Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Die zweite Stimme

Gerhart war damals vierzehn Jahre alt. Er wurde in einer Privatschule auf dem Land in der Nähe von Heidelberg untergebracht; und da dies ein Leben war, das an Beständigkeit und Regelmäßigkeit von allen Zuständen, die er bis jetzt gekannt, einem Heime am ähnlichsten sah, so fühlte er sich zum ersten Male wunschlos. Nach englischem Vorbild wurden ihm genug körperliche Erholungen gegönnt, so daß er mit gesunder Müdigkeit und einem dumpfen Frieden im Hirn die Nächte verbrachte.

Zuweilen jedoch legten sich die Eindrücke jüngerer Jahre auf seine gepreßte Brust. Von diesem Haufen farbiger Phantome lösten sich einzelne, sanft leuchtend, und besprachen sich mit ihm in fremden und bestrickenden Zungen.

Sie führten ihn durch lange Gänge, durch ein Labyrinth matterhellter Räume, oder durch Riesensäle, in denen ein immerwährendes Dröhnen herrschte. Eines Nachts – und nie konnte er es später vergessen – ging er durch die Korridore eines gewaltigen Passagierschiffes, langgestreckte grüne Läufer entlang, deren Ende sich in Dunkelheit verlor; – und er konnte seine Kabine nicht finden. Kein Steward zeigte sich; keine Menschenseele nahm sich seiner an; und doch wußte er: es gab diese Kabine; der Vater saß darin, mischte seinen Scotch mit Soda, stopfte seine Pfeife und erwartete ihn.

Auf einmal geriet er an ein rundes niedriges Gitter: da sah er unter sich einen Kerker voll gleißender Schlangen, eine röchelnde Kluft voll träg blitzender, rhythmisch bewegter Tonnenlasten; Stahlglieder, die sich durcheinanderschoben mit stiller mörderischer Wucht.

Dumpf schütternd pochte das Urherz. Er starrte hinab; dann riß es ihn zurück: er war allein. Sein Schrei verlor 14 sich, von den Pleuelstangen wie zermalmt. Gefühl ungeheurer Einsamkeit ergriff ihn; schon wollte er sich ratlos gleiten lassen, in das blitzende Chaos hinein – da sah er den Vater plötzlich fern, fern mit ruhigem Schritt den Gang durchqueren, ihm winken und in einer der Hunderte von Türen verschwinden. Er stürzte ihm nach; unzählige Wandspiegel narrten ihn. Endlich hörte er leises Pochen; hier war es: hier klopfte der Vater seine Pfeife aus. Er öffnete die Tür – doch wohin geriet er? – Auf den Balkon seines Hauses in Santiago!

Der Duft erhitzten Asphalts wehte von der Plaza in die Calle-del-Estado. Er starrte durch das gebauchte Prunkgitter hinab; das einzige, was ihn fast wunderte, war der Mangel an Lärm; die seltsame Stille, mit der da unten auf dem holprigen Pflaster die Rottos ihre Maultiere vorübertrieben und die Mädchen, ganz in ihre seidenen Mantos gewickelt, sich mit den hellgekleideten Bankangestellten trafen und Arm in Arm entfernten.

Dort an der Ecke warf ein Kerl auf einem hohen schwarzen Gaul sein Lasso nach zwei zusammenbrechenden Trambahnpferden und zerrte sie mit Gewalt in die Höhe . . . Der schneidende Schrei des einen war wie das Knattern einer hohen rot aufblitzenden Flagge.

Auf einmal bog ein Mann um die Ecke und ging unter dem Balkon hindurch. Er hob den Kopf mit ruckweiser Bewegung und sah herauf. Die breite Hutkrempe gab große graugrüne Augen frei: es war der Vater.

»Ich kann nicht heraufkommen, mein Sohn,« sagten diese Augen. »Aber ich bin noch da, wie du siehst; ich bin noch da.« – Er trug einen Anzug aus makellos weißem Linnen und hielt sich sehr gerade. Dann verschwand er als weißes Pünktchen, das noch lange sichtbar blieb, über die Plaza . . .

Gerhart erwachte mit der Überzeugung, daß der Vater nicht tot sei, sondern irgendwo auf der Welt noch ein halbverstecktes Leben führe. »Er ist nicht tot« dachte er; »er besucht mich, wann er will.«

15 Eine schwere Gewißheit erfaßte ihn, für immer unter der Kontrolle des geliebten Mannes zu stehn; ein traumhaftes Verantwortungsgefühl vor jenem Fernen. Und diese Träume wurden eindringlicher mit den Jahren; – wie sein äußeres Leben sich auch wandelte: die Schauplätze dort, tief innen, blieben bestehn und glühten von geheimem Leben. In seinen Träumen, noch lange hernach, kam er sich nie gealtert vor: blond, rein, voll inniger Knabenunterwürfigkeit unter das stärkere Leben, dem er entsprungen war.

