Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Von der Sina und vom Tulivaipupūla

Das Märchen von der Sina, dessen Thema hier verwendet wird, lautet nach der Übersetzung aus dem mündlich berichteten Urtext:

»Tuimatui«.

Tafitofau und Ogafau, ein Ehepaar, hatten zehn Söhne namens Tui und eine Tochter, die Sina hieß. Sie saßen eines Tages beisammen, und eine Möwe kam zu ihnen geflogen. Das Mädchen sah diesen Vogel zuerst. Weil die Möwe so hübsch aussah und dicht über dem Platz kreiste, wollte Sina sie haben. Die Möwe – hatte sie geträumt – sei ein verwunschener Prinz (manaia), der zu ihr kommen würde. Sie forderte ihre Brüder auf, die Möwe zu fangen; sie wolle sie zum Gatten. Die zehn Brüder machten sich auf die Suche. – Sina saß im Hause, als ihre Brüder fort waren, fühlte sich einsam, da jene so lange wegblieben, und rief in den Wald hinein nach ihnen: »Tui tui tui!« – Es stellte sich ein fremder Mensch ein, der auf den Ruf antwortete und sprach: »Ich heiße Tui.« – Er hieß aber Tui-le-tafoe und war ein Wald-Aitu. Er vergewaltigte die Sina. – Als es Abend wurde, kamen die zehn Brüder wieder. Der älteste kam zuerst und sah, daß ein fremder Mensch auf dem Schenkel seiner Schwester ruhte. Er blieb draußen sitzen und weinte sein Klagelied:

»Komm Mädchen Sina, komm Mädchen Sina: du Häuptlingstochter, der weiblichen Königsfamilie entstammt; es schreit dein Gatte, die Möwe, nach dir. Sieh, wie er balzt und brünstige Bewegungen macht. – Wir sind Schluchten auf- und abgeklettert . . . Hier ist der Vogel; gib acht, daß er nicht böse wird und wieder wegfliegt; sonst müssen wir wieder in die schwindelnden Abgründe steigen und ihn unter Lebensgefahr noch einmal fangen.« (Freie Sinnwiedergabe.)

Die Antwort der Sina lautete:

»Bruder Tui, komm ins Haus; Tui, du, komm ins Haus; rufe all meine Brüder, und kommt alle heran; es ist ein anderer Tui hier; Tui-le-tafoe schläft auf meinem Schenkel; – Tui, ach, komm ins Haus herein.« (Freie Sinnwiedergabe.)

Darauf fanden sich die neun Brüder aus dem Busch ein und sangen dasselbe Klagelied mit dem ersten, worauf sie dasselbe erwiderte. Der jüngste Bruder sah, daß der Aitu in tiefem Schlaf lag; er ging ins Haus und band dessen lange Haare an den Pfosten fest. Dann nahm er seine Schwester und brachte sie zu den Brüdern heraus. Sie gingen alle in den Wald, zu einem anderen Haus, wo Sinas Brüder schliefen.

Da erwachte der Teufel. Er versuchte sich loszumachen; doch in seiner Wut, da er die Jungfrau nicht fand, stieß er so lange mit dem Kopf an den Pfosten, bis er starb.

Die Möwe aber und Sina heirateten sich im Haus der Brüder.

Es gibt einen Vogel, der hoch in den Kronen der Banianbäume sitzt, wenn die schräge Sonne die Wand des Urwaldes vergoldet; dieser Vogel ist nie sichtbar, kaum weiß man von ihm Federfarbe oder Gestalt; er besteht nur aus einem langgezogenen Pfiff, der tief beginnt und anderthalb Oktaven hinaufklettert, um in einem seltsam verhallenden Mißklang zu enden, einem Endton, der keine Beziehung zum Anfang hat und in Hoffnungslosigkeit verschwebt . . . Dieser selbe Pfiff wiederholt sich noch, wenn die Dämmerung in Nacht übergeht; und je dunkler es wird, je wilder, zackiger, grundloser die Welt am Fuß des Eisenbaumes, desto trostloser spinnt sich diese Folge von 104 fragenden Pfiffen weiter, um zu schwarzer Stunde in einer umgekehrten Tonfolge melodisch zu ersterben. Kurz danach folgt noch ein »Zuk, zuk, zuk« jedem der langgezogenen Pfiffe, wie Herzschläge des unsichtbaren Vogels.

