort und steckte sich eine enorme Zigarre an. – »Mit Ihrer englischen Aufmachung . . . da geht das. – Jung und keck und drei Sprachen abgewickelt. So hat's manch einer fertig gebracht.«

»Ich bin neutral; Chilene.«

Doktor Säuerlich nahm die Zigarre aus dem Mund; er hielt ihn gerundet. »Tü, tü,« sagte er. Dann füllte er das Loch wiederum und ließ in tiefstem Basse folgen: »So-o-o.«

Eine Pause entstand.

»Übrigens,« ließ der Doktor sich wieder vernehmen . . . »Sie haben mich neugierig gemacht. Ich stand vorhin 'ne ganze Weile hinter Ihnen und sah Ihnen zu . . . Erleichtern Sie sich.«

Gerhart lachte.

»Wenn Sie's wissen wollen –: Ich dachte an den rothaarigen Buchhalter. Sie wissen den, der am Typhus starb.«

Doktor Säuerlich fuhr auf. – »Tot?!« – – rief er heftig.

»Sie sagten doch selber, es wäre nichts zu machen . . .«

»Freilich nicht; mit der Diät . . . Kawa und Whisky! – – Genug um ein Nashorn umzubringen . . . Nun ja; 's ist vielleicht ganz gesund für ihn, daß es 'rum ist. Ob sie ihn dort einbuddeln oder sonstwo: wen in aller Welt kümmert das. Immerhin; ich dachte, es würde noch ein paar Wochen dauern. – Sie waren dabei? – Was passierte? –«

Gerhart sann nach.

»Das ist keine sehr erquickliche Geschichte. – Ich war am Freitag da. Am Vormittag war er ganz vernünftig; gegen 329 Abend aber kriegte er's mit der Tobsucht und zertrümmerte das Bett. – Das war eine gute Idee von Ihnen, mir für den Notfall Morphin zu geben; ich spritzte ihm's ein und bekam ihn ruhig. – Am Samstag früh sah ich noch einmal nach; er war wie fast immer im Delirium.

»Da kam sein Halfcaste-Junge hereingerannt und schrie: ›Zwei Dutzend Kriegsschiffe sind da; gespickt voll Kanonen!‹

»Das regte ihn mächtig auf und machte ihn mit einem Schlag nüchtern. – Er hielt mir große politische Reden, und am Schluß prophezeite er. Er stieg sogar von seinem Bett herunter und schwenkte die Faust. – ›Was der Amerikaner –‹ schrie er, – ›von der Zinne seines Dollarhauses posaunt . . . Was der Engländer laut in der Bar bespricht . . . Das darf der Deutsche nicht einmal im Keller denken! – –‹ – – Ich führte ihn auf sein Bett zurück; er schnappte nach Luft. Ich sah, daß es zu Ende ging. – – ›Das ändert sich jetzt –‹ flüsterte er noch, – ›nehmen Sie mein Wort drauf . . . Das ändert sich jetzt . . . Ganz gewaltig ändert sich das . . .‹«

»Und dann . . .?«

»Zwei Stunden lang gab er keinen Laut von sich. – Dann fuhr eine englische Patrouille auf Rädern vorbei; das Haus kam ihnen irgendwie verdächtig vor, denke ich . . . Sie erschienen plötzlich und rissen ein paar Jalousien in die Höhe. – Ich merkte nichts, bis es zu spät war; sonst hätt' ich ihnen abgewunken . . . Nun hätten Sie aber Grothusen sehen sollen. Ich hab' noch nie einen Menschen so hirnlos entsetzt gesehen.

