Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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»Uma«

Es ist fünfzehn Jahre her.

Deine feinknochigen Glieder sind rund und zäh; deine Haut ist noch glatt; keine Falte stört dein Antlitz, du uraltes Inselblut.

Wer sagt, du seist feige?

Kotūsa sagt es?

Glaube ihm nicht; er ist feige. Du hast ihm einen Boten geschickt, um ihn dir nahe zu haben, und er ist nicht gekommen. Er hat gedankenlos seine Lust gebüßt und den Antrieb gegeben; nun geht das große Rad über dich weg. Du kannst es nicht aufhalten; du erwartest es, leise klagend, und deine braunen Augen irren in der halbverdunkelten Hütte rastlos von Pfosten zu Pfosten.

Der Gluthauch erneuten Werdens haucht mit sengenden Atemstößen über dich hin. Er dringt aus demselben Dämon, der die Nuß spaltet und die drei grünen Finger hervorzerrt, die sich im Humus verankern; nun reißt er grausam an dir, sich bäumend in rotem Dunst. Aus den Zahnwunden deiner rötlichbraunen Lippen saugt er Blut; sie werden grau wie Leder. Du kannst ihm nicht standhalten im Liegen; er zwingt dich in den Hocksitz empor. Auch so ringst du vergebens; endlich, mit den festen Griffen Toieolesāsas, 229 die dir beisteht, drückt er dich halb stehend an eine Kiste, und du wirst seiner Herr. Er weicht wie ein Mörder, bei der Tat ertappt; seine heißen Atemzüge schwellen ab; ihr grausamer Takt ermattet; kühlere Brisen drängen sich lindernd herzu. Da liegt der Tribut, den du ihm zolltest –; weiß mit rötlichem Haar . . .

Doch dein Haar ist schwarz; deine Haut ist braun. Du starrst es an. Gehört es dir? – Ist es dein Kind? – Diese fremdartig-rothaarige, schwachzappelnde Form, bleich wie Pflanzen, die unter Steinen keimen – –? Schwer grübelnd befaßt du dich mit dem Wesen. Es weigert sich, deine Brust zu nehmen; es weigert sich, an den strotzenden Quellen, die das »Ende der Peitsche« ihm bietet, zu Gaste zu sein. Es will hier nicht zu Gaste sein. Es hat aus Versehen Gestalt gewonnen; – mit der mystischen Scham des Bastards tappt es blind zurück zum Anfang des Kreises und verscheidet. Tai sieht es trockenen Auges sterben. Es ist nicht ihr Kind. In ihrem Schoß schon hat man es verzaubert; – – weg damit. Doch Kotūsa kommt und schwört und lästert –: »Deine Milch ist mit Tabak verseucht! – Du bringst meine Kinder um!« – – Raucht nicht Toieolesāsa ihre Suluis vom Morgengraun bis in die Nacht und hat sechs lebende Kinder? – – Nein; ich bin verhext; nehmt das bleiche Ding weg von mir und versenkt es im Meer . . . Es bringt Unglück – – es ist zu weiß! – –

Denn um deinen Sohn zu gebären, der deine Züge trägt und dein Haar und die Farbe deiner Haut, mußt du größere Schmerzen erdulden und länger mit dem Feuerdämon ringen. Der kleine Pa‘alagi, der deinem Schoß entsprossen, muß einen stärkeren Bruder haben. Der darf kein Gast an dieser Tafel sein, der seine Lippen tödlich enttäuscht zur Seite wendet, sondern muß einer sein, der den Kreis vollendet; den Kreis, den die schwachen Füße jenes anderen kaum eines Atemzuges Dauer lang beschritten. – – Und Gerhart fröstelt. – Die Bühne, die er sieht, verdunkelt sich.

230 Eine weiße Gestalt geht rastlos in der Hütte hin und her. Es ist Grothusen. Warum war der erste Knabe damals gestorben? – Weil er, der Vater, damals in Sawaii, im Haus von Fu‘e hockte, – und die Taupou Pa‘epa‘e ihm die Füße knetete? – Die A‘iga seiner Frau schwört, daß dies der Grund sei; und sie wollen ihm übel. – Deshalb muß er diesmal bei der Geburt zugegen sein. – – Vier Frauen sind in der Hütte. Grothusen hockt sich auf die Matte; und als der Feueratem anfängt, in langen zunächst und dann in kürzeren Pausen über das arme Weib zu spielen, nimmt er einen Schluck von der goldigen Flüssigkeit, die auf dem Querbalken steht, und sein Gesicht wird scharlachfarben von der Energie, diesmal zu siegen . . . Dabei scheint es, als sickere ihm die Kraft langsam aus den Knieen; er muß sich niederhocken. Für eine Minute bewegt sich die Hütte um ihn wie ein Karussell, aus dessen Mittelpunkt als Musik das Wimmern Tais dringt –: immer dieselbe pfeifend nach oben gedrehte Klangfigur . . . Man sieht ihm nichts an. Seine Augen, starr hinter der goldenen Brille hervordringend, ruhen auf dem leidenden Weib. Er hat dies alles veranlaßt; er muß es ertragen.