Doch wer ist es, er, den niemand sah? Ist es der Geist, der einsam in der überquellenden Schöpfung sitzt? Sein Pfiff: Ist es die Qual über das sinnlose Aufeinanderstapeln von tastenden Klettersträngen, zitternden Blättern, sprossenden Stengeln, aufgähnenden Kronen? Ist es die schwermütige Gier von Stämmen, von Mauern glatter Stämme nach Luft, nach Licht und Erfüllung? Ist es der Seufzer der Überbürdeten unter dem Übermaß, unter dem funkelnden, dem triefenden Allzuviel?

Am Rande der Insel, in der Nähe der geräuschvollen menschlichen Niederlassungen, ist der Pfiff nicht zu hören, aber Meilen drinnen im Inland, da erwacht er an verlorenen Stätten, wo rohgezimmerte, längst verlassene Regenhütten an verwilderten Pflanzungen liegen; er tönt von dorther, wo Träume dieser ungeheuren Pflanzenverwesung entschweben. Und die Samoaner, die Kopra am Wege hacken und murmelnd um ein Bastfeuer sitzen, fühlen zuweilen die ungeheure Stille, die um sie heranschwillt; fühlen den Tropfen, das Blatt und die nahegeschwungenen und doch unerreichbaren Hügelkämme, die noch keines Menschen Fuß betrat. Sie fühlen all die dunstig brauende Geschäftigkeit, wenn die Schatten fallen, und blasen in das Feuer, daß es nicht erlischt.

Zur Stunde des Pfiffes werden ihre Augen matt, als trete eine flüchtige Verzauberung sie an. Sie sind hineinversetzt in zehn Urkörper, sich ähnlich wie Bananen an einer Traube; verhext und sehnsüchtig sind sie; die Tui sind sie geworden, die den Ruf der Sina hören. Irgendwo geht ein verworrenes Geschehnis vor, ein mystisches Verbrechen am reinen Stamm; und sie sehen sich an, abgesperrt von der klagenden Schwester, in Irrsal verstrickt und beschämt.

Und Sina sitzt jenseits der Kluft, hinter nebelnassen 105 Kulissen, hinter einer Decke von herzförmigen Blättertellern. Jedes Blatt bettelt und spreizt sich, saugt sich voll und schwankt von Unersättlichkeit. Jedes Blatt ist tückisch und lügt; es zeigt seine breite Form und lädt den Fuß: Tritt auf mich, ich bin wie feingeflochtene Matte unter deiner Sohle! – Doch unter ihm sind tückische Spalten, unter ihm schwärt der ewige Moder.

Das Häßliche lauert darunter. Das Zweideutige, Lebensfeindliche lüftet die grüne Decke und lugt hervor.

Dämmerungsgeschehen geht um, und der Walda‘itu, der falsche Tui, hat sich losgekettet. »Schweige, Sina,« spricht die Angst der zehn echten Tui, »schweige, du Einsame in der Hütte! Rufe nicht unablässig unsere Namen! Wir sind Schluchten hinab und Schluchten hinauf geklettert . . . Schweige und harre aus, denn bald sind wir bei dir!«

