Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Der tote Hund

Wiewohl ihn die Hitze beträchtlich anfocht, befand sich Schlick, der Wirt des Tivoli-Hotels, auf dem ihm von der Vorsehung zugedachten Platz. Er lag auf einem für ihn gebauten Stuhl hinter dem Bartisch am Fenster, blickte ab und zu aus seinen entzündeten Augenritzen nach der Ifi‘ifi-Straße hinaus und fächerte sich.

Schlick war ein Monstrum. Man hatte ihm ozeanisches Klima angeraten, und so hatte er Auckland vor kurzem mit Samoa vertauscht. Eine schweigsame verkniffene Frau und eine etwas stierblickende Tochter bemühten sich, die Lebensfunktionen in diesem Berg von ungesundem Fett nicht erlöschen zu lassen.

Wenn Schlick sich fächerte – mit einem samoanischen 75 Palmblattfächer – so gab es ein knisterndes Geräusch, das meistens von einem rasselnden Atemzug begleitet war. Riesig lag er da – die Tonnenwölbung seines schwer in Asthma ringenden Leibes überquoll den Bartischrand, und seine von Flecken besäte Leinenweste bäumte sich unter den Achseln in wagerechten Falten auf. Wenn auf dem blauroten Gesicht nicht ab und zu ein Muskelzucken stattgefunden hätte, das den dünnen grauen Schnurrbart in verschiedene Richtungen riß, so hätte man vermutlich nie entdeckt, daß man es mit keiner wächsernen Jahrmarktsattraktion, sondern mit dem lebenden Schlick zu tun habe. Immerhin, es dachte, es träumte in diesem kürbisrunden Kopf, in dieser Stirn zwischen den dicken Adersträngen; verhaltener Gram bebte in dem Kiefer, der irgendwo zwischen den Wampen des Halses begraben lag. Aus den zuweilen speckig und blutgesprenkelt hervorglotzenden Augen sprach eine bohrende Schwermut, und aus der von Zentnerlasten bedrückten Brust stieg ein Aufschnappen nach Luft in tierischer Sehnsucht.

Es war still, aber das Asthma ließ Schlick heute nicht schlafen. Die Fliegen summten. Da erspähte er draußen auf der Straße eine dürre, weißleuchtende Gestalt, die gerade auf die Bartür zuhielt und ihre Schritte wie ein Hampelmann schleuderte. In den zerrissenen Zügen leuchtete ein roter Schnurrbart. Die Gestalt stellte sich im Barraum auf und sagte lehrerhaft korrekt: »Guten Tag, Herr Schlick!«

Schlick musterte sie mit seinen entzündeten Augen. Er zeigte keinerlei Emotion. Der Fächer bewegte sich weiter. Endlich brach er in ein bellendes Lachen aus und sagte atemlos und speichelspritzend:

»Na, Grothusen, was ist Ihnen denn heute verhagelt? Sie sehen ja aus wie drei Tage Regenwetter!«

Tiefe Gramfalten entstanden an Grothusens Mund. Er pflanzte den Schirm vor sich hin. Dreieckig und schmerzhaft den Mund öffnend, erwiderte er bedeutsam:

76 »Ich weiß, Schlick, daß mein Kommen Ihnen kein Glück bringt.«

»Wenn Sie bezahlen, was Sie saufen, immer,« sagte Schlick rasselnd und sachlich. Er blickte leer im Raum umher.

Grothusen putzte seine Brille. Schlick zeigte nervöse Unruhe. Er wurde langsam blaurot.

