Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Mond in Tufu

Chartes Bartley, genannt »Charles the Cook« oder »Sale-Kuka«, hatte früher ein Bäckergeschäft in Apia betrieben. Diese an sich dursterregende Beschäftigung, beschienen von der stets heiteren ozeanischen Sonne, hatte einen treuen Freund des Alkohols aus ihm gemacht. Mit dieser Freundschaft mochte es auch zusammenhängen, daß er jahrelang nichts davon merkte, wie ihm die Eingeborenen in Salea‘ula seine Kopra-Wiegeschalen um sechs Pfund verstellten. Er hatte jedoch einen sanften Charakter und fing nach dem Bankrott von neuem an; mit einem kleinen Trödelladen, der McGrew gehörte. Als Gerhart und Grothusen eintrafen, war Charles noch nüchtern genug, um bei seiner samoanischen »Haushälterin« eine kleine Abendmahlzeit zu bestellen; der Tisch war jedoch noch nicht gedeckt, als er – das kupferrote Gesicht der Wand zugekehrt – anhub, ein größeres Quantum Whisky abzuarbeiten und die Welt für ihn ins Wesenlose sank.

Mit dem friedevollen tierischen Röcheln des Händlers als Tafelmusik, nahmen die Wanderer ein herzhaftes Mahl zu sich. Der Rest, den Charles in der Flasche gelassen, zog alsbald Grothusens Aufmerksamkeit an; es überraschte, wie schnell und systematisch er ihn verminderte. Man hatte von der Veranda Aussicht auf die beiden Tufu; über das Flüßchen und die ganze Landzunge bis zur Mündung ins Meer reichte der Blick.

218 Das strotzendwarme Gelb der Abendsonne, die jene Lücke der Lavaküste füllte, wurde zusehends kälter. Eine Brise brauste und bewegte die Palmenkronen, deren Umrisse sich im Grün des Himmels schwärzlich vertieften. Immer mehr von ihrem Gelb nahm die Sonne aus den blänkernden Wellen des Alia, der das Licht ruckweise hinwegtrug; immer ferner geschah das Lodern; immer begrenzter zeigte sich die Flammenscheibe. Das Grün erlosch und wich einer zögernd wachsenden nebligblauen Helle –: der Mond war da. Scharf hoben sich sechs Fliegende Hunde vom Himmel ab, die träge landeinwärts ruderten. Die Schatten drunten traten hervor. Der Weg über das Zementbrückchen leuchtete. Vor dem auf- und abschwellenden »Sch–sch–sch–« der Brandung standen klar die Stimmen der Leute; gelb funkelten Lampen durch die Stämme.

Durch letzte Äußerungen, dem scheidenden Bewußtsein »Sale-Kukas« abgerungen, hatte man von der Hochzeit im Dorf erfahren; Grothusen zeigte großes Interesse an der Festlichkeit. Während des Mahles hatte er über jede noch so bescheidene Bemerkung Gerharts krähend gelacht; diese Heiterkeit wurde gleichsam stereotyp, ohne daß es weiterer Scherze bedurfte, um sie anzuregen. Als daher Grothusen sich plötzlich erhob und seinen ganzen Menschen dabei gewaltsam glättete, war Gerhart etwas überrascht; umso mehr, als jener mit gesetzter Miene sprach: »Sie entschuldigen. – Muß mich da unten sehen lassen; man weiß, daß ich hier bin. – Alter Freund von mir; edler Charakter; Leituala . . . Hat keinen Sinn, Sie mitzunehmen; muß geschäftlich reden, auf samoanisch . . . Komme wieder, in ein, zwei Stunden.«

Es traf sich kurios, daß Grothusen sich gerade eine Festlichkeit ausersah, um »Geschäfte« abzuwickeln; doch Gerhart unterdrückte eine Andeutung. – »Viel Vergnügen,« meinte er . . . »Und gute Unterhaltung mit . . . den anderen Buschhähnen.« – – Grothusen schlug sich die Schenkel mit den Handflächen und lachte leise . . . Klang das nicht wie der 219 Beginn eines schmetternden Krähens; wie knatterndes Flügelschlagen vor einem letzten blutvollen Schrei?

 

Grothusen stieg stelzend den Hügel hinunter; seine weiße Gestalt bewegte sich über die Brücke und verschwand dann in den samtenen Schatten des Dorfes auf der Landzunge.