Doch weiter tönt der schwermütige Ruf . . . ist er fern hinter dem Hügel, ist er nah? Angst ergreift die Verirrten vor dem großen Unbestimmten. Und immer lauter, dringender tönt der Ruf; er zieht und zerrt an den zehn ratlosen Herzen, und schließlich dröhnt er darin wie das Logo, wenn es plötzlich, sinnberaubend, in der Schlafstille gerührt wird. Sie blicken auf die perlmutterglänzende Möwe, die gefesselt in ihrer Mitte liegt und in deren blanken, beerenschwarzen Augen sich ihre dunklen Gesichter spiegeln: vom Gesicht des Jüngsten an, des Schlankschultrigen, der noch keine Tätowierung trägt, bis zu dem des Ältesten, dem rötlich-schwarzes Haar die Wangen umrahmt. Plötzlich geschieht ein Windstoß, und alles ist schwarz. Halbverkohltes Reisig glüht, und die Möwe bebt. Sie denken: »O du schöner Manaia! – Noch Tagereisen haben wir zu wandern, Schlucht auf und Schlucht ab, Schritt nach Schritt haben wir zu klettern, und die Sohlen sind uns zu Horn geworden auf der spitzen Lava! Pflanzenunmut hat unsere Schultern gegerbt! Verhungere uns nicht, du schöner Manaia: Seevogel, willst du dich begnügen, kurze Zeit noch, an 106 Waldtaubenspeise? Silberbrüstige Sehnsucht der Sina unserer Schwester, halte aus, bis wir dich zu ihr gebracht!« – Der Vogel zuckt und krächzt leise. Sie freuen sich.

Und sie wissen nicht, daß inzwischen, zur selben Stunde, der falsche Tui in die Hütte der Schwester tritt, mit Beerenketten behangen und in bunten Maulbeermatten, die leise und traulich rascheln. Sie fühlen nur, daß der ferne Ruf der Sina ächzend erstirbt, wie unter lauteren Herzschlägen. Unbestimmte Angst ergreift sie, es möchte zu spät sein. Denn jener lacht und gurrt. Er spricht: »Ich heiße Tui.«

Er hat in sich die Zehn zusammengezogen und strahlt ihre einfachen Seelen aus. Er trägt Puablüten hinter dem Ohr und blaue Ringe an den Handgelenken. Er spricht die Sprache der Brüder, und Sina ist getäuscht.

Sie weist ihn nicht seines Weges. Doch Tui‘le‘tafoe haucht sie fremdartig an und betastet sie: Das sind keiner Brüder Hände.

Und plötzlich stürzt er sich auf sie und vergewaltigt sie. Bezauberung hält sie in Bann.

Ein Mond wechselt, und nun kommen die Brüder wieder aus dem Busch. Sie finden den Teufel, der mit dem Kopf auf dem Schenkel der Schwester ruht. Der Jüngste tritt ein, knebelt den Schlafenden und bindet sein langes Haar an dem Mittelpfosten der Hütte fest. Da liegt er: Häßlich wird seine Farbe, wie die toten Gesteins.

Er erwacht, und in seiner Wut, da er das Weib nicht findet, schlägt er so lang mit der Stirn, der zerrütteten Stirn, an den Pfosten, bis er stirbt. Die Möwe aber flattert silbern in Sinas Schoß, sie wird zu dem schönen Manaia, von dem sie geträumt, als sie Umschlingung ersehnte; das Blut ist geläutert, und die Mühsal des Verlangens kommt zu ihrem Recht . . .

Dies ist das Ende jenes verschollenen Geschehens; doch zuweilen scheint es unvollendet, und im Lauf der Zeiten steht die Angst der Sina wieder auf in den zahllosen Geschlechtern, deren Muttergrund ihr Schoß war. Das Echo 107 ihres Rufes lebt in dem einsamen kummervollen Pfiff, und so eindringlich war ihre uralte Angst vor der Einsamkeit und ihr Verlangen nach Begattung mit der Möwe, daß man jetzt noch, wenn man den Pfiff hört, das Haupt bergen möchte und das Feuer nicht verlöschen läßt. Sei heiter, Sina! Sei getrost, Tai‘afi‘afi, in deren Blut du klagst! Rufe nicht so bekümmert in den Wald hinein – sie werden ja kommen, die echten Tui, einer nach dem andern! Sieh dich um – schon sind sie da! Sie werden dich verteidigen und das fremdartige Scheusal vertreiben, das dir wie eine Last auf der Brust liegt! Das die Kinder aus deinem Leibe verschachern und von dir reißen will! Ängstige dich nicht, du fürstliche Vogelseele! – –

Der A‘itu schläft. Geknebelt ist er von der eklen Flüssigkeit, die ihm aus allen Poren der Haut dampft und diese Haut beschmutzt, so weiß, so schimmernd sie auch scheinen mag!