Sie dreht die Augen im Kopf herum; sie spricht: »Ich sterbe.« – Der Wirbel der Urqual der Kreatur schließt ihn ein; er tappt herüber und legt ihr die Hand auf die Stirn. Nie zuvor und nie nachher waren sie einander näher. Von diesem kümmerlichen, flüchtigen Strahl von Einheit, der damals von seiner mageren Hand, von seinen roten zerknitterten Brauen fiel, zehrte sie später die vielen Jahre, als in der Stumpfheit der Gewöhnung aneinander die Kette wieder klirrte; als beider Stimmen sich in täglichem Unmut gegenseitig erschöpften. Von diesem katholischen Gebet – was verschlug es, wenn die London Mission es nicht anerkannte! – das er auf samoanisch sprach, kam ihr eine innere Unterwürfigkeit unter ihn. Es war ein Gebet, ihr fremd; ein neues Gebet von stärkster Wirkung. Es war vielleicht das Letzte, Äußerste, was die Pa‘alagi 231 an Beschwörung gebrauchten, wenn alle anderen Mittel versagten . . . – –

Die vier Weiber! – Sie fangen plötzlich an, sinnlos zu plärren; Grothusen wirft sie hinaus. – Die Gefahr steigt. Da erscheint als Retter Folau; er geht, die Arme von Nußöl triefend, ans Werk.

Und dann tritt Er ins Dasein, mit der Haut der Mutter, mit den Haaren der Mutter . . . ganz und gar ihr Sohn . . . Sie indessen, mit halbem Leibe schon, hängt über dem Rand der dunklen Kluft, in der ihre Schreie ersterben.

Ihre Ohnmacht dauert zehn Minuten. Folau hat sein Werk beendet; er geht an die Süßwasserquelle. Den Jungen baden sie im Haus des Konsuls Poe.

Da schleppt Tai sich mühsam, mühsam von der Kluft zurück, auf sicheren Boden. Ihre Stimme gewinnt wieder Klang. Sie wacht auf, sieht Kotūsa an und spricht: »Ich bin hungrig!« – – Man bringt ihr zunächst starken Kaffee und dann eine Suppe aus gekochten Papayen. Die Weiber kommen wieder herein, um mit ihr zu beten; Grothusen weist sie ab. Toieolesāsa sieht ihn scharf an. Er hockt still und starrt auf das Kind. Es ist schwarzhaarig und braun; er ist überzeugt, es wird leben. Seine Rede, auf dem Urwaldweg von Palauli nach dem Sili, kommt Gerhart fast wörtlich in den Sinn zurück.

»Ich glaube an die große Regulierung. – – Der Frühere war uns entschlüpft, trotzdem er Ich Selbst war auf einer neuen Erdensendung; aber es hätte eine monotone Wiederholung meiner Ängste und Unbequemlichkeiten gegeben, denn er war absolut und radikal weiß . . . Ich hätte ihn zwar lieber besessen wie den Zweiten; ihm Erziehung gegeben, was ich unter Erziehung verstehe . . . Er entschlüpfte uns trotz großer Mühe. So nimm denn deinen Lauf, Schicksal; tu mit diesem, was dir gut dünkt. – Wir wollten das Nötigste dazu tun, ihn aber sonst der Sonne überantworten; wie eine Pflanze sollte er gedeihen. Das hat er getan; er ist 232 gediehen . . . Lapa‘ina, die bucklige Hebamme, hat ihn aufgebracht. Ob ich ihn in die Schule gegeben habe? – – Was wollte ich machen? – – Man zwingt einen dazu . . . Diese ›Pädagogen‹ haben keine Ahnung von Psychologie; kommen her, um ihren Gehalt zu ziehen und harmlose Inselhirne mit überflüssigem Zeug vollzustopfen . . . Als ich noch Schulmeister in Falealili war, ich hatte die richtigen Ideen; aber natürlich –: ich fiel aus dem Rahmen . . . Und dabei gibt es keinen, der so gut Bescheid weiß mit dem Volke hier als ich; ich kann Ihnen versichern, mein lieber junger Herr, daß ich im kleinen Finger mehr habe als diese ganzen Schematiker; ich kenne das große ozeanische Sonnenherz, und die anderen sind Stümper und tappen an der Oberfläche herum . . .

