Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Das Huhn

Er erreichte den Weg, der den Strand entlang führt, und schritt behende gen Apia. Sein Gang hatte etwas Aufgeräumtes; denn sobald er sich außerhalb der häuslichen Sphäre, mithin auch aus der Klangweite von Tais Stimme wußte, war eine allumfassende herzliche Leutseligkeit an ihm bemerkbar, die ihm ein ganz anderes Gepräge gab. Das blühende Sonnenlicht ließ seine Kleidung von ferne adretter erscheinen als sie war, sogar noch in Grußdistanz; trat man freilich näher an ihn heran, so bemerkte man, daß sein forscher Schritt eigentlich mehr Wirkung der Schwerkraft war als etwa Muskelarbeit an strammen Schenkeln. Auch sah man, daß der dürre Mensch seine Geschwindigkeit der Maßlosigkeit der Knochen und dem Schwund aller Fettsubstanz verdankte, so daß er von der morgendlichen Brise gleichsam vorwärts geweht ward.

Immerhin, er ging gut in seinen Stiefeln, von denen der Glanz längst abgebröckelt war, und unterschied sich in nichts von einem Mitteleuropäer, der andere Mitteleuropäer soeben aufsuchen will, vermutlich in profitlichen Geschäften, die man munter anpacken muß. Als er den Kricketplatz vor 55 der katholischen Kirche überschritt, schob sich der englische Konsul auf seine Gartentür zu.

Dieser dauerhafte kleine Mann trug einen schwarzen breitkrempigen Filzhut und sah aus wie ein Pilz. Er hatte drei Regierungswechsel erlebt und war demnach verschlossen und stumm wie eine vergrabene Kassette. Er war einer der Ältesten am Platz, ging immer zu Fuß, und die wenig schwankende Temperatur der Inseln sowie ein fußlanger Mantel, den er selten abtat, befähigten ihn ohne Zweifel, drei weitere Regierungswechsel zu überleben.

Grothusen, wiewohl schon fast zwanzig Jahre hier, war demnach immer noch ein Neuling für den englischen Konsul. Versuche, mit ihm in Beziehung zu treten, waren an der unveränderlichen Verschlossenheit des kleinen Greises gescheitert. Grothusen grüßte ehrerbietig und machte trotz des geräumigen Weges einen halbkreisförmigen Schritt auf die Seite. Für diesen Augenblick war er Clerk.

Der Konsul deutete schwach nach der Pilzhaube; in seinen engstehenden erloschenen Augen regte sich nichts. Daß er die Absicht hatte, einen hörbaren Laut von sich zu geben, ließ sich höchstens daraus vermuten, daß der Unterkiefer in eine mahlende Bewegung geriet.

 

Grothusen grüßte gern; er grüßte lärmend, wohlwollend; oder er grüßte offiziell, mit gedämpfter Hast. Heute grüßte er, wen er traf; der festliche Tag schwellte sein Gemüt. Heute würde man ihn, so war er sich klar, zweifellos verwöhnen; ach, er wollte einmal vergessen, daß es eine Tai, eine samoanische Häuslichkeit und Kanaker auf der Welt gab, die Ansprüche stellten, ihn aussogen und ihm Nadelstiche versetzten!

Der Tag war, wie fast jeder andere, prangend und bunt. Doch schien es Grothusen, als bemerke er irgendwie eine besondere Note in der Umgebung: etwas weniger Träges, etwas weniger Sattes, Anheimstellendes, als sonst; als erschienen die Stimmen der spielenden Kinder nicht mehr 56 kreischend, sondern lieblich wie Gezwitscher; und als sei das »Talōfa!« der ihm begegnenden Leute von einer schmelzenden, geradezu vertrackten Freundschaftlichkeit.