›Er geht schnurstracks in diese warme Schwärze hinein . . .‹ dachte Gerhart mit leisem Neid. ›Und der Osten hockt dort im Dunkel, vielköpfig, braun, nackt, verschlagen, – und bietet ihm gurrende Begrüßung. Er setzt sich in die Mitte jener Menschen und gehört zu ihnen von dem Augenblick ab, wo er die Beine in Kreuzform schlägt; wo er einen Spritzer der Kawa opfert; wo er den ersten samoanischen Satz ohne Zäsuren aus der Kehle hervorstößt . . .‹

Die verstreuten stillen Lampenlichter glühten herüber wie fremde Augen aus einem fremden Dunstkreis. Eines erlosch – – dann erschien es wieder an anderer Stelle. Das Dorf lag kompakt und schwarz. Der silberne Mond hing gleichmütig über dem tiefgeheimnisvollen Vielerlei von fremdartigen Dingen. Eine Lampe wurde von Gliedern verdunkelt; ihr gelber Strahl kroch wieder hervor. – – ›Es ist wie eine Bestie, die blinzelt . . .‹ dachte Gerhart. ›Aber es gibt einen, der geht stracks auf sie los; der hat sie in der Tasche . . .‹

Noch eine Weile saß er dort oben und horchte auf die Geräusche der Nacht. Das Rauschen des Flusses lockte ihn . . . Er klopfte seine Pfeife aus und stieg den Hügel hinunter. Er ging jedoch nicht über die Brücke, sondern tastete sich etwa dreißig Schritte davon landeinwärts am Ufer entlang, bis er an ein paar breite Bananenblätter kam, die man als Korb benützt und zerschlissen hatte liegen lassen. Der Fluß bildete hier ein tieferes Becken, so daß die am Grund liegenden Steine, die sich im Mondschein deutlich abzeichneten, den Spiegel nicht störten. Lautlose silberne Schlangen stahlen sich zuckend vorbei, flüssig verknäult zu wechselnden Arabesken. Zuweilen, für einen 220 Augenblick, hielt sich die Scheibe: ein bebendes verzerrtes Oval, das funkelnd auseinanderriß.

Gerhart zog sich langsam aus und legte seine Kleidung auf die glatten runden Steine. Nackt ließ er sich auf den kühlen Bananenblättern nieder; mit leisem Knirschen barsten die saftvollen Rippen unter seinem Gewicht. Er riß einen länglichen Streifen heraus und stellte sich spielerisch, indem er ihn verknotete, eine grüne Kopfbinde her. Das Blatt lag kühl um seine erhitzte Stirn. Ein leichter Wind, das Flußbett herab geisternd, umfing seinen Körper; es war Duft darin all der Klüfte und Schluchten; der stagnierenden Regensümpfe unter dem Geflüster triefender Baumfarne; Duft von fernem Humus, seit Jahrtausenden gespeichert und schwärend von verwesendem Wurzelwerk.

Der Fluß brachte lange Sagen mit; dunkel raunende Handlung; aufzischende Katastrophen. Drinnen im schwarzen Wirrwarr der Bergkuppen hatte sich – – wer weiß – – Ungeheuerliches ereignet; schaumschwirrendes Echo drang hervor; Botschaft aus der Urwelt für die, deren Ohren der Erde nahe sind. Ein Banianbaum, viele Meilen entfernt, ist unterwühlt gestürzt; es hat tief und schwer gedonnert; seine Krone hat einen Pfuhl gegraben; Tonnen von Wasser gestaut – – davon schwatzen die Wellen, seit sie Himmel über sich haben und nicht mehr die tiefe Regennacht zehnfach übereinandergeschichteter Blättermassen; nicht mehr das Lianengetümmel, das alle Laute zerquetscht. Sie schwatzen davon, wie sie gepeitscht wurden von scharfen Ästen und erschrocken zu Tale stürzten.