 

Es ist stockfinster draußen geworden. Die Jalousien der Hütte bewegen sich leise im Nachtwind, mit einem trägen Schürfen, als schreite draußen jemand von Pfosten zu Pfosten. Die Fliegenden Hunde zwitschern und fauchen in den Bananenstauden. Ihre Flughäute klatschen zwischen den lappigen Schirmblättern in schnell verrinnenden, geisterhaft erbosten Kämpfen. Ein Hund knurrt und heult kurz auf. Das monoton sägende Schnarchen, das von der Bettlade dringt, verbindet die Geräusche und fängt sie wie in einem klebrigen Netz, das auf dem Grund einer wuchernden Stille dahinschleift.

Nur wenige Minuten sind es, daß der Kreis von Leuten in der gelben Lichtsphäre der Lampe geschwiegen, daß sich Unmut und Bestürzung still verhalten.

Auch Folau trotz seines wassersüchtigen Phlegmas rührt sich jetzt. Er weiß von der herzbeklemmenden Hilflosigkeit und den fürchterlichen Schweißausbrüchen dieser Mutter, die ihr Werk neunmal treu getan und um sieben ihrer 108 dünnblütigen Kinder bereits durch den Tod betrogen worden ist. Ex ist nie geneigt gewesen, Grothusen recht zu geben, wenn dieser es den zahllosen schwarzen Suluis zuschob, die Tai rauchte. Die Geburten, deren hilfreicher Zeuge er gewesen, gehen ihm durch den Kopf; und er sieht Tais Augen unter der zerrissenen Stirn dunkel auf sich geheftet.

»Wo wäre ich hingekommen vor Grübelei,« sprachen diese Augen, »wenn ich nicht Nacht für Nacht hätte schmauchen dürfen, bis die Hähne krähten!«

Er weiß es besser, er und die alte Ta‘ele und Faga‘afi: Die Milch ist verhext gewesen! Selbst die Kuhmilch hat der A‘itu verhext, damals in Sawaii, als Maggie zur Welt kam! Und gerade diese hat es überlebt! Man hat nach Apia geschickt und zwanzig Dosen schlechte Milch beschafft aus dem großen Handelshaus, bläulich und verkäst, und das blasse, durchscheinende Geschöpf hat hilflos in dem Kranz von blinkenden Zauberbüchsen gelegen und nach Nahrung geschrien, während der Magen auf und nieder zuckte wie ein Hämmerlein!

Fremde Hände haben hineingegriffen in die Geburtenkette, boshafte Geisterfinger haben Kind nach Kind erwürgt. Petina hat sich gewehrt, und Toieolesāsa, »das Ende der Peitsche«, hat ihm an ihren straffen Brüsten davongeholfen, obwohl auch sie von jeher geraucht hat wie ein Mann. Also sind es nicht die Suluis gewesen! – Der A‘itu, der in diesem weißen Manne steckt, das unergründlich Unbekannte, das kein Insulaner durchschauen kann trotz größter Verschmitztheit – das fremdartig Zerstörerische, das zuweilen in ihn tritt und ihn zur Puppe seltsamer Triebe macht – das alles, wovon er besessen ist, wovon er in fremder, prahlerisch-wüster Zunge redet: das war aus ihm hervorgebrochen, das haßte diese seine Kinder der ozeanischen Erde, diese bleichen Pflanzen, deren Wurzeln verkettet liegen in altem Stamm. Nun will er diese Wurzeln herauszerren und übers Meer schleudern, verkaufen, von sich 109 tun – obwohl er weiß, daß er mit jedem Griff neue Wunden aufreißt und Blut vom teuersten Blut verspritzt!

Und der Pulenuu räuspert sich und hält eine zornige Rede. Er weist mit dem Kinn nach Grothusen. Er schlägt mit der Hand auf die Matte und spricht sein: »Leai!«

Danach gibt sich die alte Ta‘ele einen Ruck: ein hüstelnder Faden von quäkenden Worten folgt. Maggie hat ihre Kawabowle verlassen und schiebt ihr gespannt lauerndes Gesicht in den Lichtkreis. Sie blinzelt nach dem Kopf in der Ecke, voll Furcht und Ekel.