»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich Ihren Blick nicht vertragen kann, Mensch!« pfiff er atemlos. »Ich habe doch, weiß Gott, nichts an mir, weswegen Sie mich so anstarren müssen. Was denken Sie sich eigentlich dabei? Das ist keine Lebensart . . .«

Grothusen grinste befriedigt, wobei er das Kinn einzog. Daß Schlick eine Menschlichkeit zeigte – seinen Aberglauben, bei dem man ihn packen konnte – bereitete ihm eine vertrackte Genugtuung. So sagte er langsam und versöhnend: »Sie sind doch eine reizbare Bestie! Fallen Sie doch nicht gleich aus dem Rahmen!«

Schlick wedelte den Fächer heftig, daß er fast zerbrach.

»Man könnte sich vor Ihnen fürchten,« sagte er wegwerfend und blickte nach der Ifi‘ifi-Straße; immer noch lief ein leichtes Zittern über seine Umrisse. Man konnte es ihm schließlich nicht verübeln! Was ist das da auch für ein Mensch! Äußerlich sah er ganz reputierlich aus, wie ein Mann von akademischer Bildung . . . Aber dennoch graulte man sich vor seinen Hanswurstereien und seiner bleichen Spiritusfratze . . .

»Wissen Sie, Schlick,« fuhr Grothusen fort. »Sie sind noch reell. Mag sein, weil Sie hier neu sind!«

Schlick wischte sich die Sodaperlen aus dem Schnauzbart und machte sich an ein Lachen. »Was haben Sie denn früher für Erfahrungen gemacht?«

»Erfahrungen? – Ach, mein Lieber, wenn ich von Erfahrungen . . . wissen Sie, was man einem alten Samoaner wie mir zugemutet hat? Auf den Hintern haben sie mich setzen wollen, ausziehen haben sie mich wollen . . . 77 sehen Sie bloß mal bei MacGrew im Keller nach! ›Unicorn‹! nichts als ›Unicorn‹!«

»Was soll es da geben?«

Es schimmerte feucht in Grothusens Augen. »Nicht einmal destilliert!« – Schwere Erinnerungen machten ihm zu schaffen. Er schluckte und fuhr nach einer Pause fort: »Ihr ›Dewars‹, ja, das ist etwas anderes. Auch der ›Haig & Haig‹ ist prächtig, bei dem können Sie bleiben! Aber vor dem ›Special‹ warne ich Sie, ich bin Ihr Freund, Schlick. Fallen Sie auf keine Bestellung herein! ›Nichts zu machen!‹ sagen Sie, wenn man Ihnen den ›Special‹ offeriert!«

»Nichts zu machen!« schrie Schlick aufgeräumt. »Der ›Special‹ kommt mir nicht herein!« – Plötzlich gedämpft: »Sie haben zu zahlen vergessen.«

Blitzartig verzog sich Grothusens Miene zu einem traurigen Ernst. Er legte eine Mark auf den Tisch. Es mußte nicht die einzige sein, die er besaß, denn beim Griff nach der Tasche klimperte es beträchtlich. Dies Geräusch machte Schlick der Zukunft gegenüber gelassen.

Grothusen füllte sich mit ernster Miene ein zweites Glas und begab sich vom Bartisch in eine Ecke, die durch ein Holzgitter halb vom Raum getrennt war. Dort stierte er durch seine Brille die Bläschen an. Dies plötzliche Schweigen machte Schlick zu schaffen; er schnaufte abgrundtief auf und sprach in die Luft hinein:

»Sie kommen mir sonderbar vor.«

»So? – Komme ich?«

Schlick fuhr zusammen.

»Krächzen Sie doch nicht so!«

»Warum soll ich keinen ausgeben? – Man wird nicht jeden Tag fünfzig Jahre alt.«

»Was nicht gar! – Da haben Sie auch einen mit mir!«

Ein fröhliches Geräusch geschah. »Das ist recht, Schlick,« schrie er. »Sehen Sie, ich habe mich doch nicht in Ihnen getäuscht! Freilich nehme ich einen mit Ihnen! Zwei, 78 drei, vier, mir kommt es nicht drauf an! Auf den Hintern will ich mich heute setzen, hier vor Ihren Augen!«

»Einen kriegen Sie; das übrige wird bezahlt.«

»Sie sind ein Erpresser . . .«

Der Bauch amüsierte sich, daß der Bartisch ins Zittern kam. »Sie haben ja die ganze Tasche voll Geld! Man hat Sie ja schon auf der Straße damit rasseln hören!«

Da geschah etwas Unvermutetes. Ein tiefes Räuspern brach los. Die weiße Gestalt in der Ecke erhob sich ruckweise und stemmte, vorgebeugt, die Hände auf den Tisch. Der Mund spaltete sich schmerzhaft.