Die Wellen wissen noch mehr, noch Dunkleres. Sie wissen, daß irgendwo in der erloschenen Kraterkette, aus ringförmigen Wällen wuchtiger Bäume hervor, im Siope oder Te‘elani, Murren und Poltern dringt; daß Mafuite, der Gott des Bebens, halb vom Schöpfungsschlaf gefesselt sich unmutig rührt; daß er die Wasser zwingt, einen neuen von tiefen Abenteuern schwangeren Weg zu graben oder in ein Loch zu stürzen, das keinen Boden hat; ein Loch so tief, 221 daß die silbernen Fälle brodelnd zerrauchen und ihr Dampf wieder zu Wasser wird, eh er den Ausgang findet . . . Davon reden sie und daß sie sich dem großen Wasser-All, dem Meer, vereinigen wollen; sich hineinwühlen in einen salzigen grenzenlosen Traum . . . Erwachen sie, wird ungeheure Läuterung geschehen in Sonnenwollust; als weiße Wolken werden sie wiederkehren in jene fernen nimmersatten Kraterringe und neue dunkle Irrgänge wandern . . . Irrgänge durch glühende Blütenfarben, die Klauen schnüffelnder Wildschweine netzend; – eindringend in Tempelhallen aus Wurzeln; begrüßt von den Pfiffen scheuester und verstecktester Vogelschwärme . . .

Und in diesen Fluß trat Gerhart. Der Umriß seines schlanken leuchtenden Körpers stand verdunkelt gegen das Abbild des matthellen Himmels im Wasser. Er blickte den Fluß hinauf gegen die weiche Wellenlinie der Berge von Sawaii, gegen den schwarzen Bereich, den niemand betreten hatte und an dessen Saum sich doch so gastliches Leben rührte, so lächerliche Schicksale vollzogen . . . Wo käme ich hin, dachte er, wenn ich jetzt weiterwatete? – Immer weiter hinauf? – Würde der Erdgeruch stärker werden und mich übermannen? – – Er ließ sich gleiten, und ihm war, als sinke er machtlos und doch voll Glück einem großen Unerforschten an die Brust.

Das Wasser plauderte an seinen Ohren; es löste das Blatt von seinem Kopf, breitete sein wirres Haar aus, umspülte seine Brust – – von der das zwiefach geteilte Silber rann, wenn ein Atemzug sie hob – – und staute sich in kleinen kühlen Wirbeln an seinen Knieen. Das dunkle Wasser trug den Körper leicht wie ein Spielzeug; Steine, an die er streifte, stießen ihn sanft; angeschwemmte Wurzeln umwanden ihn wie flüchtige Umarmung und ließen ihn wieder frei. Da trat ihm ein größerer Lavablock entgegen, wider den er die Füße stemmte; er kreuzte die Hände unter dem Kopf und lag still.

Unendliches Geschmeide durchwirkte den Himmel und 222 dämmerte als blaue Masse glitzernd hernieder . . . Hier liege ich wie am Tag meiner Geburt, nackt und der Erde so nah, wie ich nur sein kann; so eng an ihr und so ihr verwandt wie ein Tier in einem fremden fernen Regenstrom – – wer findet mich auf? – – Und doch: welch eine Kluft trennt mich von denen, die diese Ufer ihre Heimat nennen! – – Weil meine Haut weiß ist, wie das Fleisch der Nuß, und die ihre braun wie Erde? – – Ist dies alles, was mich trennt? – Könnte ich nicht einfach denken wie sie? – Könnte ich nicht Wörter sprechen, die Klang bedeuten und selbst der Klang sind? – Wörter für Regen und Wind, die regnen und säuseln? – Und wenn ich schlafen will – – könnte ich nicht: »Fia mo‘e« sagen? – Denn dieser dunkle Laut ist der Schlaf selbst . . . Was hindert mich, ganz ein Stück dieser Natur zu sein?

Wonach dein nimmerruhendes Heimweh dich trieb, mein Vater – – ich weiß es jetzt! – – Nach diesem selben Lavablock, an den ich meine Füße stemme! – Nach dieser selben Pflanze, die sich anfühlt wie meine eigene Haut! – Nach diesen Steinen, die meinen Körper stützen; nach diesem Wasser, das um meine Ohren plaudert und meine Nüstern mit Erdgeruch füllt. Ich weiß nun, mein Vater, warum ich dich im Grün liegen sah; warum deine Erlösung sich vollziehen soll im Bezirk großblättriger Pflanzenschäfte . . .