 

Er hatte die bräunliche Blässe von Kindern, die auf tropischem Grund erwuchsen; vielleicht war es auch das spanische Blut, das ihn so färbte; denn bis auf die zarten Schatten unter den graugrünen Augen, die er nie verlor, und die fast schwarzen Wimpern und Brauen hatte sein Gesicht durchaus den herzförmigen deutschen Schnitt. Er war schlank, doch sehr muskulös, weshalb auch Krankheiten, die anderen gefährlich wurden, nur einen kurzen glühenden Atem über ihn hauchten und ihn gleichsam aus der Feuerprobe gehärtet entließen. Seine Blutmischung schien ihn immun zu machen. Seine Phantasie, verbunden mit steter Rastlosigkeit, stetem Hunger nach Neuem, gab der schwerfälligen Fassungsgabe der Lehrer manch unliebsam ablenkendes Rätsel auf. Sie hatten ihr »festgestecktes Erziehungsziel«; dem folgten sie mit der Treue großer Doggen.

Dichtwerke zogen ihn mächtig an; besonders jene, deren Handlung nur Schale ist; deren Worte jenen volleren zweiten Sinn bergen, den das harmlose Hirn des Durchschnittslesers nicht erfaßt. Ein Wort, wie es dastand, sagte ihm nichts; aber seine Symbolik im Satz; der innere Rhythmus; leuchtender Erkenntnisvorgang, der sich des Gestammels, des Wortes bedient; die innere Wahrscheinlichkeit, die das Wort zum blutvollen Bilde macht und deshalb wiedergeträumt vom Leser: – das waren Dinge, die ihm auch in akademischer Vers- und Prosadürre einen 16 unfaßbaren, unheimlichen Genuß verschafften. Andere sahen nur die Gesten der Buchgestalt; er war die Buchgestalt selbst.

Don Quichote und Simplicius – sie waren nur zwei von den vielen Rollen, in denen Gerhart sich heimisch fühlte: er selbst war es, der einen bestrickenden Traum hindurch tausend Abenteuer des Herzens erfuhr; in seiner Brust saßen die Urbilder dieser Rassetypen.

Da ihm kein Gefühl zu exzentrisch schien, wenn nur innerlich wahr, erfaßte er gerade die absurden Gestalten mit Humor; denn je absurder sie waren, desto tiefer betonten sie die Möglichkeiten der Durchschnitts-Menschlichkeit. Was aus dem Rahmen der Alltäglichkeit fiel, schien ihm das einzig Bemerkenswerte. Das Extreme, scheinbar Sinnlose war ihm erst recht ein Beweis für die Schöpferkraft des Herzens und tief sinnvoll gerade deshalb, weil es die einfache Form dadurch, daß es sie wuchernd verzerrte, hervorhob und unvergeßlich machte.

Daß Gerhart das Klima fast jeden Buches, das er las, nachtwandlerisch sicher erfaßte, fiel neben seinen Kameraden auch den Lehrern auf, deren Horizont nicht über das engere deutsche Wesen hinausgedieh und die ihren Begriff vom Ausland und von andersgearteten Rassen an Photographien und Zeitungsausschnitten wie einen spärlichen Zimmerkaktus züchteten. Mit Statistiken, die man hatte – so dachten sie – erschöpfte sich die Notwendigkeit tieferer Betrachtung. Im großen ganzen sei sich die Menschheit gleich; dessen waren sie ziemlich sicher.

Brach nun an der Zimmerpflanze, wo man es gar nicht vermutete, eine ganz unwahrscheinliche rote Blüte hervor, so akzeptierte man zwar das ausländische Benehmen des Gewächses, aber man war verblüfft und brauchte einige Zeit, bis man sich nach deutscher Art durch eine neue »Feststellung« beruhigte. So erklärte man sich auch den Fall »Gerhart« als das Ergebnis seiner Blutmischung und durch die Annahme, daß ihm von seinen Reisen als jungem 17 Knaben Verschiedenes im Unterbewußtsein hängen geblieben sei. Dies traf zu; doch in viel tieferem Sinne, als sie glaubten. Das ruhige Benehmen Gerharts, seine blonde rundköpfige Gründlichkeit ließ sie zuweilen ganz vergessen, daß fremde Stimmen in ihm sprachen; er schien ihnen durchaus deutsch unter den Händen zu geraten; ja, das ahnten sie nicht, wie diese Seele schillerte!

Hatte er sich etwa sichtbar je gebäumt, wenn sie ihre trockenen Zeigefinger in sein Gemüt bohrten? Bewahre; sie konnten sich doch auf ihre scharfen Augengläser verlassen!