»Geld! sagen Sie? Und gerasselt hätte ich? Mir geht es gut, mir geht es vorzüglich; he he! Ich habe ja nichts zu tun als auf der Beach herumzulaufen und mit Geld zu rasseln, wie? Wissen Sie, was das Geld da ist?« Er klatschte sich auf die Hosentasche. »Almosen ist das, Schlick, Almosen! Almosen von MacGrew!«

»Psch, Psch . . .« machte Schlick und sah sich um. Er war sehr feige. »Ich kann es nicht hören, daß Sie so schreien, Grothusen. Sie wissen, ich mag es nicht, wenn Sie Leute in den Mund nehmen.«

»Keine spezielle Geschichte,« sprach Grothusen etwas gedämpfter. »Nur eine kleine Gemeinheit . . . Wissen Sie, Dankbarkeit gibt es auf der Welt nicht mehr. Wie ich für MacGrew gearbeitet habe! Er hatte immer ein Auge auf mich gehabt, und voriges Jahr, ja, da konnte es ihm wohl passen, daß er mich nach Sawaii mitnehmen konnte für eine Inspektionsfahrt auf die vierzig Stationen! Ich bin kein Neuling mehr, ich bin eine bewährte Kraft! Und vierzig Stationen auszukehren ist keine Kleinigkeit! Die Abrechnung, die ich ihm von Falealupo mitbrachte, hätte er einrahmen lassen können – und was, glauben Sie, tut dieser eiskalte Amerikaner? Wie ich Weihnachten nach Hause gehe, um hier bei meiner Familie das Fest zu feiern, ergreift er die Gelegenheit, ja, das tut er, weil er einen Kerl besäße, der in der Regenzeit billiger wäre, Neckerwein 79 heißt er, ein Kontordiener; ist nichts als Etikettenlecker und Briefausträger. ›Gucken Sie mir nicht immer in die Bücher, Grothusen‹, sagte dieser Mensch, wenn ich einen Laden inspizierte. ›Sie sind nur Expedient, wohingegen ich längst Buchhalter bin und in solcher Eigenschaft bei Herrn MacGrew eingetreten.‹ – Fallen Sie da nicht auf den Rücken, Schlick? Und dabei ist der Kerl noch keine zwei Jahre hier!«

»Das kommt vom Saufen,« meinte der Wirt schlicht.

»Was?«

»Daß Sie Expedient sind. Ein so gebildeter Mann!«

»Ja, glauben Sie, daß Neckerwein nicht säuft?! – Deswegen hat man ihn ja früher an die Luft gesetzt! Man hat ihn kurieren wollen und ihm seinen Gin mehrmals mit Wasser nachgefüllt . . .«

»Haha!« schrie Schlick entzückt. »Eine Flasche Schnaps ausgießen, das gibt's in Samoa nicht!«

»Da haben Sie sehr recht . . . Nach dem letzten Krach mit dem Chef kam er in der nächsten Nacht nicht ins Kontor – und was fand man in seiner Bude? Sechs Flaschen Bier im Bett und darunter ein schwarzes Weib von Neubritannien, das wie ein Fliegender Hund roch. Einmal hat man ihn auch mit der Moa auf dem Kohlenhaufen erwischt! – Nach Honolulu hätte er gehört! Nach Queensland als Viehfarmaufseher! Dazu ist er gut genug! Und der drängelt mich auf die Seite und unterbietet mich?«

