Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Bruchstück eines Briefes

Montag.

Dieser Brief, Dolores, ist nach der Schweiz gerichtet und wird deshalb wohl noch keine ablenkenden Erlebnisse unterwegs erfahren. Ob ihr in Deutschland bleiben werdet? – Aber soweit ich unsere Mutter kenne, wird sie sich nicht von Wiesbaden rühren; und selbst ein Weltkrieg wird in bedrohliche Nähe kommen müssen, ehe sie die Qual eines Umzugs auf sich nimmt . . . Teile ihr bitte mit, ich würde vorläufig nach Chile gehen, und von dort aus wenn möglich nach Vigo.

Einstweilen bin ich hier festgesetzt und warte auf eine Gelegenheit, mich zu entfernen. Das ist nicht so einfach, denn wir haben bisher nur die»Manua« von der Oceanic Steamship Co. hier gehabt; und der amerikanische Konsul hatte nichts Gescheiteres zu tun als sie wegen eines kranken Niggers in Quarantäne zu erklären. – Es ist zweifelhaft, ob sich unsere Verbindungen mit der Außenwelt nicht ganz auf das Postmotorboot nach Tutuila beschränken werden, das jetzt schon unregelmäßig kommt. – Mein Freund und Herbergsvater, der alte Carlson, hat sich anerboten, mich rechtzeitig zu benachrichtigen . . . So habe ich nichts zu tun als Grillen zu fangen, samoanische Grillen von einer besonders lauten und unangenehmen Sorte –, und auf dieses Motorboot zu warten; diesen Brief nehme ich dann gleich in Person mit an Bord.

273 Im Juli umwanderte ich die Insel Sawaii in Gesellschaft eines Menschen aus Hamburg. Er war rothaarig und zu Radomontaden geneigt; hatte jedoch eine gewisse groteske Art an sich, die mich amüsierte. – Kurz, ich sehe den Juli nicht als verloren an. – Kaum war diese Wanderung beendet, als der drahtlose Apparat begann, seltsame Zeichengruppen zu ticken. Irgendwo im Westen hatte eine mächtige Bestie aufgebrüllt. Die Tonwellen richteten Verwüstung in den fernsten Empfängern an. Erinnerst Du Dich, wie der Seismograph in Valparaiso einmal von einem einzigen Erdstoß in Valdivia zertrümmert wurde? – – In der kurzen Zeit seines Bestehens fing der »Drahtlose« hier das Gewisper ungeheurer Gerüchte auf und bebte von Sensationen. Sie kamen Schlag auf Schlag. Er verdaute und gab sechs kompakte Kriegserklärungen auf einmal ab; und das Resultat war ein Hühnerstall bei Feuersbrunst.

Das Bild, das unsere Halb-Landsleute hier in Samoa boten, war in den Augen eines Weltkundigen nicht erbaulich. In den bisherigen Stumpfsinn ihrer Lebensführung kam eine unbeherrschte Note. Man ließ die Pflanzungen in den Händen unbeaufsichtigter Kontrakt-Chinesen – die sich natürlich sofort aufs Glücksspiel und die Auffrischung alter Scherze mit dem Messer verlegten – und strömte in Apia zusammen. Von überall fanden sich die Herren ein; und die fleißig mit Bier und dem beträchtlichen Restbestand an Spirituosen genährte Konfusion fraß um sich wie ein epidemischer Tropenkoller. Die letzten heroischen Versuche einiger Leute, bessere Manieren, ja Rücksichtnahme zu erzwingen, wurde durch diese Panik erfolgreich unterdrückt. Kaltes Blut; Humor – unsere »vagueness« – gehören nun einmal im entscheidenden Augenblicke nicht zu ihren Eigenschaften. Das Ellenbogen-Regiment, unter dem man letzte Schäfchen ins Trockene raffte, wurde derart unerträglich, daß ich – natürlich ein ausgemachter »Spion« mit fragwürdigen Existenzquellen – mich hierher in die Berge zum alten Carlson 274 zurückgezogen habe. Ich wäre vielleicht trotzdem unten geblieben; aber ein weiterer Grund für meine Abwesenheit ist: – ich will vermeiden, daß mein Gesicht da unten zu populär wird. Auf diese Weise wird es weniger auffallen, wenn ich mich einschiffe.