 

Schläfst du nun in mir den Schlaf, der sättigt und kein Erwachen kennen will? – Oder ist es noch der Schlaf der Sorge? – Darfst du dich noch nicht ganz dahingeben? darfst noch nicht ganz versinken in die Einheit des Unbewußten Lebens zu zweckvoll-gedankenlosem Schöpfertum? Ist das Übel noch geschäftig, das dich heimatlos macht und sich drohend zwischen dich und das Leben stellte, so daß du letzten Endes die Verständigung nicht fandest und keinen Platz auf der weiten Erde, dein Haupt zu betten? – Und nun? – Höre ich dich Schlaflosen noch immer seufzen? Oder sprichst du: Hier ist gut sein? – Hier bringe ich den 223 Zwiespalt der Stimmen in mir zum Schweigen – –? – Hier gibt es die große Verwandtschaft, und sie macht uns alle einander ähnlich und verschwistert mit tieferem Gleichklang des Pulses als mit Banden von Sprache oder Sitte? –

Plötzlich, über diesen Träumereien, vernahm Gerhart die Stimme Grothusens.

War das aber Grothusen, der sprach? – Ein Samoaner schien dort zu sprechen, lange und melodisch; schien seine Rede auszuspenden wie eine glucksende Süßwasserquelle in der Abendschwüle. Eine erstaunliche Verwandlung war vor sich gegangen –: der ›Mann mit dem Schlüssel‹ war geschäftig, die Südseeherzen aufzuschließen. Daß es ihm glückte, glaubte Gerhart aus den vielen hellen oder tiefen Beifallsrufen zu erkennen, die seine Rede unterbrachen. – Er wird auch mich dies Geheimnis lehren, dachte Gerhart; – er reißt Breschen in diesen Wall von Fremdartigkeit. Ich werde nicht mehr frieren, wenn ich den Osten lächeln sehe; ich werde die warme Einheit ihres und meines Lächelns erlangen. Dann wird sich in mir vollziehen, wonach der Tote vergebens gestrebt; und er wird endgültig in mir zur Ruhe kommen.

Ein zorniger Entschluß war's, der ihn überkam. Hier und nirgends anders werde ich sie verscharren, diese zudringliche Maske, deren verhetzter Blick aus wimperlosen Augen mir überall entgegenstarrt; verscharren mein zweites Ich, diese Einbildung, die mir längst zum Überdruß, ja Ekel gediehen . . . Ist dieser Fluß, in dem ich liege, nicht mein Fluß? – Und ist er's nicht – – ich mache ihn dazu . . . Ich erkläre ihn zu meinem Eigentum! – – Das Dasein dieser Wellen ist nur berechtigt, weil ich ihnen verstatte, meinen Leib zu wiegen; das ist der vorbestimmte Zweck, der dich zu Tale hasten läßt, du zischendes Urwald-Regenwasser! – Du spielst mit den strotzenden Sonnenpflanzen; du besprühst die Glieder deiner braunen Kinder – ich reihe mich ihnen an! – Schon dadurch, daß ich mich so brünstig an dein Element schmiege, bin ich eines der ihren . . . Stufe nach 224 Stufe, so erobere ich euch, ihr Riffe, Sandflächen, Bäume und Menschen; Schleier nach Schleier reiße ich euch herab! So verjag ich all die europäischen Gedanken, die sich wimmelnd hinter euch drängen und in Hütten, Gesichtern, Früchten nisten – – – verjage sie und habe dies alles um mich als vertraute, leuchtend durchschaubare Begrenzung eines Daseins, das ich einfacher erfasse und tiefer mit mir selber füllen kann als je eines zuvor.

 

Und er sah sich selbst, sah sich dann auf der Veranda eines großen einstöckigen Hauses, vor sich einen weiten Acker segenbeladener Nutzsträucher. Reihe nach Reihe durchdrang sein geschultes Auge und freute sich kommenden Gewinns. Er sah sich tief verbrüdert mit allem, was da wuchs und reifte; und Europa war abgetan wie eine Sage.