»Ja, Grothusen, Sie treten eben nicht auf!«

»Well, ich trete nicht auf – unter gebildeten Leuten tritt man eben nicht auf! Damals warf ich MacGrew seinen Bettel vor die Füße. ›Mr. MacGrew,‹ sage ich, ›ich wette Ihren Kopf, Sie rufen mich zurück! Dieser Herr Neckerwein mag gut sein für die Regenzeit, er hat aber keine Qualitäten für die Saison! Ich kenne jede Dorfschaft um Sawaii herum!‹ – Aber dieser Neckerwein war wie eine Klette. Er blieb. Heute war ich nun da, um wegen des 80 Kontraktbruchs meine Vergütung nachzufordern. MacGrew hockte mit Neckerwein beim Sekt und schlug mir's ab. Und dieser Streber, dieser junge Mensch, feixt noch dazu! Ich könnte nicht auftreten, sagen Sie, Schlick? – Hingestellt habe ich mich vor MacGrew und gesagt: ›Wollen Sie mich wie einen toten Hund auf die Straße schmeißen, daß ich nachher vor Ihrer Tür stinke?‹«

Grothusen hatte sich wieder erhoben. Seine Stimme hatte etwas Prophetisches – sie dröhnte jetzt durch den Barraum bis in die Veranda hinüber. Schlick rutschte hin und her. Grothusen tat einen Schluck, knallte das Glas auf den Tisch zurück und klappte wieder zusammen. Er strich seinen Schnurrbart; er schwoll an voll grimmiger Heiterkeit.

»Das war ein Wort am Platz, was, Schlick?« knurrte er. »Man weiß schon, was ich wert bin! Gegrüßt hat er mich, als ich ging!«

Schlick grunzte geringschätzig. »Jeder kann Sie um den Finger wickeln,« sprach er hoch und speichelspritzend. »Sie sind doch ein besserer Charakter als die ganze Gesellschaft, und trotzdem verlieren Sie Ihre Stellungen. Natürlich, es braucht Ihnen einer nur zu winken . . .«

Damit schloß das Gespräch, denn eine Antwort erfolgte nicht. Dagegen kam die weiße Gestalt nach einer Pause hervor, verlangte die ganze Flasche und zog sich damit wieder in die Ecke zurück.

Man hörte dort nur zuweilen ein krächzendes Räuspern und ein Klirren von Glas.

Schlick wandte seine Aufmerksamkeit jetzt der Veranda zu, von der aus man in den Barraum spähen konnte. Dort hatten sich einige Gäste eingefunden, junge Angestellte, die lebhaft schwatzten. Schweratmend, von dem mattlächelnden Barkeeper unterstützt, verließ Schlick den Stuhl und begab sich auf seinen umwickelten Beinen auf den Veranda-Überwachungsplatz, um sich dortselbst die tägliche Beinmassage mit Franzbranntwein – ausgeübt von 81 seiner stierblickenden Frau – angedeihen zu lassen. Unter den jungen Leuten bemerkte er einen, der abstehende Ohren hatte und einen glattgeschorenen runden Kopf. Dies war, erinnerte er sich, ein Herr namens Neckerwein.

Ein leichtes Unbehagen überkam ihn. Doch drüben, in jener anderen Ecke, blieb es still.

 

Grothusen saß vornübergeneigt an dem runden Tisch und stippte seinen Zeigefinger in eine Lache von Sodawasser; er saß irgendwo inmitten einer sausenden Stille. Der Tisch, stark vergrößert, drehte sich träge und schleppte an seinem Rande schillernde Pfützen mit. Fern am Horizont, groß und behaglich, mußte Schlick thronen . . . Grothusen sandte seinen Blick mühsam ins Weite; aber Schlick, der ruhende Pol, war nicht mehr da, und der ganze Umkreis schien dadurch, daß er fehlte, auf eine beklemmende Art aus den Fugen geraten.