 

Mittwoch.

Kaum kam ich von Sawaii, so erhielt ich ein Schreiben aus dem Gebäude der Zivilverwaltung, worin in knapper Wortfolge vermerkt stand, ich hätte mich »baldmöglichst zum Zweck meiner Identifizierung usw. auf Amtszimmer soundsoviel einzufinden«.

Ich geriet, nach Erklimmung einer Treppe in der phantasielosen Holzbude, in einen großen kahlen Raum. Ein Mensch mit glattgeschorenem Schädel bedeutete mir, der Geheime Regierungsrat von – ich habe den Namen nicht gegenwärtig – werde in ein paar Minuten erscheinen. Es wurde eine halbe Stunde daraus. Ich setzte mich aufs Fensterbrett und blickte auf die Straße herab, die seit Kriegsausbruch stärker als gewöhnlich von Samoanern und arbeitslosen Chinesen belebt war.

Ein messerscharfes Räuspern ließ mich zusammenfahren. – »Man« saß dort; war in Erscheinung getreten; hatte hinter dem Schreibtisch Platz genommen. Zwei pinselförmig arrangierte Bürsten aus den Winkeln eines knappen Mundes steil nach oben wachsend; ein Spitzbart; ein mathematischer Scheitel, mit Pomade – wie mit Zement – an einen Beamtenkopf gekittet; – und dazu jene braunen, kreisrunden, hervorquellenden Augen, die sich bemühen, scharf zu sein; das Individuum vor sich zu erschüttern – und die doch nichts sind als zwei abgequälte Gallertkugeln, übermüdet von der Arbeit, Rechtecke dahin zu sehen, wo keine sind . . .

Eine überraschend hohe und trotz ihrer Abgehacktheit beinahe schwachatmige Stimme ertönte plötzlich: – dies mußte eine neue Laune sein, in der die Machthaber der 275 Insel sich gefielen. Ich hatte klirrendes Metall erwartet, und man gab mir Eisen in Pillenform. – Gleichzeitig zogen die Augen sich hinter Ritzen zurück, ohne dabei viel von ihrer glotzenden Natur einzubüßen.

»Nehmen Sie Platz,« wurde mir bedeutet. – Ich hatte mich nämlich halb erhobeu: aufgejagt von jenem ersten enormen Geräusper, dessen Schall in gar keinem Verhältnis zu den folgenden Klängen stand. – Ich sank aufs Fensterbrett zurück. – »Da . . .« atmete er, schwach zurechtweisend –: ». . . der Stuhl . . .« – Natürlich; da war ja ein Stuhl. Ich machte Gebrauch von ihm, wobei es mir vorkam, als habe mein übergeschlagenes Bein ein weiteres leichtes Bedauern zur Folge. Übergeschlagene Beine zerstören einen rechten Winkel, der anderenfalls da wäre. Amtspersonen empfinden das.

»Ihr Name?« inquirierte er.

Ich überreichte ihm meine Karte. – Er warf einen Blick darauf; tändelte damit; plötzlich, mit exaktem Griff, fuhr er in die Innentasche seiner engsitzenden Palmbeach-Jacke und vergalt mir, sich erhebend, mit der seinen. Aus den folgenden Sätzen hörte ich den Schatten eines – wie soll ich sagen? – Meckerns heraus, das vielleicht darauf berechnet war, mir Mut einzuflößen. Offenbar war er auf den Verdacht gekommen, daß man – wenigstens für den Augenblick – von seiner sozialen Höhe zu mir herab ohne ernstere Folgen eine Notbrücke schlagen dürfe. – Dies versetzte mich in gute Laune; besonders da er die Gewohnheit hatte, in alle Endwörter – mochte es nun Sinn haben oder nicht – eine gewissermaßen unterstreichende, ja fragende Betonung zu legen.