»Das sind meine ›Kinder‹!« dachte Grothusen, wenn die Leute ihm zeremoniell entgegenpilgerten und er die strammen bebenden Waden sah mit ihrem goldigen Braun. Der Häuptling von Solosolo, in einem Schwarm von jungen »Bullen«, war soeben an ihm vorübergewallt. Er hatte breit und schier sinnig gelächelt, während er den Blick auf die auffallende weiße Narbe am Bauche, dicht oberhalb der Schamtätowierung, senkte. Diese Narbe hatte eine Geschichte, die Grothusen erheiternd durch den Kopf ging. Er lächelte verschmitzt-mitwisserhaft und sah nach der Gruppe zurück; er sah das weich und wuchtig gleitende Spiel der nackten Rücken und Gesäßmuskeln, die ruckweise unter den Hüfttüchern auf und nieder stiegen, bis das alles hinter der nächsten Wegbiegung verschwand.

Eine einzelne Stimme, in zitternder Fistel und rapid herabsinkend, intonierte ein Lied, und die »Bullen« fielen, nach fünf Takten, inbrünstig mit einem sonoren Refrain ein. Orgelhafte Akkorde erklangen, immer traumhafter, immer gedämpfter, bis nur mehr das Gedächtnis an ihren Rhythmus im Lauscher lebendig blieb.

Der englische Konsul trat aus Grothusens Hirn zurück wie ein unlauterer Zwerg, der ihm irgend einmal am Rand des Weges gedroht hatte; ein Mann, der eigentlich nur Wert besaß durch den Schabernack, den man bisweilen mit ihm trieb . . .

Grothusen preßte die Lippen zusammen und knöpfte die Jacke zu. Munter schritt er weiter, an dem Kohlenschuppen vorüber, und sah mit seinen kurzsichtigen Augen vor sich hin auf den Weg. Über dem großen Hügel von nachlässig aufgeschütteten Kohlen, unter dem Schatten breiter Mangobäume hervor gleißte es stumpf wie schmelzendes Metall, 57 schaukelten die verankerten Dampfer und Zweimaster wie zarte Schatten, die gleichwohl zum Greifen deutlich ihre vom Spinnweb der Taue umstrahlten Maste und ihre kelchartig gespaltenen Löschkräne in die flimmernde Luft hoben. Die Bucht öffnete sich bis Mulinuu, bekränzt vom Weiß der Häuser, das in einen Gürtel wimmelnder Palmen hineinkroch, und hinter dem allem, mächtig und unbezwungen, dunkelte der Urwald.

An Grothusens Hirn, wie immer, prallte der Farbenreiz dieses Panoramas ab, sein Sinn war auf Faßbares eingestellt, auf Naheliegendes. Mit zugekniffenen Augen gelangte er an die Vaisigano-Brücke, und hier war es, wo er Petina traf. Er traf nicht Aug' in Auge mit ihm zusammen, denn der Sohn machte, als er den Vater auftauchen sah, ein paar scheinbar indolente und sonnentrunkene Schritte auf die Seite und hing sich mit geknicktem Leib über das Geländer, am Stengel einer Puablüte kauend. Er kehrte dem kurzsichtigen Vater die mit einem blauen Lavalava bekleidete Rückseite zu; gleichwohl aber erkannte Grothusen sein eigen Fleisch und Blut. Er blieb stehen und schrie wie ein Sklavenhalter: »Ferdinand!«

Petina schob das schmalwangige Gesicht mit der baumelnden roten Blüte darin über die spitz emporgehobene Schulter. Seine langen schwarzen Augenritzen drückten keinerlei Interesse aus. – – Dann, als er die Stellung und den Blick des Vaters wahrnahm, kam ein schwacher Grad von Straffheit in seine aufgelösten Glieder; er fingerte an der Blüte, und seine Augen wurden scheu.

Grothusen stand spreizbeinig vor ihm und stemmte den Schirm vor sich hin. Petina wußte, daß etwas Halbverständliches, aber immerhin Bedrohliches im Anzug war. Er sollte Rechenschaft ablegen, und das war etwas, wofür die Landessprache nicht einmal ein Wort besaß. Der Vater pflegte, wenn er zornig war, korrektes Deutsch zu sprechen 58 und dabei allerlei neue befremdliche Begriffe in die Unterhaltung einzuflechten.