»Sauste ganz unvermittelt in die Höhe und schrie auf mich ein: ›Nehmen Sie das Licht weg! – – – Nehmen Sie um Gottes willen das verfluchte Licht weg!‹ – – Dann fiel er zurück. – Und dann war's aus.«

– – – Doktor Säuerlich räusperte sich. – »Gab mal jemanden . . .« fügte er bedachtsam ein – »der wollte mehr davon, vom Licht, meine ich; – – bei 'ner ähnlichen Gelegenheit. – Weiter.«

330 »Die Tommies fuhren ganz erschrocken zurück. – Natürlich merkten sie sofort, was vor sich ging und drückten sich. – Ich deckte ihn dann noch zu und gab dem Jungen ein paar Pfund für die Bestattung. – Erinnern Sie sich an die samoanische Frau, mit der er zusammenlebte? – Die kam gerade, als es vorüber war. – Ich suchte ihr klarzumachen, was vorgefallen sei. – Sie hatte sich in letzter Zeit etwas merkwürdig benommen. Er hatte sich wie ein Vieh gegen sie aufgeführt. Zunächst schien sie nichts zu begreifen; hockte sich neben ihn; faßte ihn an; streichelte ihn.

»Der Anblick war zu viel für mich, und ich ging. – Bei der Abfahrt brachte mir der Junge Petina das Gepäck mit aufs Motorboot und erzählte mir, daß seine Mutter spurlos verschwunden sei. – Man habe sie in der Pflanzung umherirren sehen; von da ab sei sie offenbar in den Busch gegangen. Einfach wie weggeblasen sei sie. – Der Junge sagte noch, er wolle sie suchen gehen; doch er tat so anheimstellend dabei, als ob er selbst nicht daran glaubte, daß man sie finden könne.«

Tiefstes Stillschweigen folgte. – – –

Endlich, nach der Vertilgung eines guten Stücks seiner Zigarre, sagte der Doktor mit heiserer Stimme:

»Als Sie mich baten, den Mann zu behandeln, gab ich ihm über Ihre Adresse nur ein paar Grobheiten zurück, die er mir vorher hatte angedeihen lassen. – – Will Ihnen was sagen: wäre ich auch noch einmal gekommen, der Mann hätte mich wieder herausgeworfen. Ich tat die Andeutung schon das erste Mal in meine Pfeife. Der Mann wollte sterben. – – Denken Sie nicht, ich fasele. – Er hatte es satt; bis zum Hals.

»Waren früher besser bekannt – – als er noch 'n Mensch war. – Erzählte mir allerhand damals. – Der Vater hatte 'nen Winkelpapierladen in der Altstadt, in Hamburg; ist nicht gerade die appetitlichste Gegend. Unser Freund war schüchtern, und in der Schule gab's keine Rücksicht. Mit sechzehn setzte der liebevolle Erzeuger ihn vor die Tür. 331 Dann kam 'ne Masse übler Beschäftigungen: Schiffsjunge, Faktoreigehilfe, Liftboy, Hilfs-Clerk; dreimal kam er um den Globus herum; und überall putzte sich das düsterste Gesindel die Stiefeln an ihm ab.

»Da kam er einmal wieder nach Hamburg, und jemand entdeckte, daß er einen tiefen Tenor besaß. Der steckte ein paar tausend Mark in die Ausbildung, und alles machte sich ganz rosig. – Karriere, Zukunft und so weiter. Das blendete nun ein Fräulein vom ›Pulverteich‹, und sie verlobten sich. – Kurz bevor es passierte, heirateten sie . . .«

»Was? – – Heira . . .«

»Nie davon die Rede gewesen; – m – m? –– Also kurz bevor es passierte, nämlich das ›Kehlkopfübel‹ . . . Ihr Alter zahlte 'ne Seereise; warum nicht nach Samoa? . . . ›Perle der Südsee‹ . . . Es war die einzige Chance. – Sie kam mit. – Unterwegs wurde gepokert, und ein paar australische Gauner nahmen ihm das ganze Geld zur Rückreise ab. – So blieben sie in Samoa hängen.

»Für weiße Frauen ist überhaupt das Klima nichts; – werden anämisch. Besonders wenn der Mann säuft. Die Stimme war endgültig futsch; – das sah er ein. – Nach Hamburg zurück wollte er nicht; 's wäre ihm zu polizeimäßig da, sagte er. – Begreiflich. – Ihr Alter schickte noch Geld; – er probierte es mit einer Seifenfabrik; die ging schleunigst bankrott. Das Fräulein vom Pulverteich wurde hysterisch. Begreiflich. – Dann fuhr sie weg und besorgte ihre Scheidung. – – Mit ihm ging's natürlich seitdem bergab. Das ist die Vorgeschichte, mehr als zwanzig Jahre her. – – Was Sie erlebt haben, war der Aktschluß. – – Solche Fälle passieren.