Dann kommen sie und sprechen: ›Ja, Grothusen, Ihr Petina, alias Ferdinand. – Begabter Knabe. –Aber er demoralisiert die ganze Schule.‹ – – ›Was???‹ sage ich. ›Demoralisiert??? – – Sache von Standpunkt!!!‹ – – ›Ja,‹ sagen sie mit hundsföttischem Grinsen, ›er steckt zuviel mit Kanakern zusammen.‹ – – Scheußliches Wort das, Kanaker; zeigt so recht das Niveau. ›Gut,‹ sage ich, ›meine Herren. – Sie belieben,‹ sage ich, ›meine Verwandtschaft und meine Familie »Kanaker« zu nennen. Unter Pädagogen, die das Haus beschimpfen, bleibt mein Junge keine zwei Minuten mehr. Von heute ab bestimme ich die Erziehung des Jungen.‹

Das tue ich seitdem. Sobald ich das Geld für die Reise habe, kommt er mir auf ein paar Jahre nach Hamburg; – der Balance wegen –; soll eine Prachterziehung genießen. Dann soll er wiederkommen zu seinem Volk, das auch meines ist, ein reines Medium sein zwischen Weiß und Braun . . . Wandlungsfähig, verstehen Sie! – Sozusagen Grundstein für eine Rasse von Helfern, von Vermittlern, dazu bestimmt, Gegensätze zu löschen, diese Inseln zum Paradies zu machen für die Abgehetzten von da drüben, die hier Frieden suchen und sich wärmen wollen 233 am samoanischen Herzen. – – Ach, dies wolkenlose Herz!« – –

Grothusen streckt beide Arme aus; der Bambusstock kreist pfeifend in der Luft.

Vier weitere Geburten sind erfolgt im Laufe von dreizehn Jahren; doch all diese Kinder haben das Schicksal des ersten Sohnes geteilt. Diese Geburten sind leichter vonstatten gegangen, – – offenbar, da Grothusen sehr gelegentlich darüber hinweghuscht. Seinen Glauben, daß Petina der Auserwählte sei, haben sie gestärkt. Maggie zählt nicht mit; sie kommt nicht in Betracht. – – Ein Prophet hat keine Geschwister; er muß frei sein.

 

Komm, mein kleiner Bruder, du Eng-Verwandter; du Zweiter, in dem die doppelte Stimme spricht; laß mich dein Schicksal mit dir tragen. Wir wollen einander helfen, ich und du; wir sind vom selben Los aneinandergekettet.

Doch freilich mag es sein, daß du einfacher bist; daß du schlicht deine Wahl triffst, dich zur einen Seite kehrst, der anderen völlig dich enthaltend, und glücklich wirst. Vielleicht wählst du die, zu der deine Hautfarbe dich bestimmt. Vielleicht aber weilt dein Hirn, trotz deiner schwarzen Haarkappe, an fernen Gestaden, bei ungekosteten Freuden des Geistes, voll Drang, sich zu erweitern und zu verfeinern, und will sich abkehren vom ewigen Sonnengrün, in dunkler Furcht zu erblinden. – – Doch eins weiß ich: auch mir wird es, über kurz oder lang, vergönnt sein zu wählen; und wir beide werden unserer Heimatlosigkeit ledig werden.

Gerhart empfindet eine mystische Liebe. – – Vom Kreuzweg ab, wo er gesessen, reglos gleich dem Strunk einer Palme, schreitet der seltsame Knabe ihm voran, den Kopf fordernd halb zurückgewandt. – Und dann? – Er steht still; er dreht sich um. Sein hellbrauner Leib flammt auf in einer Lichtsäule, die senkrecht durch eine turmhohe Baumkrone fällt. Seine Augen, nächtlich braun, glimmen voll Wärme. Gerharts und seine Blicke treffen sich und 234 verschmelzen zu tiefer Einheit. Wie in einer Umschlingung schweigt aller Zwiespalt des Blutes, wie Saft aus einem großen All, dem der Erde, der rein in Bäumen kreist, gleichviel aus welch trüben unverquickten Stoffen ihn auch die Adern des Stammes sogen . . . Und aller Stimmenwirrwarr schweigt, denn es gibt keine Stimme mehr als die eine allumfassenden Menschentums, das seine Heimat überall hat, wo man seiner Umarmung sich bewußt ist. Bald werde ich dich sehen, dich mit Augen abschätzen, mit Händen greifen können; und dann wird sich zeigen, ob ich dir zu folgen bestimmt bin oder du mir.

