Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Vom kleinen Niklas

Das Ende seiner Schuljahre näherte sich, als Gerhart – war es in Hamburg? – die Vorstellung einer großen wandernden Varieté-Truppe besuchte. Hier geschah es, daß er den kleinen Niklas traf.

Der junge Artist reckte seinen schwarzgelockten schmalen Kopf über die Logenbrüstung, dehnte seine mit einem Schuppenpanzer bedeckten Glieder und schlug die kindlichen Arme über den Sammet. Gerhart bot ihm ein Glas Sodawasser an und beobachtete, wie die gepuderte Kehle beim Trinken auf- und niederstieg – dann machte der Junge verschmitzte Augen, um seinen Dank auszudrücken; sagte etwas Heiseres, Rauhes in nasalem Englisch und lächelte, 20 wobei er schlechtgepflegte Zähne zeigte. Kümmert sich je ein Held um seine Zähne?

Er ließ sich halb zurückgleiten . . .

Ein Schimmer von der Bühne kroch kalkblau herüber, rückte über die reihenweis zerteilte Menge, deren Geräusch wie das einer großen schweratmenden Bestie in den Raum trat und ließ den kleinen Niklas für einen Moment ganz sichtbar werden. Halb stehend, die Füße auf kleine Stützpunkte im Ornament gebettet, hing er mit schlangenhaft gebogenem Kreuz und gewölbtem Brustkorb silbern unterhalb der Loge. Neben ihm gähnte die schwarze Tür der Artistengarderobe.

Wie er so sein Gesicht beugte und ein seltsam altes Lächeln an seinen Lippen stand, bemerkte Gerhart, daß er auffallend kleine Ohren hatte: runde Mausohren, die rötlich schimmerten. Seine Augen glichen Löchern; sie blinkten schwarz und verengt durch langwimprige Lider – und die Brauen, hochgezogen, gaben ihm den Ausdruck eines dauernden Erstaunens. – So, als sei es gar nicht wahr, daß er hier sei . . . Als grübele er, woher doch das kalkblaue Licht stammen könne, das ihn streifte; als sei er eigentlich nur in einer einzigen Rolle heimisch, die er, kaum wußte er, wann – gespielt –: weitab von Signalpfeifen und schattenlosen Kulissen; nicht in der Rolle eines abgehetzten Artisten, sondern in der eines bunten Tanzknaben, – voll von der Inbrunst des Ritus, irgendwo in der Nähe von Java, in der Nachbarschaft eines erhitzten Meeres . . .

Und dann verschwand er und tauchte in die Tür, völlig lautlos.

Die Lichtgeschehnisse wickelten sich weiter ab: verschiedene Farben überschwemmten die Bühne. Ein Rot hielt sich plötzlich und füllte die fernsten Winkel des Raumes mit Blutgerinnsel. Drüben stiegen, wie eine leichte Fontäne, leuchtende Reifen empor, und ein kleiner Arm, der sich wie ein Uhrwerk rührte, erhielt den strömenden Kreis. Hölzernes Händeklatschen erhob sich, und der Vorhang schoß herab . . . Während er fiel, entstand das nackte und grelle Pausenlicht.

21 Gerhart rief den Kellner und ließ dem kleinen Niklas ein Glas Portwein in die Garderobe schicken.

»Nun hat er Angst,« dachte er, »wie eine kleine silberne Schlange, die man zum Scherz in eine Kiste sperrt . . .«

Es ward wiederum halbdunkel, und der Lärm verebbte. Ein kleiner trotziger Schrei kam aus der Kulisse; dann folgte der kleine Niklas. Er spazierte auf den Händen herein. Er war wie ein zappelnder Ball von Silber; er schnellte sich durch zwei papierverklebte Reifen, die rechts und links von unbeweglich hingepflanzten grotesken Clowns gehalten wurden.

Es gab ein krachendes Geräusch wie von berstender Seide; die Reifen rollten hinaus. Der kleine Niklas stand auf einem exponierten Holzgestell; frei und federleicht. Er bog die Knie – und während ein langer Trommelwirbel das Orchester erschütterte, stieß er sich ab, überschlug sich zweimal und hing an einem kaum sichtbaren Seil.

Vom Anprall seiner treffsicheren gepuderten Handteller bäumte es sich; in weiten Pendelschwingungen fuhr es auf und nieder . . .

Doch der Springer wiegte sich wie ein Fabelwesen; wie ein Falter über der Schlucht des Todes –: Tyrann des Raumes, den er mühelos zu meistern schien! – Den Kopf reckte er nach der Sonne: der Bogenflamme unter der Höhe des Bühnendachs, die ihre leise siedenden Fixsternhymnen sang.

Das Publikum lag im Bann. Nur mühsamer Atem bewegte die Tiefe.

Endlich, sieh: – lief jener wie ein leuchtendes Wiesel die Leiter herab; löste die schwindelnde Spannung; glitt aus seiner entrückten Region auf das zurück, was ihm gesicherter Boden, was ihm Erde und Welt war . . .