»Mit diesem Bericht hat mir der Mann damals 'nen Schlüssel gegeben . . . Na, was ist Ihnen denn? – – Schaun mich ja ganz entgeistert an? . . . – 'nen Schlüssel, sage ich, den ich hiermit Ihnen überreiche. Werden vieles begreifen.«

332 Doktor Säuerlich warf seinen Zigarrenstummel übers Geländer.

»Empfehle mich.« Er entschwand, nach einigem Klettern, in der Tür der Kapitänskajüte. – –

 

Und Gerhart begriff.

Er sah sogar noch tiefer; sah mehr als nur die vielleicht banalen Phasen jenes Passionsgangs.

»Das Geheimnis dieses ›Buschhahns‹,« erkannte er, – »ist, daß er keines besitzt. – Er ist entlarvt. – Nun kann ich ihn begraben. – Es steht so mit ihm, daß er trotz alledem doch nur ein kläglich flügellahmer Dorfhahn blieb. Der Dorfhahn, der deutsche Dorfhahn, will dienen, und dient gern; doch diese Bereitschaft macht ihn zum Sklaven . . . Sie wächst ihm über den Kopf; er tauft sie um und nennt sie Freiwillige Unterwerfung . . . Unter was?! . . . Nun, unter das unentbehrliche Ding, genannt ›Autorität‹ . . . unter die beweglichste, die ansteckendste aller selbstgeschaffenen Qualen.

 

»Autorität . . . Er findet sie im Winkelladen; in der trüben Regendämmerung hinter dem Schaufenster; im schweren Schritt des Vaters . . . aber er flieht nicht. Er wartet, bis sie ihn mißbraucht und auf die Gasse wirft. In der Schule findet er sie, und sie vergewaltigt ihn . . . Doch im geheimen liebäugelt er mit ihr – so gänzlich besitzt sie ihn –; und um sie um keinen Preis zu vermissen, beschenkt er jeden damit, den er trifft.

»Ein schmutziger Heizer handhabt sie; ein Werftarbeiter, ein Schutzmann, ein Hotelbesitzer, ein Kohlenlieferant. Er sieht nicht das Vulgäre dieser Menschenklasse; nicht das Lächerliche und Belanglose . . . er sieht die Autorität. Und der schlechtgenährte junge Mensch dient und schweigt. Es genügt, daß man brüllt. Er will es nicht anders. Ehrfurcht vor Leuten, die brüllen, ist ihm angeboren, 333 anerzogen, eingebläut und eingebrannt wie der Hürdenstempel bei Schafen.

»Dann erwacht die Seele; der Gesang kommt; die Kunst. – Auch sie erhebt er – ohne Zögern – zur Autorität. – Ihre Macht ist weicher; sie hetzt ihn nicht; sie lenkt. Er dient mit Inbrunst; nie hat er sich bedingungsloser unterworfen. Da, in einer Laune, stößt sie ihn zerbrochen von der Bühne. Er schmäht sie nicht; er fährt fort sie zu vergöttern. Und doch erkennt er: – er hat ihr zuviel gegeben, und sie hat zuviel genommen. Die Spuren ihres Joches, empfangen in süßer Beklemmung, zeigen sich nicht in Mißhandlung mehr seines Körpers, sondern brennen weit schmerzlicher als Sklavenzeichen, unvertilgbar, auf seiner Seele. – Und sie beginnt zu schwärmen, die Seele; ihr ist, als sei sie von buntumkränzten Stelzen gestürzt und als müsse es ihr gelingen, humpelnd noch Schritt zu halten . . . Da gerät sie an eine Kluft und grübelt. – Sie wartet; sie lauert darauf, daß die Kunst sich wieder erbarme. Doch statt ihn wieder in Glorie zu tauchen, äfft sie ihren Sklaven mit Mißton aus verbrauchten Instrumenten; mit einem . . . ›Kehlkopfübel‹ . . .