»Sehe da . . .« sprach er, weiter mit der Karte tändelnd, – »daß Ihr Name den Zusatz ›Velez‹ trägt. – Zu schließen also, daß spanisches Blut in Frage . . .«

»Mein verstorbener Vater war Chilene.«

»Wa . . .? – So. – Ja. – Sa'en Sie –: – Haben in Deutschland dauernden Wohnsitz?« –

276 »Seit den letzten zehn Jahren.«

Dies gab ihm Anlaß zu einer längeren Erklärung, aus der ich entnahm, daß »meine Ei'enschaft als chilenischer Staatsan'ehöri'er« verfallen sei; daß ich demnach, dank meiner physischen Verfassung, als Bestandteil der deutschen Wehrmacht in Frage komme, und daß ich mich zu stellen habe, und zwar unverzüglich, um die am Platz gebildete Patrouillier- und Verteidigungstruppe von dreißig Mann mit meiner martialischen Person auf einunddreißig Mann zu verstärken.

Diese Aussicht dämpfte meine aufkeimende Heiterkeit für den Moment. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß er sich hinsichtlich meiner Staatsangehörigkeit täusche, und daß ich Chilene bleibe, solange ich meine deutschen Papiere nicht herausgenommen habe. Zudem – führte ich aus – sei es offensichtlich hoffnungslos, die Insel mit dreißig Mann verteidigen zu wollen und diese Krieger zwangsweise hierzubehalten, anstatt ihnen die Gelegenheit zu geben, sich anderswo nützlich zu machen. – Eine einzige englische Schiffskanone würde das demonstrieren. – Was mich betreffe, so würde ich mit der nächsten Gelegenheit nach Chile gehen und »mich dort nützlich machen«, insofern ich in diplomatischer Hinsicht – etwa durch Aufrechterhaltung der dortigen Neutralität – Lorbeeren zu ernten gedenke. –

Er ärgerte sich beträchtlich. – Selbst schüchterne Anzeichen von Unabhängigkeit wirken auf Amtspersonen wie ein rotes Tuch; nun vollends, als ich ihm sein Monopol auf »Mitteilungen« und »Plauderton« wegnahm, zog er die soziale Notbrücke brüsk zurück. Er fühlte sich auf dem Trockenen. Zudem konnte ihm sein Hirn nicht genug Menschenkenntnis vermitteln, um festzustellen, ob ich die Wahrheit sprach oder mich nur »meiner Militärpflicht entziehen« wolle. – Den Ausweg aus diesem Dilemma fand er in plötzlichem Umschlag des Tones. – Von jetzt ab gab es klirrendes Metall. – – »Danke,« sagte er scharf. – 277 »Sie haben natürlich keine Papiere zur Hand, um nachzuweisen, daß Ihre Angaben auf Tatsachen fußen. – Jedenfalls habe ich Ihnen mitzuteilen, daß Ex'lenz jedem deutschen Staatsan'ehöri'en verboten haben, die Kolonie zu verlassen. Sie haben sich demnach hier zu verhalten, bis Ihr Status festgestellt ist, will heißen bis man Gelegenheit gehabt hat, die Richtigkeit Ihrer . . . Ausführungen auf telegraphischem Wege nachzuweisen . . . Sie haben demnach eine diesbezügliche Eingabe einzureichen. – Der Erfolg dieser Eingabe wird sich unter den ge'enwärtigen Umständen begreiflicherweise etwas verzögern.«

Ich starrte ihn an. – War der Mann bei Sinnen?

Dann packte mich die Heiterkeit in einer nicht mehr zu unterdrückenden Form; ich platzte heraus.

»Eingabe!« schrie ich selig; mehr noch: sang ich. – »Telegraphisch! – ›Angaben nachzuweisen‹!« – – Ich erstickte fast; ich fiel nach vorwärts und hielt mich am Tisch fest. – Er schnellte krebsrot empor.

»Ich danke!« – schrie er schneidend. – »Da ist die Tür! – Das Weitere werden Sie hören!!« – –

Ich ging. – Du wirst begreifen, daß ich es mir ersparen will, das »Weitere zu hören«.