 

Woran lag es nun, daß Gerhart den kleinen Niklas in der Folgezeit nicht aus seinem Blute brachte? Weiß der Himmel, dachte er, – was für eine 22 Rassenmischung dazu gehört, um diese gummigliedrige Tierhaftigkeit, diese löcherartigen Augen, diese phantastischen Spaziergänge im Raum zu ermöglichen!

Eins war jedenfalls klar: der silberne Knabe verstand sich auf Heimatlosigkeit. Er hatte die Allerweltsfreundschaft, die seinesgleichen beschert ist, aufgesogen und gab sie wieder ab; er ging auf die Dinge los in jedem Kontinent und bemächtigte sich ihrer, wenn sie ihm gefielen; und wenn man ihm ein Spielzeug versagte, wandte er seine blicklosen blinzelnden Augen einfach auf die Seite – ohne Enttäuschung und ohne Freude.

Ja, sein ganzes Leben war nichts anderes als ein Hängen im Raum; nur ferne Beifallsbrandung zeigte ihm, daß er da war, daß er gefiel. Deshalb empfand er auch nichts – nur dann vielleicht, wenn er einen Zweiten traf, dessen Schicksal seinem eigenen irgendwie ähnlich sah, rührte sich ein unerkannter Drang . . .

Und dieser Zweite – war der etwa ich? – Es überlief Gerhart seltsam. Kam jener nur zu ihm herübergeklettert, um seinen Durst mit einem Glas Sodawasser zu löschen?

Nein; es muß etwas an mir gewesen sein; es muß ihn magnetisch angezogen haben . . . War es vielleicht der Instinkt einer – Verwandtschaft??

Gerhart suchte mit allem Gleichmut, dessen er fähig war, den kleinen Niklas ins Wesenlose zu bannen. Er versuchte ihn mit deutscher Geduld in seine Bestandteile zu zerlegen und ihn dadurch abzutun. Aber jedesmal war das Phantom wieder da; drang auf eine rätselhafte Verständigung; kam von allen Plätzen der Erde zugleich; trug dasselbe viel zu alte, viel zu mechanische Lächeln am dünnlippigen Mund – ein Lächeln, das dem der Mittagssonne auf Bahnschienen oder auf endlosen Messinggeländern glich. Überall blitzte es mit tödlicher Einförmigkeit; sein Stumpfsinn lastete betäubend auf dem Herdenantlitz aller Massen.

Es war unmöglich, irgendeine Deutung hinter diesem Ausdruck zu finden; entweder war es Resignation des 23 Durchschnitts; Fratze der Unterwürfigkeit – oder es war die einfache Torheit eines Gassenjungen, der nie auf Güte trifft, sondern immer nur auf die abstumpfende trockene Hetzpeitsche des Broterwerbs.

Von dieser Zeit ab spürte Gerhart die erwachende Unruhe.

Er ward sich bewußt, und zum erstenmal mit aller Deutlichkeit, daß zwei verschiedene Stimmen in ihm sprachen.

Die Grenzen Deutschlands verwischten sich wieder für ihn; was das Deutsche nach Rasse und Sprache von anderen Völkern trennte, wurde überspringbar; ein Buch in fremder Sprache – und Sprachen fielen ihm wie seinem Vater leicht wie Spielerei – veranlaßte ihn nicht bloß zu den lebhaftesten Tagträumen, sondern brachte ihn sogar dazu, Menschen und Dinge, die ihm von Natur aus heimisch und selbstverständlich erscheinen sollten, mit den Augen des Auslands zu bewerten.

Vachells »Hill« drängte ihn stürmisch nach Gemeinschaft mit dem Kreis von Harrow; seine deutschen Lehrer muteten ihn an als unfreie Gesellen, deren ganzes Benehmen am Asthma der Überbürdung mit unverwendbarem Wissen litt. Es fiel ihm schmerzlich auf, daß sie ihre körperliche Reinlichkeit nur zu gewissen Grenzen trieben; daß Erziehung bei ihnen Theorie war und dumpfe Pultangelegenheit, nie aber ein freundschaftlicher Schlag auf die Schulter von einer Hand, die vielleicht besser mit dem Kricketstock Bescheid wußte als mit Kalligraphie.

Hatte er es längere Zeit mit romanischer Lektüre zu tun, so fiel ihm die Schwerblütigkeit, die mangelnde Grazie der teutonischen Männer doppelt auf.

Den Herrn mit den braunseidnen Rockaufschlägen – ja, den ließ er noch gelten. Aber er drängte ihn weiter nach hinten in die Kammern seiner Seele; dort gab er ihm ein Postament; dort beließ er ihn. »Es ist immer noch Zeit,« dachte er, »auf ihn zurückzukommen, wenn ich gerade in der Laune bin . . . Schwere Schätze sind da vorhanden; aber wie zähflüssig! Wie beklemmend zähflüssig!«

24 Im Vordergrunde seiner Seele tummelte sich buntes Volk, sie verdeckten mit ihren farbigen Gewändern das strenge Gesicht dessen in der Nische; mit diesen abgeschlossenen Zügen war keine Vertraulichkeit möglich.