»Heda! Schlick!« schrie Grothusen rauh, denn das Sausen um ihn nahm zu. Da erhob sich, wie herübergeweht über einer aufschwellenden Gesprächswoge irgendwo an einem anderen Horizont, ein meckerndes Gelächter. Dieses Gelächter gehörte nicht dem Asthmatischen, dem Friedespendenden, in dessen dumpfem Dunst man alle Pein vergaß. Scharf klang's, wie eine plötzliche brutale Attacke, jeder Laut daran ein Messerhieb. Das Feindliche war in der Nähe . . . Eine große Machtlosigkeit fesselte Grothusen an seinen Platz. Plötzlich sah er sich wieder vor der Schwelle des dämmrigen Kontors auf der sonnengrellen Straße. Drinnen in der Ecke saß der dicke Amerikaner mit dem hechtgrauen Schnurrbart und wandte ihm das porphyrfarbene Gesicht zu. Und noch ein anderer hockte dort drinnen, ein Kleiner, Dicknasiger, Rundköpfiger, mit einem runden Specksteinprofil. Was für eine Farbe hatte dieser geschorene Schädel? Sehen nicht neugeborene Hunde im Wasser ähnlich aus? – Die beiden bewegten mattschimmernde Riesenarme, tranken Sekt und glotzten ihn 82 böse an. Siehe da: Auf einmal lachte der Rundköpfige und bewegte voll alberner, hohnerfüllter Heiterkeit seine abstehenden Ohren. Schrill und beizend war dieses Gelächter. Und das Steingesicht des Amerikaners verzog sich, bis die kleinen Augen ganz unter eisgrauen Wülsten verschwanden. Er schlief ein. Er schlief ihn – Grothusen – gleichsam an; Grothusen fühlte mit Entsetzen, daß dies die äußerste, die tückischste Form der Verachtung, der Gleichgültigkeit sein müsse. »Vierzig Stationen,« dachte er; »und ich bin nur eine Fliege, eine summende Schmeißfliege. – Oh . . .«

Das Leid bohrte in seiner Brust. Er fuhr auf und ermannte sich.

Er sah, daß die Flasche fast geleert war, und fühlte einen leichten singenden Schwindel an den Trommelfellen und im Hinterkopf. Dieser altgewohnte Zustand versetzte ihn allgemach in ein gewisses halbschmollendes, klebriges Behagen. MacGrew und sein Kontorist traten zurück, einer ungewissen Zukunft vorbehalten, wo man sich innerlich mit ihnen würde auseinandersetzen können; wo man ihn nebst seinem Handlanger – sei es auf joviale, sei es auf demütige Art – menschlich würde zu fassen bekommen. Lieber Gott, MacGrew wird schon mit sich reden lassen! Man hat ihm ja heute gezeigt, daß man aufzutreten versteht! Vielleicht reut ihn sein Benehmen schon, den alten Sünder! Etwas Gewissen hat doch jeder Mensch im Leib! Nein, nicht wahr, Mr. MacGrew, wenn Sie auch Amerikaner sind und hart auf Ihr Geschäft sehen – Sie dürfen nicht übersehen, daß man doch im Grunde ein reputierlicher Mensch ist, der seine soliden Grundsätze hat . . . Hab ich Sie früher nicht gern gehabt, nicht verstanden in Ihrer Kurzangebundenheit? Wie? hehe, ich kenne Sie ja . . . Die Arme auseinander, sehen Sie: Da ist man wieder! Ich kenne ja Ihre kleinen Tricks, ich mache Ihnen aus zweimal zwei auch gerne mal fünf und gönne es Ihnen ja, wenn Sie verdienen, bis Sie platzen! Die Buchhaltung 83 kenne ich aus dem f-f! Und nun soll mich da ein junger Mensch bei Ihnen herausdrängen, der eine ganz grüne Praxis hat? Ich bin ja auch kein Heiliger; aber weiß Gott, auf einem Kohlenhaufen hat man mich dennoch nie erwischt; und noch dazu mit der Moa . . .