»Spuck das Ding aus, wenn dein Vater mit dir spricht!«

Die Blüte fiel herab.

»Stell dich anständig hin! Himmel, was ist das überhaupt für eine Haltung!«

Der Junge löste sich vom Geländer. Sein schmales Gesicht wurde dumm und leer. Er blinzelte die lichtumflossene steifleinene Figur an, die, mächtig vor ihm aufgepflanzt, sein Geschick bestimmte – wenigstens immer dann, wenn er allein mit ihr war.

In solchem Falle glich Petina einer Saite, die wohl schwirrte, wenn man sie anstieß, aber nie einen Ton zurückgab. Wenn Grothusen sich in kampflustiger Laune befand, so war ihm dieser Mangel an Resonanz peinlich. Er wußte genau, daß Petina sich in Tais Nähe heftige Erwiderungen erlaubte; daß die Mutter stets bereit war, den Knaben in Schutz zu nehmen. Faßte er aber seinen Sohn allein ab, war eine Situation gegeben, wo er ihn prügeln konnte, ohne daß das halbe Dorf gegen ihn Partei nahm – so gab ihm Petina einfach keinen Anlaß dazu, indem er schwieg. Grothusen hatte eine dumpfe Vorstellung davon, daß seine Pflicht als Vater dieses Menschen es ihm auferlege, Erziehung zu üben, und unter Erziehung verstand er immer etwas Aggressives.

Mit hervorquellenden Augen, die roten Brauen leidend zusammengezwängt, schrie er:

»Wo warst du wieder heute nacht?«

»Bei Samusamu,« kam nach einer Weile ein Atemzug zurück.

»Schämst du dich denn nicht? Bei dieser Familie hast du wieder geschlafen? Weißt du denn nicht, daß sie unter deiner Mutter steht? Donnerwetter, wie oft muß ich dir sagen, daß du das nicht nötig hast!«

Petina schwieg und schluckte.

»Und deinen Vater vernachlässigst du! Nie bist du da, 59 wenn man dich braucht! Von heute ab schläfst du wieder zu Hause! Hast du mich verstanden?«

»I,« hauchte es zurück. Und dann, sehr schnell und plappernd, auf samoanisch: »Wir haben gesungen. Der Misi Etimano hat neue Lieder gebracht, und wir haben bis zwölf gesungen. Und dann war es sehr spät, und ich kam nicht zurück. Die Mutter hat schon geschlafen, und du hast auch schon geschlafen.« Petina war des Erfolges so sicher, daß er sich bückte, den Stengel aufhob, weiterkaute und den Vater erwartend ansah, die Brauen in die weiche Stirn geschoben. Die Erklärung traf jedoch in ein Pulverfaß.

Grothusen riß ihm die Blume aus dem Mund und drückte ihn an das Geländer. Petina schützte sich mit dem Ellenbogen, doch half es nichts; denn der Vater schnarrte ihm ins Gesicht: »Bis zwölf habt ihr wieder geplärrt! Natürlich, und der liebe Gott kommt nicht zur Ruhe! Donnerwetter, ist es nicht genug, daß bei uns zu Hause schon gebetet wird! Was deine Mutter und deine Großmutter zusammenplärren, ist genug, um das Seelenheil von allen Kanakern auf der Welt zu retten! Schulaufgaben hätten dir besser genützt! Und nun meinst du, du kannst mit Plärren etwas nachholen! Großer Gott, Mensch, reiß dich zusammen und werde endlich ein Mann!« Grothusen schrie markig. Er sprach mit korrektem norddeutschem – schier hamburgischem – Akzent, eine Sache, die stets geeignet war, Petina gänzlich einzuschüchtern und zu verdonnern. Denn Petina schwatzte meistens samoanisch und fühlte sich an seine erfolglos verlaufenen vier Jahre in der Regierungsschule erinnert, wenn man ihn deutsch ansprach. Es war etwas Hehres um jene Sprache – das hatte man ihm zur Genüge erläutert –, etwas Gewaltiges; aber er konnte es nicht hindern, daß sie ihn feindlich berührte, weil sein Hirn allen abstrakten Begriffen hoffnungslos widerstand. Er schwieg und blinzelte.