Auch Petina nähert sich der Mutter. Aus den schiefen Augen der beiden, unter ihren schwarzen Wimpern hervor, glimmt der Widerstand verscheuchter Tiere, wobei Verachtung ihre Nacken zurückstrafft.

Ein Dunst von Widerwillen macht sich breit, steigt aus Worten, verächtlichen Schnalzlauten und Gebärden der hockenden Menschen auf. Tai zieht ihre beiden Kinder an Hüfttuch und Haaren näher zu sich heran, und ihre mageren Finger fahren liebkosend an ihnen herab. Manumā, unendlich verdrossen, schiebt die Unterlippe vor.

Grothusen ist ausgelöscht; er ist nicht mehr da; und seine Pläne werden zerstückelt, zerbrochen und ihm wie schlechter Abfall in die verschwimmende Fratze geschleudert.

In diesem Augenblick hat die stumme Streitbarkeit der beiden Kleinsten im Kreise ihren Höhepunkt erreicht, und sie rollen als lebender Ball, aus dem scharfe Laute dringen, in den Lichtkreis. Sie sind in eine verkreuzte Form geraten: Lepeki beißt Tiatia in die Beine, und dieser, wütend auf die strampelnden Glieder der Schwester einhauend, schreit tief mit Brustton: »Ui!« – mit einem »i«, das schneidend und zeternd die Nachtstille stört. Man schenkt endlich dem Unwesen Beachtung. Tai ruft unwillig: »Usch!«; doch ist sie nicht ganz bei der Sache. Der Pulenuu zischt ärgerlich: »Ja soia!« – Doch lächelt er entschuldigend hinterher, denn 110 es sind nicht seine Kinder; und Kinder sind doch eigentlich, wenigstens in diesem Alter, wie Hunde oder Fliegen; man vergibt sich etwas, wenn man sie bemerkt; noch dazu, wo es nicht die eigenen sind!

Auf einmal sagt das schielende »Feuerrohr« ganz tief: »Laupanīni ma Laupanāna!«

Die Kleinen halten inne, ein Lächeln läuft im Kreise um. Die Gesichter verziehen sich nacheinander in zerstreut-phlegmatischem Vergnügen. Petina macht einen runden Mund, wiederholt die Namen und lacht hölzern.

Sie alle sind mit einem Schlag zu Kindern geworden, zu einer drohenden Kohorte von Altersgenossen, losgelassen gegen die Jüngsten. Diese sitzen plötzlich – mit eigenen Waffen bekämpft – kreuzbeinig und mit riesigen schwarzen Pupillen da. O Anhauch des Unerforschten, des kindlich Feindseligen, des ewig Jungen, ewig Schauerlichen! Geister der Klüfte, ihr Nachtmahr von den Hügeln, – laßt eure quälenden Pfeile gegen das Volk am Strande los!

Die instinkthafte Furcht vor den warnenden Namen, die drohend und dunkel in der Luft hängen, lähmt die beiden Menschlein. Die Natur schafft solche Silben, wie sie Schreckfarben an Tieren erzeugt. Die schielende Base Tais greift in den Brunnen der eigenen Brust, gräbt darin mit kundigen Händen, läßt, runenhaft raunend, Geschehnisse entstehen, so gewaltig und naiv, daß allen der Atem stockt. Sie lauschen; ihre Seelen sind zu weißen Maulbeermatten geworden, auf die sie die dunklen Pflanzenfarben ihres Wissens pinselt. Und alle denken sich – sie geben sich keine Mühe; es kommt ganz von selbst – in die sieben- und achtjährigen Seelen hinein, in den empfindlichen Schauder der weichen Membranen, der fröhlichen Sonnenpflanzen, die man plötzlich zu kurzer Strafe mit Nacht und Schrecken umgibt.

Ja, die Nacht ist tief und der Schrecken groß. Er wächst aus der Erzählung hervor, setzt sich vor die Kinder und lächelt ganz breit mit messerscharfem Mund.