»So sitzt sie da, die Seele, und spielt eigensinnig, matt mit verblichenen, entwerteten Wünschen. Währenddessen wird sie tückisch und beginnt dumpfen Haß zu nähren gegen alle Autoritäten . . . Sie fährt zwar fort, ihnen zu dienen, aber tief innen erwacht ätzende Kritik. Was hilft es? – – Die Kraft ist fort.

»Das eiserne Joch ist unverrückbar; – Gedanken haben es geschaffen; aber kein Gedanke schafft es wieder weg. – Gelegentlich rennt man noch dagegen an und macht die alte Gebärde des Kriechens . . . Doch innen gärt es von unbefriedigten Wünschen. Sie verpuffen in Ratlosigkeit oder Brutalität.

»Halbverstandene Gelüste erwachen; kleine törichte Rachepläne, die alles Harmlose wahllos gefährden. Man hat den Tyrannen, den Idolen, die Gebärden abgelernt – 334 o, man kennt sie gut genug! – und übt sie aus, nicht ohne Wollust; – kehrt sie gegen ein Geschöpf, das man an sich gefesselt wähnt; – gegen kindliche Insulaner, die keinen Zwang über sich anerkennen als die eigenen heiteren Zeremonien; als die nackte sanfte Natur.

». . . Und dabei, trotz allen pompösen Stolzierens, trotz allen Prunkens mit ›Freiheit der weiten Welt‹ wird er umsponnen, und der Boden wird ihm weggezogen. Etwas ist da, das ihm bald droht, – bald ihm erbarmend brennende Blüten über den Pfuhl streut: – der Whisky. Und er braucht ihn, um sich zu wehren. –

»Denn in seinem Versteck, in seinem schlauen, fernen Versteck wittert ihn ein böser Gast und findet ihn heraus –: – seine Jugend; seine von Knuten zerschundene Jugend, die sich an seine Fersen heftet; die ihm über die Meere folgt und nach ihren zertretenen Rechten wimmert . . . statt jene anderen zu peinigen, denen er sie hinwarf; sie zu peinigen und aufkreischend aus ihrem ›gepanzerten Schlaf‹ zu jagen: – die harten kalkulierenden – Autoritäten! – – –«

Und weiter begriff der junge Chilene:

»Der Deutsche hat die meisten Möglichkeiten, die ein Mensch sein eigen nennen kann. Darum, wenn er sich unterordnet, ist seine Entsagung auch die größte . . . Zu viel Triebe werden da gelähmt; im Wachstum behindert; in Entfaltung gewaltsam gehemmt. Das Opfer ist zu groß; er leidet.

»Er kopiert das Gehaben scheinbar freierer Menschen und täuscht sich damit vor, er sei frei. Wo die bequeme Beschränktheit anderer Rassen munter zugreift, voll natürlicher Skrupellosigkeit, greift auch er zu. Doch seine Hände sind ungeschickt. Ein Schatten liegt darauf: der Schatten der Spekulation. – – – Man sieht den schweren Nacken; das Zögern; den scheuen Blick, der Erlaubnis heischt; – man sieht die gefurchte, willensstarke Stirn, die so wenig zu diesem Blicke passen will – – – und man lächelt, 335 stutzt, mißtraut. – – Verdacht schießt auf und steigert sich zum Haß.

»Wann wird er Harmonie bringen in seine Möglichkeiten? –

»Wann wird er die Selbstbeschränkung erlangen, die nur das fördert, was wert ist zu blühen? –

»Wann wird er das Prokrustesbett zertrümmern, auf das er die Seelen von Kindern zwängt; – wann der Berechnung Einhalt tun, die Raubbau an ihnen treibt; – sie großzüchtend zu Rädern an der Maschine, die ihn selbst bedrückt wie ein Alb –? – –

»Wann wird er die Treibriemen zerhacken an dem von Spitzen starrenden Schwungrad, dessen Fron ihn zum Zerrbild macht vor aller Welt; – – das er hätschelt und von dem er sich zermalmen läßt –: nur, weil es seine eigene wundervolle Maschine ist? – – –