Der Vater hieb ihm mit dem Schirm an die Beine.

60 »Und jetzt mach, daß du nach Hause kommst und sag der Mutter, sie soll ein Huhn für heute mittag kochen! Verstehst du? – – Was soll die Mutter kochen?«

»Ein Huhn,« stammelte Petina.

»Marsch!« schrie Grothusen und vergewisserte sich, daß Bewegung in Petina geriet.

Dann schritt er weiter.

Mit Genugtuung dachte er daran, daß er auch dem Sohne seinen Geburtstag verheimlicht hatte und an die Wirkung, die sein extravaganter Befehl haben werde. Tai würde wahrscheinlich streiken – denn ein Huhn war zurzeit Luxus bei ihr –, und er hatte, für später, neues Material, um sie klein zu machen. Nach dieser boshaften Abschweifung dachte er mit weniger Vergnügen an seinen Sohn, so etwa wie man an ein nützliches Möbel denkt, dessen altgewohnten Gebrauch man verliert.

Die Sache war die, daß Grothusen auf die ›London Mission‹ ohnedies nicht gut zu sprechen war. Sorge für das Seelenheil des halbwüchsigen Halfcastes sprach weniger bei dieser Abneigung mit. Da er vom Innenleben Petinas nicht viel hielt, so genügte es ihm, wenn man es christlich beeinflußte. Doch die in Frage stehende Glaubensgenossenschaft war ihm fatal; man wird später inne werden, warum. Im besonderen war ihm dieser Missionar Edmund, ein eingeborener Hilfsprediger, gründlich zuwider.

Er hieß Sevāo und hatte Sprecherrang in der Familie des Schwarzen Schweines. Dies war der männliche Zweig der Sippschaft Tais; und Sevāo hatte bereits die Familiengüter, die sich noch in Apia befanden, der ›London Mission‹ zugeschanzt. Der Entgelt hatte – zur unauslöschlichen Schadenfreude der weiblichen Linie, also Tais und Grothusens – mehr aus himmlischen Anteilscheinen und Kalikos, als aus barem Geld bestanden. Als hohe Taupou besaß Tai Verfügungsrecht über den Nachlaß des Braunen 61 Schweines, nämlich ihre Pflanzung von 200 Ackern und zwei Hütten; doch nur so lange, als sie unverheiratet blieb. Grothusen wußte, daß die Mission es sich angelegen sein ließ, Tais Verlangen nach Heirat und kirchlicher Habilitierung verschmitzt zu nähren. Ein Hauptschachzug war, daß sie ihr das Abendmahl verweigerte. Aber Grothusen war weit entfernt, sie zu heiraten! Den Teufel auch, es war viel bequemer so! Er wußte schon, daß sie gegen ihn wühlten und nach der Taro- und Brotfruchtpfründe schielten; und daß sie sich allmählich Petinas versichern wollten, um ihm die traurige Immoralität des elterlichen Lebenswandels zum Bewußtsein zu bringen!

Aber er, Grothusen, fiel nicht aus dem Rahmen! Breit saß er da und ließ sich nicht vertreiben! Starrköpfig saß er da mit seiner goldenen Brille, und die Kanaker tanzten nach seiner Pfeife!

Er hatte die Fäden in der Hand!