 

Die Nacht war vorgeschritten; das laue Wasser ward kälter. Alte Sternbilder tauchten hinter die Lavaküste, und neue rückten langsam über den dunklen Saum der Hügel. Im Haus des Leituala herrschte ununterbrochenes Gekreisch und Gelächter; ein Sprühregen von weich klingenden Worten drang von der Quelle des Lampenlichts in die Nacht. Weiter entfernt sangen die Hunde zum Mond empor, der auf der Hälfte des Umlaufs hing und die beruhigten Riffwasser versilberte. Sein Licht war ganz aus dem Fluß getreten; der Fluß war schwarz. Gerhart schwamm und watete auf das Zementbrückchen zu, um sich anzukleiden – – da hielt er inne. Eine abrupte Stille war eingetreten. Eine weibliche Stimme wiederholte ein einzelnes Satzgebilde; und wenn Gerharts Ohr sich nicht täuschte, flocht sie den Namen Petinas hinein.

Eine heftige Männerstimme fuhr hinterher; warf, auf samoanisch, scharfe Fragen in das Dunkel.

Die Weiberstimme verlor ihre sanfte Färbung. Sie wurde kreischend und gab Antworten zurück, Schlag auf Schlag.

Und dann, wie ein Beilschlag, hackte die Männerstimme die Unterhaltung ab. – – Sie sprach nicht; sie dröhnte. Ein einziges Wort war's, das sie dreimal dröhnend wiederholte –: wie das kurze wütende Murren eines großen Hundes.

235 Gerhart strengte sein Gehör an. Das Wort hieß »Uma«. Es wurde ganz tief in der Kehle gesprochen. Er wußte nicht, was es bedeutete – – er hörte nur, daß das Wort etwas Verwüstendes hatte, endgültig Zertrümmerndes. Es zuckte wie ein kurzer Schreck durch die Nacht. Ein scharfer Wind fuhr den Flußlauf herab und füllte den Raum mit Kälte, Kellerkälte aus den Bergen. Ein Zittern überlief Gerharts nackten Körper; er trat heraus und zog seine Pyjamas an. Gerade als er sich anschickte, ins Haus zu gehen, erschien Grothusen am Ausgang des Dorfes, schritt über das Brückchen und entdeckte ihn.

Er beugte sich übers Geländer. »Was!« – rief er forsch hinunter –, »noch immer beim Baden?« –

Gerhart dachte –: ›Es kann nicht seine Stimme gewesen sein . . .‹

 

Als die beiden sich wieder auf Sale-Kukas Veranda niederließen, scholl das stöhnende Schnarchen des Händlers in gleicher Tonlage aus dem Hintergrund. Grothusen schien völlig nüchtern. Er war einsilbig, dachte aber offenbar noch nicht ans Schlafen. Drunten im Dorf schwatzte man weiter; ein neuer Gesang wurde intoniert. Grothusen murmelte etwas; es klang wie ein entzweigepreßter Fluch. Er war bemerkenswert still und beschäftigte sich damit, seinen Schnurrbart zu raufen.

Endlich meinte er: »Sie haben nichts verloren, Herr Ollendiek, dadurch, daß Sie im Fluß gesessen sind. – – Sehen wir mal nach, ob der alte Schuft uns noch was zum Trinken übriggelassen hat. – Zwei Salzfleischfässer kann sich die Bande holen . . .« hörte Gerhart ihn murmeln, während er in den Hinterzimmern des Bungalow herumtappte – – ». . . auf meine Rechnung zwei Salzfleischfässer . . . Zinnochsen, Sixpence das Stück . . . Was unseren Drink anlangt, so verhelfen wir uns einfach dazu . . . zwei gute Kunden wie wir . . . wozu braucht er seinen Kram . . .«

Er erschien wieder, im Arm eine Gin- und zwei 236 Sodawasserflaschen. »Nur 'runter mit dem Fusel!« murrte er. – »Wär ne Schande, nüchtern zu bleiben bei diesem Mondschein . . . Solang es nur kein Unicorn ist . . .« – Er goß sich ein.