 

Ich ging sofort nach der Firma, an die ich mein Geld hatte anweisen lassen, und zwar ging ich mit der Absicht, die ganze Summe abzuheben. – Für meine »Flucht« brauchte ich Betriebskapital.

Stelle Dir ein großes Kontor vor, erfüllt von gelangweilten – zum Teil frisch importierten – Buchhaltern. In der Ecke dieses Kontors war ein kleinerer Holzverschlag mit einer Art von Schiebefenster; in Grün gehalten und mit Landkarten bedeckt. – Dieser Verschlag ermöglichte es Herrn Ohlsen, dem Chef, sich privatim zu langweilen, ohne seiner Würde zu vergeben. Der Ausbruch des Krieges hatte Verwirrung in den Büchern angerichtet; da sie alles in Kalligraphie umschreiben mußten, hatten die Jünglinge die 278 Möglichkeit, noch für die nächste Zeit den Schein einer Tätigkeit aufrechtzuerhalten und Gehalt zu beziehen.

Ich hatte diesen Herrn Ohlsen schon häufig gesehen – oder wenigstens seinen Typ –: – Gesicht flach wie eine Backpfanne und Hautfarbe gleichmäßig rosa wie bei beschäftigten Köchen. – Im gewöhnlichem Leben sind die Herren Ohlsen menschlich vielleicht zugänglich; – werden sie jedoch von Umständen belagert, die sich selbst der Kontrolle ihrer »Höherstehenden« entziehen, so kommt auch bei ihnen ein ganz netter runder Plebejer zum Vorschein.

Wie viele dicken Leute, deren Lebensweise jäh unterbrochen wird, hatte Herr Ohlsen seinen Humor eingebüßt. Er behauptete, der Umstände halber müsse er das Geld in Ermanglung anderer Einzahlungen zur Verfügung haben und werde mir meinen Teil monatlich in Papier verabfolgen. –Als ich ihm nahelegte, ich müsse auf Ausbezahlung der ganzen Summe bestehen, erhob er zunächst ein gequetschtes Protestgeschrei. Dann wurde er obstinat; etwa in amerikanischem Stil: ›What are you going to do about it?‹ – »Wir tun Ihnen«, rief er mir nach – »überhaupt einen Gefallen, wenn wir Ihnen einen Pfennig ausfolgen. – Der Krieg macht unsere Verpflichtung hinfällig.«

Da saß er in seinem schneeweißen neugestärkten Leinenanzug, babbelnd vor Irritation über das Schicksal und über den aufdringlichen Ausländer. Die Angst vor der unbestimmten Zukunft; die rohe Unterbrechung seiner Eß-, Schlaf- und Bierroutine zog seine Mundwinkel schlaff herab. Ein Vergleich mit dem ähnlich gestalteten Mr. Harrigan fiel durchaus zuungunsten Herrn Ohlsens aus. Schlimmstenfalls konnte es ihm passieren, daß man ihm seinen künftigen Aufenthalt in Auckland oder Sydney anwies, unter Akkommodationen bis zum Ende des Krieges und bei freier, wenn auch sehr gepfefferter australischer Verköstigung, gewürzt mit der bezaubernden Möglichkeit, daß seine »Höherstehenden«, alsdann in gleicher Lage, ihn als Whistpartner 279 dauernd in ihre Sphäre heben würden . . . Als ich ging, lief ein Grinsen der Schadenfreude durch die Reihe der Hamburger Jünglinge. – »Auch festgeleimt?« fragte einer singend und bewegte abstehende Ohren . . .

Ich beschloß, Herrn Ohlsen lästig zu fallen; ich wurde Stammgast in seiner Firma. Er lamentierte, quiekte, drohte. – Endlich hatte ich den Erfolg, ihn zu ermüden, und erpreßte ein paar tausend Mark in Papier, die bis Südamerika und weiter reichen müssen . . . Beide Vorfälle haben jedoch in der Kolonialbevölkerung eine gewisse Stimmung gegen mich gemacht. – Ich höre gerade, daß in der übernächsten Woche die »Navua« erwartet wird, und will des Teufels sein, wenn ich nicht an Bord komme . . .

 

Donnerstag.