Tai war an ihn mit ihrem dumpfen Pflichtbewußtsein geschmiedet; denn er hatte dafür gesorgt, in Zeiten, wo sie jünger war und abzuspringen drohte, daß sie immer schwanger blieb. So hatte er sie an der Kette einer demütigenden und abstumpfenden Mutterschaft kurz gehalten. Und jetzt gewann der Zustand durch ihr Alter die unverletztliche Sanktion, die nur die Zeit verleihen kann. Und immer hoffte sie noch auf Heirat, und das war gut so. Solang sie hoffte, war er Meister.

Nur war es ihm fatal, wenn die englischen Herren ihm durch ihr Werkzeug Sevāo in die schwebende Politik hineinpfuschten.

Dann besann sich die Frau; dann kam ein ekstatischer Zustand über sie, eine Mischung von Fanatismus und Entäußerungssucht; zu gleicher Zeit wurde sie befehlshaberisch und kampfbereit, erinnerte sich ihrer Rechte, tat den Born einer unerschöpflichen Suada auf und machte 62 ihm das Leben zur Hölle. Es war nicht möglich, solche Stimmungen auszurotten; aber seltener machen konnte man sie. Sie flammten jedesmal wieder auf, sobald eines der Kinder die latente Religiosität der alten Frauen aufstörte; daher Grothusens Wut über Petina und die neuen Lieder des Misi Etimano.

Er knirschte mit den Zähnen. Die Zeiten durften nicht wiederkommen, wo Tai ihn mit dem Besen um die Hütte herumjagte, wo er um des Friedens willen klein beigab und krebsrot am Schnurrbart kaute; wo ihm ein Gemisch von Whisky und Scham im Busen brannte. Zuviel kleine Menschlichkeiten und – er gestand es ungern zu – auch Verpflichtungen fesselten ihn an das samoanische Weib – – soweit er geneigt war, die Belastung mit neun Kindern – und zwei davon lebten noch – als Verpflichtung anzuerkennen. Er mußte sich von Zeit zu Zeit als den Herrn zeigen, und heute war er entschlossen, wieder einmal einen wuchtigen Trumpf nach dieser Richtung auszuspielen. Er streckte die Faust aus, so daß der alte Leinenanzug unter der Achsel krachte.

 

Diese Geste sah Petina noch, der mittlerweile an das Ende der Brücke getrabt war, es nun aber für weiser hielt, anzuhalten. Er war an unverständliche Befehle des Vaters gewöhnt, und es war zu bezweifeln, ob ihre Ausführung immer nützlich sei. Nur wo sie von Gewaltanwendungen unterstützt wurden, schien es ratsam, sie auszuführen. Zum Beispiel war man folgsam, wenn man Stiefel reichen, einen Knopf annähen oder ein reines Hemd ausfindig machen sollte. Denn trotzte man dann, so wurde die leichte Mühe, die das Abreißen des Lavalava kostete, und das Vorhandensein eines handfesten Mautofustockes in der Nähe des nackten Sitzteils zu einem bedenklichen Faktor. Erstreckten sich aber die Befehle auf das dämmerhafte Gebiet allgemeiner Winke, wurden sie somit zur Frage von Tagen oder Wochen, so hatte die Praxis ergeben, daß man sie am klügsten vergaß.

63 Wie es sich nun mit dem Huhn am Mittag verhielt, wußte Petina zunächst nicht recht. Der Befehl war neuartig und der Vater noch nüchtern. Er war eine Sache von Stunden.

Petina befand sich im Zwiespalt, und er beschloß, das Huhn wenigstens zu erwähnen, wenn er nach Hause kam.

Wie er so dastand, schien er nicht dazu angetan, sich »zusammenzureißen« oder ein »Mann« zu werden. Wenigstens versprach sein Äußeres vorläufig noch wenig davon. Was Grothusen bei dieser Sentenz vorgeschwebt haben mochte, war vielleicht ein großer Pa‘alagi, ein bronzefarbener blonder Riese, der vertrug, was er trank, mit dem der Gouverneur sprach, wie mit seinesgleichen, und der noch gröber schreien konnte, als es der Vater vermochte. So dachte Petina. Seine Vorstellungsgabe versagte bei dem Worte »Mann«. Vielleicht fing der Mann schon an, wenn die Missionsmädchen einem Blüten ins Gesicht warfen, oder wenn man Sonntags Hosen anzog und sein Bedürfnis nicht mehr auf dem offenen Strand verrichtete, sondern zu diesem Behufe in die Pflanzung ging.