»Da sitzen Sie, so blond und jung. – Ach, Sie junger Gentleman!« Erstaunt horchte Gerhart auf. Grothusens hagere Finger tippten auf dem Tisch umher; sie schimmerten im Mondlicht weiß wie Kalk.

»Könnten mein Sohn sein . . . blond . . . jung . . . hol Sie der Teufel!«

Gerhart wußte Bescheid. Mit einer ermunternden Bewegung, die Pfeife im Mund, legte er den Kopf im Korbstuhl zurück und bettete die Beine bequem auf dem Tisch. – Grothusen lachte krähend auf. »Passen zusammen!« rief er lustig. – Dann mit veränderter Stimme: »Aber ich brauche Sie nicht . . . Haben Sie aufgepaßt? – Dann wissen Sie's . . . Hab's genügend in Ihren werten Kopf hineingehämmert . . . Habe schon einen Sohn! – Heißt Ferdinand Grothusen; vierzehn Jahre alt! – Warmherzig! – Waarrm–herzig! – Wenn ich mich jämmerlich auf den Hintern setze –: dann ist er da! – Hilft seinem alten Vater auf die Beine!« – –

»Stimmt.« –

Grothusen blieb eine Weile still. Plötzlich stieg seine dürre Gestalt kerzengerade am Tisch in die Höhe und sein Kopf beugte sich vor. Seine Hände fuhren im Zickzack herüber; er packte Gerharts Fußknöchel mit hartem Griff.

»Stimmt? – –« flüsterte er heiser. »Was soll da stimmen? – Nichts stimmt! – – Ich habe Sie angelogen! – Die Jacke hab ich Ihnen vollgelogen! – Mein Sohn! –Ha ha . . . Eigenes Fleisch und Blut; was? – Selber gezeugt! – Selber großgezogen! – Ich sage Ihnen, Herr Ollendiek, das macht mir keiner nach, mir altem Esel! – »Pa‘alagi valea!« – Einen Samoaner hab ich da auf die Welt gesetzt; einen ganz gewöhnlichen Wald- 237 und Wiesensamoaner! – Pläne hab ich gehabt? – Was aus ihm machen wollen? – Du großer Gott, was geht mich der Samoaner an, und wenn er zehnmal Petina heißt! – Was geht er mich an!«

Gerhart zog die Füße herab. Grothusen benahm sich sehr ungewöhnlich. Er schrie noch mehrmals, daß ihn ein gewisser Samoaner, namens Petina, durchaus nichts angehe; daß er jeden Anspruch auf ihn aufgebe; daß man ja sehen werde, daß man ihm so nicht kommen dürfe, wie man ihm gekommen sei; daß der erwähnte junge Südseeinsulaner jedem zur Verfügung stehe, der ihn haben wolle; er wolle ihn mit Dank abgeben und seiner ledig sein für nun und immer. – – Dies alles verkündete er mit erhöhter Stimme, während er Gin mit Sodawasser trank; endlich beruhigte er sich und sank in den Stuhl zurück.

»Ich nehme Ihr Angebot an,« sprach Gerhart tastend. »Schenken Sie mir Ihren Petina mit Haut und Haaren; vielleicht habe ich mehr Glück mit ihm.«

»Vollmacht dazu haben Sie,« erwiderte Grothusen scharf und wurde aufmerksam. »Väterliche Vollmacht . . . Nur dankbar, ihn loszuwerden. Holen Sie ihn in Fiji ab auf Ihrer Heimreise. – Er ist nicht mehr in Samoa.«

»Seit wann – –?« – fragte Gerhart und spürte etwas wie einen schweren, ganz unverhältnismäßigen Schreck.

Eine Aufklärung erfolgte nicht.

»Er ist nicht mehr hier,« wiederholte Grothusen. »Und wenn er es wagt, wiederzukommen, dann . . .« Sein Gesicht zerknitterte sich; seine Hände umkrallten das Glas. – Dann nahm er einen abschließenden Schluck, erhob sich und ging ins Haus.

Gerhart blieb draußen sitzen. Nach einer Weile rief er leise: »Grothusen!«

Ein tiefes Grunzen, in ein halbes Gähnen versinkend, kam aus der Dunkelheit.