». . . Hat er ganz vergessen, daß er die Kraft hat, diese Maschine niederzureißen, wann er will, und statt ihrer einen Tempel hinzubauen, in dem seine Möglichkeiten wetteifern in schönem Gleichklang . . .? – – – Tut er das, dann gesellt er sich als wahrhaft Freier neben scheinbar Freie; ungleich freier als sie, weil er bewußt zurückdämmt oder bewußt da wirken läßt, wo die Empfindungen und Kräfte anderer bestenfalls nur glücklichem Instinkte folgen! – – –«

 

Während feuchter Salzwind ihn dumpf umbrauste, erkannte Gerhart, daß all die wirren Fäden von früher hier, in dieser Erkenntnis, erlöst zusammenströmten. Zuerst in ahnungsvollem Traum ersehnt; plötzlich mit unterdrücktem Jubel scheinbar entdeckt; wieder halb verloren dann, versunken in die Schatten aufspringenden Ekels – war »der Mann mit dem Schlüssel« zu dieser beschließenden Stunde ganz enthüllt worden und trat klar hervor. Die Besudelung verblich; Mitleid überglänzte sie. Und im Testament des erbärmlichen dunklen Lebens, das Gerhart mit Abscheu 336 hatte erlöschen sehen, hatte jener Grothusen ihm den Schlüssel vermacht.

Und damit war ihm jetzt der Beruf gegeben, das Tier zu bekämpfen, dessen drohende Gegenwart seinen Vater zur Heimatlosigkeit verdammt; dessen gehetzten Atem auch er im Nacken gespürt, seit er dem Schatten der Maschine aus dem Wege zu gehen suchte; – – das Tier, das in Zahlen träumt; das Gefühle frißt und entwertet von sich speit; das Tier, das giftiges Grubengas durch die Goldschächte haucht, an deren Wänden die deutsche Seele pochen und schürfen will. – Und wenn Gerhart den Vater in einem Scheinfrieden ruhend gewähnt: – sie war nur künstlich, die üppige Pflanzenfröhlichkeit des zerbrechlichen Glashauses; war nur eine der vielen Selbsttäuschungen des deutschen Herzens. – Der Vater kannte nur die Sonne, die wütend von Teerpflastern zurückprallt; wird der Sohn Ruhe finden unter der, die sanft aus den Lachen eines Sommerregens lächelt? – – –

 

. . . Der braune Knabe glitt durch Gerharts Gedächtnis.

Er sah die kleine Figur am Strande stehen, fast nackt, mit dem grünen Seidentuch um den Hals. Im letzten Augenblick war ihm ein flüchtiger Impuls gekommen, ihn zu sich zu rufen; ihn mit sich zu nehmen als dauerndes Eigentum. Doch plötzlich wuchs Wasser, Wasser zwischen sie beide; die Häuser, der Strand und die Straße mit dem Knaben wurden verschlungen und ausgelöscht von schwarzem Grün. Die Kette der Kuppen, die still die Weite bevölkerte in rätselhafter Schöpfungsinnigkeit, ward ärmer; die Hügel Upolus, smaragdgrün gefleckt, schoben sich wie Kulissen zusammen und sanken nacheinander ins blaue Wasser zurück . . . Und ein Akkord, wie der einer Orgel, starb leise dahin.

 

So wie des Knaben Mutter sich verkroch in den heimatlichen Urdunst der Wälder nach zwei Jahrzehnten 337 Gemeinschaft mit dem Mann vom fremden Blut – so, unverfälscht, wich Petina zurück in seine wahre Heimat.

Gleich ihm – und er begann es zu ahnen – glitt auch Gerhart seiner Heimat zu – –: nicht einer Heimat, die er kannte und verlassen hatte; – nicht einer gemiedenen oder lächelnd verleugneten, auch seiner Namensheimat nicht: sondern einer, die sich erst bildete und bereitete, jetzt, während ihm die erste zögernde Gewißheit kam.

 

Ende.

 


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