Statt seiner trat ein Mann hervor, zwar äußerlich steif, doch bei einem Glase Wein schnellster Witzworte fähig; ein Mann, der an Schwermut litt, aber lachte; ein Mann, der überreich vom »Ungenützten« war, und den doch vornehme Scheu hinderte, es auszuspenden; den ein lebenslanges Heimweh trieb, ohne daß er wußte wonach und wohin . . . Der hatte nie einen Vers gelesen; selten ein Buch beendet; schwere Musik als bedrängend empfunden. Er war durch und durch Mensch . . . Aber du, erhabene Vollkommenheit, ruhe nur weiter auf deinem Postament; glänze spätesten Geschlechtern! Pflege deine Starrköpfigkeit; bewahre dein köstliches »Gleichgewicht des Innern«; verwalte dich weiterhin selbst, du deutsche Seele; niemand wird dir dein Verdienst nehmen! Und niemand wird dir die Genugtuung neiden, bei lebendigem Leibe klassisch zu verknöchern!

Ich stehe mit einem Fuße außerhalb; mir ist es nicht beschieden, ganz deutsch zu sein. So glücklich es mich machen würde: ich kann mich nicht auf das Deutschtum beschränken. Andere Stimmen dringen zu mächtig auf mich ein.

Ist es – Chile? – Ach Gott, was jenes Volk anlangt, so hatte Dolores recht, wenn sie nie vom ersten Stock herunterkam, wenn die Eltern im Erdgeschoß Besuch empfingen . . . Auch mir graute vor jenen Papageienstimmen. »Überlaß sie sich selbst,« sagte der Vater einmal – »und übermorgen sitzen sie wieder auf den Bäumen . . .«

Spanien –? Muffig, unausgelüftet, voll von totem Prunk! Der Blasebalg, der Leben in diese Gesellschaft pumpen könnte, hat Löcher und Risse . . . Und wenn man ihn treten könnte – wo nähme man lebensfrische Gedanken her, um ihn zu füllen –? Jene Menschen sind wie die Fassaden ihrer leeren Paläste, in deren Hinterzimmern sie 25 hausen; würdig, aber hohl . . . Sie riechen zu sehr nach Alter. Wenn ich siebzig bin, wird es mir vielleicht Spaß machen, zwischen den Kulissen jener bunten Tradition friedlich zu vermodern. Aber dafür bin ich nicht geschaffen, mich bei jungen Jahren im achtzehnten Jahrhundert zu begraben . . . Wohin zieht mich also die andere Stimme? Woher kommt mir dieser tiefe, dieser fragwürdige Ansporn, zu wandern, zu suchen, die Seele fremder Rassen zu belauschen?

Irgendwo, dachte er fieberhaft, irgendwo gibt es einen Platz, ein Volk, aus dem mir jene Stimme wie eine brausende Begrüßungssymphonie entgegenschallen wird – wo ich hören werde: Sei gegrüßt, du gehörst zu uns; wir haben auf dich gewartet; wir wußten, du würdest kommen!


Wieder und wieder, in seinen Träumen, traf er den Vater.

Dieser ging rastlos durch Schiffskorridore; seine Sohlen knarrten einen schnellen sehnsüchtigen Takt auf endlosen Läufern. Er schritt steif und scheinbar zielbewußt durch den Asphaltdunst fremder Städte an Gerhart vorüber; sein Stockgriff funkelte; seine Augen unter der Panamakrempe schienen halb erloschen . . . Er blinzelte den Sohn vertraulich an und zog die Brauen in die Höhe, so als sei ein wortloses Einverständnis zwischen ihnen . . . Oder er lag, wie vor alters, auf den Polstern von Luxuszügen während brausender Fahrten ins Schwarze und starrte in halbverdeckte Ampeln. Bei alledem – so dünkte es Gerhart – schien ein Gespenst an des Vaters Fersen geheftet, dem er, ohne Hoffnung, zu entkommen sich mühte.

Es war ein kaum greifbares Gespenst. Es nahm verschiedene Formen an . . . Etwa war es eine Leere im Gedränge wie eine kleine kreisende Wüste –, oder es war das Echo eines Schluchzens, dessen Ursprung dunkel blieb, zwischen widerhallenden Gassenwänden.

26 Einmal glaubte er den Vater zu sehn, wie er eine langem Reihe von Rohrjalousien hinunterschritt. Sie bewegten sich wechselnd in einem totenstillen Wind . . . Der Vater suchte nach einem bestimmten Fenster und fand es nicht. Die Sonne brütete . . . Der Mann kehrte um, scheinbar gleichmütig; doch aus seinem gehetzten Blick sprach eine tödliche Sucht nach Kühle. So schritt er auf und nieder, vielleicht seit Äonen; und die Schatten der Dinge, tiefschwarz, behielten dieselbe Länge und dieselbe Breite, als sei etwas eingeschlafen; als sei etwas ungeheuer Wichtiges, Lebenspendendes ganz erstarrt . . . Mit Herzklopfen fuhr Gerhart empor.

In der Stille des Schlafraums verdämmerte die Grimasse eines Tieres.


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