»Was heißt ›Uma‹?«

Pause. –Dann sprach eine kellerhohle Stimme drinnen:

»Aus! – – Fertig! – Schluß! – –«

 

238 Das Geländer der Veranda steht schwarz gegen die flimmernde Landschaft. Gerhart bleibt reglos sitzen und starrt hinüber. Nur das leise Rauschen des Flusses dringt jetzt herauf; die Lampen im Dorf blinzeln schwächer. Auf einmal scheint sich eine Gestalt aus dem Flimmern zu formen. Sie vollführt zögernde, langsame Bewegungen, als ob sie ihre stille Mühe habe, sich aus dem Wesenlosen zu befreien und Umriß zu gewinnen; es scheint immer dasselbe matte Auf und Nieder zweier schattenhaften Arme . . .

Ein Kopf löst sich ab. Ein schmaler Leib hebt sich über das Geländer; zwei schlanke Beine gleiten darüber – –: all das geschieht mit der gleichen wie verstümmelten Bewegung – – wie bereit, sich flugs wieder aufzulösen . . .

Dort steht Grothusens leerer Stuhl. Auf einmal scheint er nicht mehr leer; jemand sitzt darin. Eine dunkle, jugendliche nackte Gestalt. Und der Kopf beugt sich mit unendlicher Langsamkeit nach vorn, bis er über der Tischkante schwebt. Gerhart glaubt ein weiches, herzförmiges Gesicht zu erkennen, mit etwas schiefgestellten Augen, vortretenden Backenknochen, vollen Wangen und breitem Mund. Der Mund ist zum Strich geschlossen; die Augen blinzeln, als erwachten sie aus längerem Schlaf.

Zwei nackte Arme, dunkelgelb im Mondschein, mager, doch wohlgeformt, schieben sich wie suchend über den Tisch, seinen eigenen Händen entgegen. Zwei blanke Schultern treten hervor; tiefe Schatten nisten in den Gruben zarter Schlüsselbeine. Eine junge hagere Brust, mit hellen Warzen und weicher Andeutung der Rippen, hebt und senkt sich gegen die Kante gepreßt. Die Hände kriechen näher und näher. Weiße Nägel glänzen daran. Und Gerhart greift danach. Fühlt er sie? – Er spürt nichts als eine kleine Wärme und den Puls des Blutes in den eigenen Fingerspitzen . . .

Das Gesicht drüben beginnt zu lächeln. Schimmer von 239 Zähnen erscheint. Dunkle Augen – unter einer tintenschwarzen Haarkappe, die dicht darüberhängt – tun sich auf . . . Zuerst gleichen sie zwei Löchern; doch dann . . . Gerhart sucht darin, wühlt mit den eigenen Blicken . . . Ein Ausdruck tritt hinein; ein schwaches Blinken . . . Geist, Herz aus einer ruhevollen Pupille . . . Ein Glimmen, das mit seinem eigenen Blick verschmilzt . . .

»Du gehörst mir,« flüstert er vor sich hin. »Ich habe dich gesucht. – Einzeln sind wir ruhelos. – Vereinigt finden wir Frieden.«

Drüben lächelt es; eine silberne Reihe von Zähnen . . . Der schattenhafte Leib erhebt sich, wird sichtbar bis zur Hüfte, scheint sich über den Tisch herüber recken zu wollen . . . Ein Akkord entsteht in der Luft, wie ein langgehaltener Strich auf den dunklen Saiten des Cellos. Und dazwischen spricht eine ferne, ferne Stimme, kaum vernehmbar, wie erstickt hinter den gläsernen Wänden eines Treibhauses . . .: »Es ist vollbracht.«

 

Plötzlicher rauher Tumult geschieht; lärmendes Gurgeln und Aufächzen. Das weiche Gesicht drüben wirft sich witternd auf der Schulter herum, der schlanke Körper zuckt zurück wie von einem Peitschenschlag gestreift, und die geöffneten Arme gleiten blitzhaft schnell vom Tisch. Der Stuhl gähnt leer. – – –

Gerhart fährt zusammen; er ermannt sich; das Mondlicht dämmert wie Nebel um sein Hirn.

Grothusen, im Hause, grunzt und spricht mit sich, dreht sich ruhelos hin und her; keucht heisere Worte, unverständliche, hervor. – Gerhart lauscht ihm; schwer aus Traumbefangenheit erwachend, starrt er hinaus.

Dort nickt ein Palmenblatt im Nachtwind. Seine Bewegung gleicht dem zögernden, immergleichen Auf und Nieder zweier schattenhaften Arme.

Der Fluß rauscht. 241


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