111 Der Schrecken heißt: »Tulivaipupūla!«Das Märchen Laupanīni ma Laupanāna ist wörtlich wiedergegeben. Er hat weitauseinander stehende Augen, halb geschlossen aus tückischem Behagen an der eigenen Macht.

Und Faga‘afi weiß mehr von ihm als von sich selbst. Sie läßt ihn auferstehen, raschelnd, von dumpfen Lichtern glimmend – wie man sie in Regennächten im Unterholz erblickt – atemraubend, groß und gefräßig.

»Ja!« beginnt sie. »Tafitopiūa und Ogapūa, ein Ehepaar! – Sie lebten zusammen. Das Weib ward schwanger. Sie gebar. Ein Sohn war's: Er hieß ›Laupanīni!‹ Der Alte kroch wieder zu seinem Weib. Sie ward schwanger und gebar. Es war noch ein Sohn. Er hieß ›Laupanāna!‹ – –

Die Eltern wollten in der Pflanzung arbeiten. Sie ermahnten die Söhne: ›Laßt die Jalousien des Hauses herunter, so als ob niemand daheim wäre! – Geht nicht an die Schöpfstelle, und macht das Wasser nicht trüb! – Bewegt das Zuckerrohr hinter dem Hause nicht, um es abzubrechen und zu raspeln!‹ – Dann gingen die Eltern in den Busch auf die Taroplantage.

Die beiden Knaben erfüllten den Auftrag nicht, zogen die Jalousien auf, sammelten die heruntergefallenen Blätter, machten das Wasser trüb, raspelten Zuckerholz. Da näherte sich ein A‘itu vom Walde her: ›Was macht ihr Knaben hier?‹ – ›Wir sitzen hier und machen nichts.‹ – ›Wo sind eure Eltern?‹ – ›Im Busch zur Feldarbeit‹ – ›Wenn eure Eltern wiederkommen, sollen sie mir meine Herkunft sagen, und findet ihr's nicht heraus, so hole ich euch alle.‹

Die Eltern kamen nach schwerer Arbeit zurück. Sie sahen, daß die Söhne nicht gehorcht hatten. – ›Warum habt ihr nicht gehorcht?‹ – Sagten die Knaben: ›Der A‘itu Tulivaipupūla ist aus dem Wald gekommen und hat schrecklich ausgesehen‹ – und sie erzählten, er habe gedroht, sie alle aufzufressen, wenn sie ihm nicht seine Herkunft sagten. Beide nahmen ihre Jungen vor und prügelten sie durch. 112 Ihre Beine zitterten, und sie liefen fort in die Richtung nach Mulifanūa. Die Eltern verfolgten sie, Tag und Nacht, Nacht und Tag. Auf der Straße packten sie sie und sangen ein Klagelied:

›Laupanīni und Laupanāna! Laupanīni und Laupanāna! Kommt zurück, kommt wieder zurück, unsere beiden Kinder! Kommt, eßt aufgewärmte Yamswurzeln mit Fischen, die wir gestern nacht bei Fackellicht fingen.‹

Die Knaben erwiderten:

›Tafitopūa und Ogapūa! Tafitopūa und Ogapūa! Kehrt um und geht allein zurück; geht eueren Weg, und lasset uns unseres Weges gehen; wir gehen jetzt nach Mulifanūa; dort wohnt der Teufel Tulivaipupūla, der uns fressen wird!‹«

Alle dröhnen den Refrain, klatschen in die Hände und trommeln auf die Matten. Manumā, die Taupou, färbt den Gesang mit ihrer hellen Stimme.