Petina hatte einen hellolivfarbenen weichen Körper. Wiewohl schlank, schien er nicht sehr kräftig und hatte Bewegungen wie ein müdes Tier. Keine Spur von jugendlicher Frische war an ihm. Wenn er unter Eingeborenen hockte, war er kaum von ihnen zu unterscheiden; höchstens dadurch, daß er um einen Schatten heller gefärbt war als die meisten.

Seine Hand war schmal mit langen Fingern. – Überhaupt besaß er eine feine Knochenbildung. Wenn er raufte, zog er den kürzeren; zumal da er nie aus Streitlust oder echtem Zorn eine Prügelei einging, sondern weil er kitzlig war und sich gern herumrollen ließ wie ein junger Hund.

So machten es alle Knaben; Blut floß selten, wenn sie sich bissen oder boxten; ein anfängliches Wutgezeter pflegte sich in atemloses Gelächter aufzulösen.

Petinas Gesicht war eine seltsame Wiederholung von Tais Zügen. Es hatte breite Backenknochen, stumpfe Nase und 64 einen hervortretenden unfertigen Mund, dessen Lippen stets nach einer Beschäftigung zu verlangen schienen. Nur war alles darin, was bei Tai von erfahrungsharter Würde sprach, bei ihm noch weich, im Keim. Wenn er lächelte – er tat es gern –, zeigte er breite, trockene, weiße Zähne. Die dichte Haarkappe, die er trug – roßhaarstarke Strähnen von glanzlosem Schwarz – bedeckte mit polsterartiger Wölbung die weichgekrauste Stirn und die schön gezeichneten Brauen. Sie gab ihm etwas Verschlafenes; die Augen darunter, weich geschlitzt und moorbraun, waren ahnungslos. Er pflegte sie häufig zusammenzukneifen, als ob er kurzsichtig sei.

Eine Weile stand er noch ans Geländer gelehnt. Dann turnte er träumerisch hinüber und begab sich ins Wasser. Er tat es so langsam und selbstvergessen wie eine Krabbe, die vom Sand herab in die Flut spaziert und dabei nicht einmal zu merken scheint, daß sie ein Element mit dem anderen vertauscht . . .

Der Abfluß des Vaisigano hier unter der Brücke war so träge, daß er einen Teich erzeugte, der an den Abenden vom Aufruhr vieler Badenden und von den Wäscherinnen lehmbraun gefärbt ward. Heute jedoch war das Wasser noch klar, denn Petina war der erste. Er lag ruhig auf dem Bauch; sein Hüfttuch blähte sich als kleiner Ballon und trug ihn wie einen Kork. Unter ihm, über verschleimte Korallenstümpfe, zogen kleine kobaltblaue Fische. Petina verhielt sich still wie ein junges Flußschwein; zuweilen spie er Wasser aus. Seine schiefen vergnügten Augen waren das einzig Lebendige an ihm; nur wenn er von der Brücke herab von spärlichen Passanten angerufen wurde, kam er in Bewegung. Die Sonne stach bereits mit Macht; es war an zehn Uhr, und die abgescheuerten Tropenhelme, die Petina dort droben knapp über dem Geländer vorüberschweben sah, wurden immer häufiger. Am Meer, zwischen den Riffen bei Mulinuu, kam ein großer Segelschoner herein; und der Motor des patrouillierenden Hafenbootes 65 surrte wie eine große morgenfrische Biene. Vom Schoner pfiff es dreimal, sehr scharf und gellend.