Der Tisch, wiewohl am Rande noch leicht wellenartig bewegt, hatte seine frühere Proportion wiedergefunden. Die nüchterne Wirklichkeit sprang auf einmal wie ein schmerzhafter Blitz aus allen Gegenständen. Alles um Grothusen war unheimlich deutlich. Da war der Bartisch. Da war Schlicks leerer Stuhl. Da war der Flaschenaufsatz, und dort das fast offene Viereck des Fensters, durch das hier und da die braunen Gestalten vorüberwandelnder Eingeborenen glitten. Das alles war so unbeschreiblich nackt . . .

Sein Hirn grub zurück . . . Auf alles gepfiffen habe ich; von jeher auf alles gepfiffen! Diese letzten zwanzig Jahre – Donnerwetter! viel Schicksal ist mir dabei durch die Finger gelaufen! Jetzt werde ich als Ratgeber gesucht. Ich habe verschiedene Prachtstitel; man gibt mir Respekt und Vorrang. Ich kenne alle diese verzwickten Zeremonien fast noch besser als mein Geschäftsbuch. Ich rede mit den Häuptlingen in ihrer Sprache; ich rede mit dem Durchschnittsvolk in seiner Sprache. Ich kann diese unzähligen alten Weiber behandeln, daß sie auf mich schwören, und darauf kommt es an . . . Hat etwa jemand mehr Kopra eingeheimst als ich? Dunkelblaue Kopra, auf der Lava getrocknet, zum Einrahmen schön? Ich kenne alle ihre Stammbäume, ihre Lumpereien, ihre Familieneitelkeiten – von der Geburt bis zum Grabe; durch und durch kenne ich sie; ich bin einer der Ihren . . . In gewissem Sinne habe ich diese Inseln in der Tasche! In jedem Dorf sitzen meine Freunde! Ich, Patuitui, der »Stacheldrahtzaun«, wo werde ich nicht gekannt! Laß sehen! Ist mir nicht jede Einzelheit erinnerlich; ist mir nicht jedes Gesicht vertraut?

84 Grothusen sitzt plötzlich aufrecht da. Sein Puls fliegt, er sitzt blaß wie ein Geist. Etwas Fremdes hat ihn überrumpelt.

Er schiebt die Brille in die Stirn und massiert sich krampfhaft die Augendeckel. Aus roten Liderrändern starrt er blind in den Raum. Pflanzer, Händler, »Beachcomber«Lump; eigentlich einer, der mit den Zehen den Sand nach Abfall durchkämmt. Stevenson belegte als erster den Halfcaste Tailor (Karl Schneider) mit diesem Titel, als dieser in der »Samoa Times« Indiskretionen über des Dichters Familienleben veröffentlichte. treten in die Bar, trinken, unterhalten sich und schreien scherzhafte Bemerkungen zu ihm herüber. Grothusens Stimmbänder rühren sich. Und mechanisch spricht er vor sich hin, mit einer veränderten, läppischen Stimme:

»Bitte, womit kann ich dienen?« – – –


Eine Pause folgt. Was ist das? – – –

Vor ihm schaukelt ein Porzellangesicht, klein und spitznasig, wie eine weiße Papierlaterne, vergessen nach einem ärmlichen Fest. Er wehrt sich; er darf das nicht sehen; und doch starrt er hin . . .

Auf einmal sagt er höhnisch: »Keck bist du nicht, by Jove! Eher zart, verdammt zart . . . Glotz mich nicht so an; ich kann nichts dafür! – Was lallst du da? – Vor einem Schulmeister fürchtest du dich? Hast du ganz vergessen, daß du keine Häkelspitzen mehr trägst? Daß du ein ganz großer Lümmel geworden bist?!«

Er erhebt sich schweißbedeckt und versucht zu singen. Statt eines gläsern reinen Klanges, eines Celloklanges, quillt das alte rauhe Krächzen aus seiner Kehle.