Oder fühlte er sich etwa hier nicht ganz am Platze? – Aber durchaus; wenn ihre Psychologie auch nur das Geringste taugen sollte! –

Es ist gut; der Knabe hat Phantasie, dachten sie. Aber was an uns liegt, so werden wir einen Kern-Germanen aus ihm machen, auf daß er die »Selbstzucht« besitze, um die Ventile jener übrigens dankenswerten (dem Idealen förderlichen) Eigenschaft »Phantasie« stets unter Gegendruck zu halten. Er ist sich der fremden Tropfen selbst wohl kaum bewußt. Der Vater ist tot, der ihm offenbar – als zweideutiges Erbteil – einen unabhängigen Charakter vermacht. Mit der Mutter verband ihn, nach der Laxheit der Korrespondenz zu schließen, kein sehr vertrauensvolles Verhältnis. – Welch ein Experiment! Welch ein Feld der Betätigung!

Es hätte jedoch nicht des Unbehagens bedurft, das ihm das rege Wohlwollen seiner Erzieher bereitete, um Gerhart auf sich selbst zu lenken. Diese Bekanntschaft vollzog sich auf eigenartige Weise.

Hier stehe ich in meinem »Vaterlande«, dachte er und sah sich im Spiegel einer Schrankscheibe an. Seine graugrünen Augen prüften den dort, der in nüchterner Blondheit und blaß am Pulte lehnte. Ich, Gerhart Ollendiek – war ich denn je anderswo heimisch als hier, in diesem sanften Lande mit Kirchtürmen über Kornfeldern, wo jeder Stein 18 sich erinnert, was ihm seine Form gab; und jeder Buche einzelner Jahresring von einer Sage trächtig ist? – Ob ich nach einer kleinen Stadt des Schwarzwalds gehöre, – ob nach dem Süden oder nach dem Norden, das bleibt mir noch vorbehalten; aber Deutschland, das muß es sein . . . Absurd, der Gedanke, ich könne je etwas anderes sein als deutsch; bin ich nicht ganz und gar einer von diesen hier, rede, denke und benehme ich mich nicht genau wie sie?

Ein gütiges Gesicht, geneigt auf eine strenggeknüpfte Halsbinde zwischen den braunseidnen Aufschlägen eines Beamtenrocks, überschattete ihn: – die geistige Hoheit jenes Größten, den die Rasse, der Gerhart sich eingliederte, als lauterstes Gefäß ihrer Tiefe und Vielfalt erzeugt. Diesen Augen konnte man sich anvertraun; dieser gereiften Weisheit mit all ihren liebenswürdigen Eitelkeiten und der fürstlichen Selbstverschwendung, die nie wankte, weil sie auf dem Fundament der treuesten aller Erden stand.

Denn, auch wenn die Wucht der Erkenntnisse durch keinen Humor gelindert ist: welche Größe im Zusammenbruch unter dem Mühlstein bei Hebbel, bei Kleist! – Und dagegen das Schauspiel Rousseaus, der seinen Mangel an Humor durch unendliches Geschwätz, durch ermüdendes Zermeißeln dieser Last ersetzen muß, während er unter einem hohlen Flitterkragen selbstgefällig altert . . .

Ja, nur der Humor ist es, der eine Erkenntnis vollkommen reinigt.

Die Argumente Gerharts sahen zwar kindlicher aus; aber das war der Inhalt. Sein Vater hatte einmal gesagt, er könne nur mit Leuten verkehren, die eine gewisse ›vagueness‹ besaßen; den Deutschen fehle diese Eigenschaft; nur bei ihren Diplomaten finde man sie bisweilen. Die deutsche Gemütstiefe sei etwas, über das man stets unliebsam stolpere. Bester Beweis für ihren Mangel an ›vagueness‹ sei, daß sie nicht einmal ein Wort dafür hätten. »Eure Mutter« – sagte er einmal, ganz vergessend, daß 19 er mit jungen Kindern sprach – »seht sie euch an. Sie ist herrlich ›vague‹! Werdet wie sie; dann habt ihr's gut!« Er hatte einen Seufzer hinterhergeschickt, der gar nicht zu der munteren Bemerkung paßte; doch Gerhart und Dolores hatten sich den Ausdruck gemerkt und ihn im allgemeinen angewandt, um ihren Beifall an Menschen auszudrücken . . .

»Bin ich ›vague‹?« – fragte sich Gerhart. »Bitte, bin ich . . .? Ich will nicht, daß man über mich stolpert.«

Sei ruhig, sagte der Spiegel, du bist es zur Genüge. Schon dadurch, daß du die leise Lächerlichkeit an den Schicksalen der Plumpen empfindest. Du bist kein schwerfälliger Gemütsriese, der im Stacheldraht des Alltags verblutet. Deine Nase hat nicht umsonst die feine Biegung, dein Körper nicht umsonst diese gespannte Geschmeidigkeit. Du bist bestes Blut; deine Heimat ist hier; wachse hier auf; gedeihe hier; zeige den Leuten, wessen deutsche Talente fähig sind, wenn man sie nicht nach Tabellen ausnützt, nicht nach berechnetem Ertrag wie eine Mine, sondern wenn man sie mit Humor und mit Kenntnis der Herzen verwaltet!


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