Afiamalu ist in etwa einer Stunde Fahrt von Vailima zu erreichen und liegt an dreihundert Meter über dem Meeresspiegel. Ein angenehmer, mäßig breiter Fahrweg führt hinauf; unmittelbar hinter dem Hause jedoch verengt er sich zusehends und wird zum unbequemen Buschpfad, der zur anderen Seite der Insel – nach Falealili – leitet. – Ein großes Stück ist hier in den Urwald gehackt, das man zu einer ausgedehnten Wiese umgewandelt hat; auf dieser weiden rotbraune Kühe in Gesellschaft eines unzurechnungsfähigen Stiers. Von der Veranda aus läßt sich dies Stückchen Pseudo-Holland ganz überblicken. –

Seltsam melancholisch schwebt das Muhen der Tiere durch die feuchte Luft. Das geile giftgrüne mannshohe Gras wird von ihren Bäuchen ruckweise gespalten; so stecken sie mitten im fetten Allzuviel und rupfen matt und wählerisch. – Sie passen nicht hierher, diese Kühe; – aber der alte Carlson und zwei bleiche weißblonde Töchter – die einzigen von seinen vierundzwanzig Kindern, die kein Inselblut haben – ziehen ihren Lebensunterhalt von ihnen. Auch diese Töchter passen nicht hierher. Sie sind hier aufgewachsen; aber die Tropenmüdigkeit steckt in ihren trägen 280 Bewegungen. Ihr Wortschatz besteht aus einem halbhundert heller Laute, die, in der Entfernung gehört, keiner europäischen Sprache ähneln. Sie treten nicht viel in Erscheinung. Ich habe irgendwie das Gefühl, daß die Geistesfunktionen bei beiden im Rudimeut verblieben sind, und daß sie mehr und mehr den Kühen gleichen werden.

Es ist sehr einsam hier oben. – Zweimal in der Woche setzt der alte Carlson einen (der Altersschwäche halber sehr zart behandelten) Gaul in Tätigkeit, nachdem er sein morsches Buggy mit Eiern, Schlachthühnern, Bananen und Milch vollgeladen hat, die er in Apia verkauft. – Sonst steigt er, immer mit irgendeiner Bastelei beschäftigt, auf seinen wiegenden Seemannsbeinen ziemlich grotesk durch die Landschaft und singt »M–m–m« an seiner Maiskolbenpfeife vorbei. Er ist nah an achtzig. – Sein mit Kellerräumen versehenes Bungalow nennt er in der Samoa-Times »Erholungsheim Höhenblick« und hat dann und wann einen Pensionär, trotzdem es mit dem Höhenblick seinen Haken hat, denn der ist schlechterdings nicht da. Immerhin hat man die Empfindung, den Strand tief unter sich zu haben. – Die kühlere, nachts sogar ausgesprochen kalte Temperatur läßt einen selbst zuweilen träumen, man erlebe einen verregneten Sommer in England –: Dann aber sieht man die kompakte schwarzgrüne Tropenvegetation vor sich, die um die Wiese läuft wie eine Mauer, über die es kein Entrinnen gibt; sieht die riesigen Baumfarne nicken gleich Wächtern vor dem Eingang zum Unergründlichen; hört seltsame Laute in der Luft, scheinbar aus dem Nichts entstehend; und man weiß wieder, wo man ist –: verloren und winzig hingeschleudert zwischen die Zeugen mächtigen und primitiven Lebens; einsam inmitten schweigsam-starrer, unheimlicher Formenfülle.

Der alte Carlson hat sich auf seine halberloschene Art an mich angeschlossen. Er strömt Ruhe aus wie ein alter Baum, der seinen Kreis vollendet hat und sich in langsamer feierlicher Zersetzung wieder der Erde nähert. Seine Augen 281 sind flach und meergrau; doch blickt man länger in sie hinein, so ist es als schaue man durch das »Bull's-eye« in die Luxuskabine eines Wracks, das irgendwo auf sanftbespülter Bank gestrandet ruht –: es ist noch voll von halbzerstörten Spiegeln, Teppichen und Bildern . . . So schimmern Bruchstücke und Fetzen von bunten Erlebnissen hervor, verknüpft mit dem magischen Namen des Gentleman-Freibeuters Bully Hayes.