Das »Feuerrohr« tut einen gemächlichen Zug aus der Sului. Ihr linkes Auge ist starr auf die armen Sünder gerichtet, das rechte bohrt sich in die Dunkelheit. Sie hat die Verslein gesprochen, hart und heiser. Nachdem man sich Genüge getan, spült sie sich die Kehle mit einem Schluck Kawa frei, denn der Napf geht wieder herum. Tiatia trägt ihn von Mund zu Mund; und als er die schreckliche Sibylle versorgt, zittert seine Hand vor Schreck. – Sie fährt fort:

»Die Eltern gingen zurück. Sie ließen die Kinder weiterziehen. Die Knaben kamen nach Mulifanūa, wo der A‘itu wohnte. Der Teufel sah sie: ›Wer seid ihr?‹ Sie sagten: ›Wir sind die und die‹ – und dann wohnten sie mit ihm zusammen. Er forderte sie auf, ihm den Kopf zu krabbeln, und schlief ein. Der A‘itu hatte so große fremdartige Läuse, daß sie eine Holzschüssel holten und sie hineintaten. Die Schüssel ward voll. So füllten sie eine Schüssel, eine zweite und eine dritte.

Laupanāna ward durstig. ›Ich kratze den Kopf – ich bin 113 durstig.‹ – Der A‘itu erwachte. Er fragte Laupanāna: ›Warum weinst du?‹ – ›Ich bin durstig.‹ – Der A‘itu sagte zu Laupanīni: ›Klettere auf den Baum vor meinem Hause und hole Nüsse.‹ – Als der Junge hinaufkletterte, wuchs der Baum. Er kletterte den ganzen Tag und erreichte die Krone nicht. Abends erreichte er die Krone und warf Nüsse herab. Er kam herunter, machte die Fasern ab und brachte sie ins Haus: ›Trinke, Laupanāna.‹ – Der trank und trank, und immer mehr Saft war in der Nuß. ›Ich kann nicht mehr, ich platze!‹ – Der A‘itu drohte: ›Wenn du sie nicht austrinkst, mußt du sterben!‹ Der A‘itu sah, daß der Junge nicht mehr trinken konnte. Er ließ ab, und die Nuß ward leer. Nun sagte Laupanāna: ›Ich bin hungrig!‹ – Der A‘itu sagte: ›Kocht euch was auf dem Samoa-Ofen!‹ – Die Jungen gingen hin, machten Feuer, erhitzten Steine. ›Mit welchen Blättern sollen wir den Ofen bedecken?‹ – Der A‘itu sagte: ›Kämpft, und wer stärker ist, wirft den Schwächeren über den Ofen.‹ – Die beiden kämpften, und der Ältere fiel auf die heißen Steine und ward gebraten. Da sagte Laupanāna zum A‘itu: ›Was hast du gemacht? Nun ist mein Bruder tot!‹

Da fraß der Teufel den Laupanāna‹.«

Das »Feuerrohr« schnalzt mit der Zunge. Dies tun alle und klatschen entzückt auf die Matten. Doch weder die Gebärden noch das Händeklatschen vermögen es, die beiden Jüngsten aus der Erstarrung ihres Grauens aufzureißen.

Auf einmal beginnt Lepeki zu weinen. Es ist ein elementares Weinen, ein Schluchzen, das ihre Naslöcher und Augenhöhlen in Nässe badet. Was aber geschieht mit Tiatia? Sein Grauen ist nicht geringer als das der Schwester; doch er findet einen männlichen Ausweg, um es zu bekämpfen. Er steht auf und bohrt die Hände, zu Fäusten geballt, rechts und links des Nabelknopfes in seinen vorstehenden Kugelbauch. Die Angst erzeugt an ihm, in possierlichster Verkleinerung, das Bild eines erzürnten Mannes. Dann tut er kriegerische Schritte mit rechteckig 114 gebeugtem Knie und völlig auswärts gedrehten Füßen nach beiden Seiten.

Gesten uralter Tänze bewegen seine Glieder, schier unbewußt, mit jener täppischen Grazie, die alles Junge, alles Tastende an sich trägt: so als lausche sein Gehör fernen Kampfgesängen, dem Gestampf, dem Geklapper langer Reihen rhythmisch bewegter Männer. Ja, dies Herausstechen der Ellbogen, dieser Handgelenke, in spitzem Winkel nach innen geknickt – waren sie nicht ein Erbe heftiger Zeiten?