Petina wandte den Kopf. Dann trat er auf den Grund und holte sich seine Armada, die unter den Luftwurzeln eines Mangrovebusches verankert war. Es waren zwei Dreimaster aus Kokusfasern und ein Kriegsschiff: das Wrack einer Zigarrenkiste.

Petina führte eine Kollision herbei und summte dabei das Lied von dem Häuptling Laiafi, der seine zehn Freundinnen im Stiche ließ, um die Taupou von Solosolo zu heiraten. Es war eins der unzähligen, mit reichem Refrain bedachten Liedchen, die er in den Hütten seiner Bekannten erlauscht. Sie entstehen und vergehen wie die roten Strauchblumen, die nach wenigen Wochen dahinwelken trotz ihrer einschmeichelnden Pracht, um neuen Platz zu machen das liebe Jahr hindurch; und es handelte von eben jenem Laiafi, dem Grothusen in der Morgenfrühe begegnet war, und dessen Anblick auch Petina hatte genießen dürfen.Das Lied vom Lai-afi ist nach sam. Text wiedergegeben.

»Der Rücken schmerzt mich, das Herz hat Kummer,
Das Ohr erklingt mir von schlechter Kunde!
Oft schicktest du eitle Liebesschwüre:
Nun tu und lasse, was dir beliebt!

Morgen am Montag
Kommen wohl wieder zwei eitle Briefchen
Mit dem Bescheid von Meafaifua:
Hab deinen Willen,
Und tu und lasse, was dir beliebt!

O schlechter Laiafi!
Du jammerst nach einer Häuptlingstochter:
Hast breite Wahl doch an hübschen Mädchen:
Ach freilich, nur niedren Samoadirnen!
Drum tu und lasse, was dir beliebt!

Ach weh! wir erkennen:
Zu spät bemerkt ist's; zu spät die Reue! 66
Doch insgesamt springen wir bei der Abfahrt
Zu dir aufs Schifflein, dich zu ersäufen:
Dann tu und lasse, was dir beliebt!«

Gerade als die zehn Frauen gemeinsam ins Wasser sprangen und auf den Treulosen, als mithin auch die zwei Dreimaster in dem Gischtwirbel von Petinas Handfläche untergingen –, kamen droben auf der Brücke zwei Kontraktarbeiter, »schwarze Jungens« von Buka, vorbei. Sie waren stockdürr, schieferschwarz und rauchten Calabash-Pfeifen. Sie lehnten sich über das Geländer und betrachteten Petina. Plötzlich sagte der eine verschmitzt:»Big fellow ship – make plenty bum-bum – make all house belong withemen finish!«

Petina lachte beglückt auf. Sein herzförmiges Gesicht war eitel Seligkeit. Die beiden Schwarzen grinsten; uch! wie konnten sie grinsen! Der eine schrie rauh: »Lele‘i kama‘iki Kotūsa! Plenty ka‘ele!»Brav ist Grothusens Junge! Badet reichlich!« (Mischung aus ›Pidgin‹ und Samoanisch.) Dann wanderten sie, einander umschlingend, im Gleichschritt weiter. Vor dem Warenschuppen der Hamburger Firma harrte ihrer ein Stapel Balken, den sie umzuladen hatten. Das war eine anheimelnde Beschäftigung für die nächste Woche; und sie beeilten sich nicht.

Petina wiederholte das krause ›Pidgin‹ andächtig für sich, und während er jetzt herausstieg und sein nasses Hüfttuch ausquetschte, lachte er noch mehrmals vor sich hin, so innig, daß es wie Schluchzen klang. Er begab sich auf den Heimweg, schob sich an den weißgestrichenen Zäunen vorbei, neckte den Hund des englischen Konsuls – eine übelwollende, zottige Bestie, deren Charakter vom Klima gelitten hatte – und befand sich endlich auf der Wiese vor der mütterlichen Hütte. Schon in einiger Entfernung vernahm er eine nörgelnde hohe Stimme und wußte, daß Maggie, seine Schwester, zugegen sein mußte. 67


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