Er erzählt sehr pittoresk; sein Deutsch ist voll englischer und schwedischer Brocken; und er versinkt nach jedem dritten Satz in ein langgezogenes »M–m–m . . .«, bei dem man die Zeit förmlich zurückrinnen hört durch vierzig oder fünfzig Jahre. Ich baue mir aber – und etwas Phantasie habe ich ja – sehr deutliche Bilder aus diesen Vergangenheitsblitzen auf, die unser nachmittäglicher Whisky-Soda heraufbeschwört.

Mit einem englischen Auswandererschiff, wo man ihn zu niedrigsten Diensten zwang, kam er als Junge nach Littletown. Dort floh er mit seinem Busenfreund, einem Finnen, und sie bettelten sich 140 Meilen bis nach Dunedin durch; unterwegs machten sie harte Straßenarbeiten. Zurückgekommen hörten sie von Tunnelarbeitern bei Christchurch, daß eine Gerichtsverhandlung in Littletown sei; mit einem Pfund in der Tasche dort angelangt, brachten sie weiter in Erfahrung, daß der Stewart eines gewissen Bully Hayes von einem Fiji-Hindu-Mischling erschlagen worden sei; m–m–m . . . Sie warteten am Gerichtsgebäude, bis jener Kapitän – ein prächtiger Mann von sechs Fuß drei, mit einem schwarzen Vollbart von einem Fuß fünf – herauskam. Er brauchte gerade Ersatz und nahm sie vom Fleck weg – nahm sie, obschon sich an tausend beschäftigungslose Seeleute damals in Littletown herumtrieben . . .

Mit einem Schlag nun, wie das Glück es wollte, tappten diese zwei ahnungslosen Kreaturen in das wildeste Abenteuer hinein, jahrelang als die einzigen Weißen zwischen 282 Farbigen aller Schattierungen, die es zwischen Manila und Tahiti gibt; zeigt mir die Insel im Pacific, die der Hundertfünfzigtonnen-Segler nicht angelaufen hätte, von der ihm nicht Flüche nachgeschwirrt wären in allen westlichen und polynesischen Sprachen! – –

So fing die große Glanzperiode in Carlsons Leben an. Er wurde Maat und lebenslänglicher Freund des Berühmten. – Ob der auch damals hierhergekommen sei? – Solange er mit ihm gefahren sei, nie; doch später, etwa anno '68 – als er, Carlson, soeben seßhafter Pflanzer geworden – habe jener sich erinnert, daß er irgendwo in Samoa Frau und Kinder besitze . . .

 

Doch ich will Dich nicht länger mit dieser etwas staubigen Romantik ermüden; ich überlasse das besser dem Schöpfer des ›Captain Kidd‹ . . . Auch bin ich nicht in der Verfassung dazu. –Wenn der alte Carlson mit einer solchen Reminiszenz fertig ist – deren Jargon ich leider unmöglich kopieren kann – werden seine »M–m–m–'s« immer häufiger; seine meergrauen Augen mit den ausgebleichten Pupillen vergrößern sich und suchen, mit Gewalt in meine Seele dringend, jeden kleinsten Schatten von Zweifel zu vernichten. Man treibt drunten viel Unfug mit ihm; er ist das Gelächter der Bummler . . . Ich aber: ich weiß es besser und glaube ihm jedes Wort. Denn in jedem Fall erlebt er es alles in dem Augenblick, wo er mir's erzählt; und darum ist es wahr.

Der alte Kerl hat eine wunderbar kindliche und anständige Seele bewahrt. – Wenn er von den Gaunereien jenes Bully Hayes berichtet; wenn sie sein erlöschendes Leben noch mit Glanz füllen –: was ist es anderes, als die unwillkürliche Duldung, ja Zärtlichkeit, die jedes einfache Gemüt für die Ausbrüche eines Temperamentes bewahrt, in dessen brutalen und witzweckenden Strudel es einmal gerissen wurde –: gleichviel, zu welchem Ende es geschah –? 283


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