Zuweilen würde ihn Unrast packen; Sehnsucht nach Bogenflammen, Lärm, hohen Hotelhallen, bunter Bewegung und Rede, die im Geistigen spielt . . . Er würde sich verirren; sich treiben lassen; monatelang durch den Raum spazieren wie der Knabe mit der silbernen Schuppenhaut, der im Grundlosen zu Hause war . . . Doch er würde wissen: in einer Wüste von Wasser gibt es irgendwo einen Winkel in einem smaragdenen Treibhaus; vor seinen Augen, auf dem purpurnen Grund der geschlossenen Lider, wird es anheben grün zu funkeln. Und dort muß einer zu finden sein, dessen Kommen er erwartet; nackt und schlank wird dort einer an verlorenem Kreuzweg hocken; winzig unter turmhohen Bäumen. Zuerst wird es vielleicht wohl so aussehen, als sei jener der braune Strunk einer geborstenen Palme; doch bald wird er sich zu einem Körper entgliedern, sich erheben und ihm voranschreiten, den schwarzen Kopf bisweilen zögernd zurückgewandt . . .

Das wird Er sein, die Verwandlung des Meisters; die Frucht der Tat mit dem Schlüssel; – – das wird Er sein: Verschmelzung allen Zwiespaltes im Blut, Akkord früher 225 hadernder Stimmen, überreicher Lohn für den Sieg über das . . . »Tier« . . .

Plötzlich stockte Gerharts Puls: hatte ihm Grothusen nicht gesagt, er besitze einen Sohn? – – Einen Sohn namens Petina? – –

Erwartungsvolle Erregung ergriff ihn, als habe eine Erkenntnis ihn überrumpelt. Er setzte sich im Wasser auf; dann erhob er sich, umging den Lavablock und ließ sich weiter hinuntertreiben. Grothusens Stimme, in krähender Heiterkeit aufgelöst, drang jetzt wieder aus dem Schoß des Dorfes.

Das Ufer – so schien es dem Treibenden – wurde langsam vorübergetragen, bis er merkte, daß er die Landzunge fast umschwommen hatte. Der Boden wurde tiefer; er sank in eine flaumweiche Liebkosung. Kühlere Strömung umspülte seine Schenkel; seine tastenden Füße fanden Halt in einem flachen Wirbelloch, und er stand bis zu den Schultern im Wasser, die Arme entbreitet. Seine Gedanken wanderten den vergangenen Tag zurück.

 

Vom Hause des eifernden Priesters quer über die Insel nach Palauli –: welch eine Straße!

Zwischen den Dörfern, durch die sie kommen, strecken sich Meilen von Einsamkeit, kaum unterbrochen durch bananenblattbepackte Trüpplein, die am Wege rastend bei der Begrüßung starr und verschwiegen lächeln, als hüteten sie Kostbares oder seien auf geheimer Sendung. Pomphaft ist die Straße gesäumt –: begrenzt von Melonenbäumen, an denen gärende Früchte hängen, die niemand pflückt, windet sie sich durch ein Meer von blanken Blättertellern.

Unendliche Schlingpflanzen, zum Teppich verknotet, soweit man sieht, halten alles Leben erdrosselt und zittern gluthaft darüber. Die Hitze wimpelt mit weißen Schleiern; kein Lüftchen regt sich.

Wo der Urwald beginnt, heben die Schlingpflanzen an 226 zu klettern. Zäh haben sie mit geiler Inbrunst der grün durchleuchteten, endlos entrollten Tentakeln das buschige Unterholz überwunden. Dann haben sie die Stämme umsponnen; die konnten sie nicht erwürgen; die waren eisenhart. Sie schleppen lange Ketten von saugenden Fächern mit, in denen die Küsse der Hitze brennen; höher dringend flechten sie Hängematten, schlingen sie Girlanden dicht unter den Kronen, so daß eine kompakte Wand entsteht; sie bauen ansteigende Kulissen, deren höchste Stufe, mit schwarzem Grün über dem helleren der Parasiten, den Himmel zu stützen scheint.

Gesprenkelt von runden Schatten und stagnierenden Lichtern, prangen die plumpen Pflanzenmauern; laufen zackig und zuweilen von steilsten Fikus oder Baniankronen zersprengt als brütende Linie den Horizont entlang . . . Das Auge dürstet nach einem Zeichen von Leben.