Der Vorväter Geist zupft an ihm, läßt ihn agieren wie eine seltsame Schattenpuppe, wie einen kleinen Dämon, der plötzlich dem übersatten Blute seines Volkes entsprang: ein drolliges Bild atavistischen Trotzes. So bekämpft er sein eigenes Grauen. So bekämpft er, tanzend und höhnend, schluchzend vor Angst und Wut, den mächtigen Schatten des Waldteufels und scheucht ihn zurück. Und während sein kleiner Körper sich krümmt, strafft und bäumt, schreit er: ›Puii!‹ mit rundem Mund, runden Augen, runden Backen, und faucht dazu wie eine Katze.

Der Pulenuu belebt sich. Vermöchte er es ohne Schaden, er stände und brächte die Hütte, mit seinen Elefantenfüßen stampfend, dem Einsturz nahe. So aber begnügt er sich, mit hohem Tenor in das melodische Gelächter der Runde einzufallen; und nach den ersten Silben begreift man: dies ist das Preislied für die Einweihung der Taupou von Matafagatēle, »Lepeki-le-malō« . . .

»Von allüberall hör ich Lärm und Geschrei;
Hier sitzt der Löwe furchtlos und treu.

Lärm ist nichts Neues in diesem Land,
Ihr Tiere, kommt eilends herbeigerannt!

Tumoa! Ihr seid unser bestes Blut!
O Löwe, wirf eine gute Brut!

Wenn Knabe, soll er am Kampf sich laben,
Wenn Mädchen, sollt ihr's im Busch vergraben – 115

Lärm ist nichts Neues in diesem Land,
Ihr Tiere kommt eilends herbeigerannt!«Dies politische Lied, das dem Pulenu-u in den Mund gelegt wird, stammt aus der Zeit der Wirren von 1898 und bezieht sich auf die drei Parteien Tuiana, Tuiatua und die mittlere: Der Löwe. Zum Verfasser hat es Tauaa La-ulu.

Frei übersetzt lautet es:

»Lärm hier und Lärm dort; der Löwe sitzt und wartet und fürchtet nichts. Hier in diesem Lande sind wir an Lärm gewöhnt. Kommt nur heran, ihr Tiere, kommt. – Wir überlassen es der Tumuapartei, wozu wir gehören. O Löwe, gebier; und wenn das Junge weiblich ist, begrabt es sofort im Busch; wenn es aber männlich ist, lehrt es kämpfen. Kommt nur heran, ihr Tiere, kommt.«

»Alo mai mānu savāli valīe!« – orgelt der Refrain der Runde.

Noch hierher, dorthin, unter Bruchstücken hellen Geschwätzes, fahren die Hände, tappen erregte Finger. Dann begreift man, daß es Nacht und daß man müde ist.

Maggie ist geschäftig, Schlafgelegenheiten zurechtzubauen. Matten und Leinentücher stapeln sich in den Ecken auf. Es ist ein Auseinandergehen, als ob sich nichts ereignet habe. Tai legt sich auf den Boden in der Nähe des Bettes. Die alte Ta‘ele, die Base, und die Jüngsten schieben die Jalousien auseinander und schreiten, gefolgt von ihren schläfrigen Hunden, zur anderen Hütte hinüber.

Die Nacht ist feucht. Ein Regen kommt hernieder und trommelt monoton, alle Laute verschlingend, auf dem Hüttendach. Und mitten durch dieses Regengeräusch bohrt sich das klebrige Schnarchen von der Bettlade seinen Weg, das schwere, erschöpfte Schnarchen des halb hängenden rothaarigen Kopfes wie ein fremdartiger, großer Holzwurm.

Ein Weinen zieht von der anderen Hütte herüber und darauf ein tief beruhigender, gesangähnlicher Satz, wie orphische Formel:

»Pepe schlafe, Pepe schlafe schön,
Nacht ist lang und will nicht gehn –
Warum säugst du nicht dein Kind?
Mutter Mele, komm geschwind!
Tag ist lang und Nacht ist lang;
Schlafe, Pepe, sei nicht bang . . .
Mutter Mele draußen steht,
Bläst auf ihrer Bambusflöt'!«Freie Wiedergabe eines Wiegenliedes nach altsamoanischer Melodie. 117


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