»So! Du kannst nicht mehr singen?! Ich weiß, was dir fehlt! – So schmeiß es weg, so ersäuf es doch, dein verfluchtes Europa!! – – – Ah! – Nun bist du wieder in Form. Was faselst du da von einem Schulmeister? – Das ist ja Schlick, und mit dem läßt sich reden . . . Beruhige dich! Du brauchst ihm nur mit dem Finger auf den Bauch zu tippen; er ist kitzlig. Ich wette, er platzt wie ein Bovist.

85 Auch deine Stimme ist gut, beruhige dich, dein Bariton ist prachtvoll . . . Gutes Mittel für die Zukunft, dich zu rächen . . . Momentan bist du zwar heiser, doch das hat nichts zu sagen. Du hast nur wieder einmal geträumt; ich kenne deine Träume!« – – –

Er legt sich die flachen Hände an die Stirn. Da drinnen beginnt es zu bohren – es ist der kleine, alte, unermüdliche Stich. Und es hilft nichts, er sieht es; er muß sie sehen, die alte Hetzjagd von Bildern:

Dort hockt Folau, der alte Sünder!

Dort Meaola!

Dort Fiamē!

Und dort Malietoa selbst, der Verstockteste, der Fürstlichste unter den Lächlern . . .

He, Piu! – Heraus mit der Farbe! – Du bist noch mit der Kopra im Rückstand!

Und sie alle lächeln wie Kerzen, die man nacheinander ansteckt.

Ihr Lächeln ist durch nichts zu erschüttern; es ist Mitleid. Und man tanzt am anderen Rand der Kluft und friert in der weißen Haut! – Gott verdamme sie, diese Kanaker, die ihm das Blut aus den Adern und das Mark aus den Knochen lächeln! – –

Kinder schreien, Hunde bellen, und Matten werden geklopft. –

Aller Orten klopft man sie; hat man denn je in der Welt etwas anderes getan! »Beeilen Sie sich, Grothusen, Sie haben noch vierzig Stationen abzulaufen! Hurry up, oder ich ersetze Sie durch eine frische Kraft, Sie Säufer!« Er rennt. Traumhaft wirbeln Gesichter an ihm vorbei. Die Angestellten lächeln der Reihe nach in ihren Läden hinter den Auslagetischen. Die Holzhäuser, in denen sie stecken, scheinen aus Glas zu sein: man kann sehen, wie sie mogeln und mit falschen Gewichten hantieren. Er rast weiter. Er soll noch heute von Faga nach Tufu-Tafoi, aber der Weg ist inzwischen ganz verwachsen. Er kämpft sich keuchend 86 durch Lianenstränge, die wie Schlangenbündel von den Stämmen wuchern. Da – ein Aufatmen: der Strandsand. Der Weg wird frei. Er rast um die ganze Insel herum. Oder hängt er nur in der Luft und dreht sich die Insel wie ein Karussell, mit ihren fünfundsiebzig Dörfern und ihrem Palmensaum? Er weiß es nicht. MacGrew steht hinter ihm, die Hände in den Taschen der weiten Hosen, und sagt: »For heaven's sake, tun Sie doch Ihre Pflicht!« Und er will es, und doch kann er nicht über einen schmerzenden Punkt hinweg, über ein Hindernis, das er zu nehmen hat. Schluchzend kämpft er sich ab. Aber wo, wo ist ein Ausweg?? Luft! Hilfe! – Zwanzig Jahre sind das nun; zwanzig Jahre!


Eine leere Flasche segelt quer durch den Barraum, aus der Ecke hervor, und zerschellt an Schlicks Stuhl.


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