Siehe: da rührt es sich gespenstisch in steiler Höhe; drei langsam rudernde HautschwingenIch habe tatsächlich Fliegende Hunde am hellen Mittag über den Wald fliegen sehen. entwinden sich der ehernen Hitze. Und dort, im matten Zickzack wie in trostloser Suche nach Kühle über die blanke Blätterwüste taumelnd ein irrendes Geistchen –: der sammetschwarze Schwalbenschwanz . . .

Der Weg verengt sich und führt durch Zuckerrohr und Kakaopflanzungen; die Berge wandern mit. Urwald verschlingt die Wanderer; dämmernde Stille mit Tropfen und Vogelstimmen. Dann ein Rauschen –: der Sili.

Zwei braune Leiber sind erbötig, sie hinüberzutragen; federnde Schultern raffen sie wie Spielzeug empor. Bei leisem Gesang, der den Rhythmus der elastischen Muskelberge begleitet, schweben sie über die Stromschnellen. Grothusen reitet Gerhart voran auf einem jungen Riesen. Es scheint, als unterjoche er sich, wie »Der Alte vom Meer« den Sindbad, das warme goldbraune Leben; doch nicht mit roher Kraft, sondern List und kluger Zunge; – und ist es nicht, als ernte der bleiche Mensch dafür neue Kraft, gesogen aus dem Duft reinen Sonnenschweißes, der dem 227 schenkelstarken strotzenden Inselkörper entsteigt –? Er hockt auf dem lebenden Thron; der Bambusstock hängt zur Seite herab und schlägt leise gegen die Flanke des jungen Trägers, die von flüchtigem Keuchen schwillt. Als er den Kopf nach Gerhart wendet, blitzt seine Brille triumphierend . . .

Bis zu den Brustwarzen steigt den Samoanern das Wasser; die Füße der Reiter werden vom Strom umspült. – – Dann geht es aufs Land; der Manaia verschlingt die hohlen Hände, und Grothusen steigt prächtig herab. Es ist Demut darin, wie die Jünglinge sich ihrer seltenen Last entledigen. Sie sind sehr geschmeichelt; noch hastig atmend bringen sie gesetzte Höflichkeiten hervor. Sie erhalten etwas Geld und Zigarren; noch lange stehen sie und blicken den beiden Pa‘alagi nach. Man dreht sich um und erblickt sie, verweilend am Ausgang eines grünen Tunnels; die Sonne blitzt aus der Nässe ihrer nackten Glieder wie aus Tautropfen an schwellenden, von krausem Basthaar umsponnenen Palmschößlingen und badet sie in Regenbogenfarben. – Dann folgt man einem Weg, der sich an einer Kurve des Sili entlangschlängelt, eine Kette von Schleierfällen zur Seite . . .

Und aus dem Mittagsschweigen von Palauli; – aus den vielfältigen Lauten des Waldes; – aus dem bald nahen, bald fernen Brandungsgetöse und dem Rauschen des Flusses und der Fälle dringt Grothusens Stimme; sie ist nicht wegzudenken; sie ist immer da wie Geräusch des Pulses in den Ohren; wie das leichte Raunen des Wanderfiebers im Hirn beim Durcheilen dieses Landes, wo eine urweltliche Überraschung nach der anderen das Herz bestürmt. Und was berichtet diese überhebliche, banale Stimme? – Sie formt rohe Umrisse von Bildern; diese tauchen nun wieder auf; Gerharts Herz unter dem Sternenhimmel, gewiegt von den liebkosenden Lauten des Regenstroms, füllt sie mit neuem Leben. – – Diese Bühne ist nicht fern; sie ist drüben im Upolu; doch welch ein Schicksal spielt sich darauf ab! – Aufgerissene Augen gibt es da und zuckende Hände; 228 Verschmelzung sich feindlichen Blutes; Wehen wie die der Erde, wenn sie Lava gebiert; und endlich, aus der Zwangshochzeit der beiden Metalle die Entstehung eines neuen; wird es zerbröckeln oder die anderen überdauern? – –: Petina . . .

Gerhart schließt die Augen. Wie klar formt es sich nun vor ihm! »Ebbe am Nachmittag!« – Welch ein Name! – Welch hohe Zeitlosigkeit in dem einen Namen! –

Wer sagt, du seist feige? O großes Gesetz, dem du dich so tapfer beugtest! – Schmerzenreiche Mutter, ich habe dich nicht gesehen; doch ich kenne dich . . .


 << zurück weiter >>