Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Maggie

In der Tat, sie war da. Sie hatte sich soeben, auf dem Rand des einzigen Bettes hockend – und das Bett war, abgesehen von dem unzuverlässigen Stuhl und dem Tisch, das einzige europäische Möbelstück in der Hütte – die weißen Strümpfe abgezogen und stand nun in ihrem taillelosen Kattunkleid vor dem zerbrochenen Spiegel. Sie kämmte sich ihr seidiges, spröd knisterndes Haar mit der Ruine des väterlichen Kammes und äußerte sich in einer gewissen monotonen Weinerlichkeit. Daß ihre Rede nach einer bestimmten Richtung ging, ließ sich nur daraus entnehmen, daß die Mutter während der spärlichen Pausen kleine Bemerkungen einflocht.

Tai hockte, mit einer Handarbeit beschäftigt und eine Hornbrille von seltener Größe dabei benützend, auf den Matten irgendwo hinter dem Mittelpfosten. Sie nähte mit tödlichem Ernst. Ihre zierlichen Finger mit den rosa glänzenden Nägeln handhabten Schere und Nadel mit der gleichen würdigen Sachlichkeit, die sie im Gebrauch aller von Weißen stammenden Gegenstände entfaltete. Hätte man sie auf einen sechs Fuß hohen Paradethron gesetzt, sie hätte sich nicht aristokratischer gebärden können. Eine Atmosphäre von leidenschaftsloser Ruhe ging von ihr aus. Um sie her lagen drei Bibeln in verschiedenem Druck, hinter denen sie sich gleichsam zu verbarrikadieren pflegte, wenn sie Sorgen hatte.

Da die Kirchenschule heute wegen Krankheit einer Lehrerin geschlossen war, war Maggie unvermutet früh erschienen, und Tai war dadurch abgehalten worden, in die kleine englische Kirche in Mata‘utu zu gehen, wo man jeden Tag Bibellesen hielt. Um sich einigermaßen für die Störung zu entschädigen, hatte sie, während die Tochter die Werkzeuge ihrer Hoffart – ein rosa Mousselinkleid, eine Korallenkette und die erwähnten weißen Strümpfe – gegen ein 68 schmuckloses Kattunhängekleid vertauschte, noch einen Blick in das Hohelied Salomonis getan.

Diese Dichtung war ihr, als sie ihr Zusammenhausen mit Grothusen begann, als besonders treffend von diesem ans Herz gelegt worden. Sie handelte – wie es auch die Missionare erläuterten – von der Unterordnung der Gattin unter den Gatten.

Tai bevorzugte das Hohelied jedoch nur aus dem Grunde, weil es ihr am geläufigsten war und der Dialog der herzhaft sinnfälligen Episode ihrer Anschauung einleuchtete.

Die von Grothusen bezweckte Moral daraus abzusondern, war sie freilich nicht in der Lage. Das gehörte auch in den Bereich der Schwarzgewandeten, der Eindrucksvollen, deren Beruf es war, Unzufriedenheit zu äußern, und deren Lächeln man mit Mühe erobern mußte, als eine Kostbarkeit, die unberechenbare Heilwirkung in sich schloß.

In andere Kapitel der Bibel vertiefte sie sich ungern und mehr aus Pflichtgefühl. Denn Grothusen pflegte ihr, sooft sie wegen des Abendmahls unruhig wurde und deshalb mit Andeutungen an die Heirat rührte, kurzerhand die Gesetze Mosis zu empfehlen. Wenn sie gegen eines verstoße – pflegte er zu sagen –, verstoße sie gegen alle . . . Doch diese Lektüre war ein Unterfangen, dem ihr Kopf nicht gewachsen war, und voll von Zwiespalt und Grimm ging sie in die Kirche. Sobald ihr das kleinste gegen den Strich ging, behalf sie sich mit einem Kirchenbesuch; das war eine Zwangsmaßregel gegen die eigenen Gewissensnöte und hatte den Erfolg, daß sie gegen ihren Willen für eine Weile von der Heirat schwieg . . .

So stand es mit Tai.

Als sie jetzt die Hornbrille abnahm und die Näharbeit in ihrem Schoß glattstrich, war etwas Ratloses in ihren Augen und in der ziellosen Gebärde ihrer Hand.

Maggie hatte ihr Haar ausgekämmt und band es jetzt in einen Zopf möglichst glatt an den Kopf, der klein und gespannt hervortrat und gleich dem Petinas die Züge 69 Tais trug. Ihre Haut hatte helle Elfenbeinfarbe und war glatt und kühl. Füße und Hände waren unbeschreiblich zierlich. Ihre Ellbogen schoben sich, während sie den Zopf band, ganz spitz aus der halblangen Ärmelöffnung. Man erriet aus ihren Bewegungen trotz des unschönen Kleides die wie aus klarem Wachs modellierte Bildung ihres Körpers, eines mageren, blutarmen, hinfälligen Körpers.

O Maggie, du lebensarme Schattenblüte! Möge dich die Sonne heilen, die das Bananenblatt, das gewaltige, grün erglühen macht! Denn du brauchst Sonne, viel Sonne! Du hast zu wenig Blut, du junge Jungfrau du!

Was Wunder, wenn du nörgelst und klagst, wenn dein Gesicht, trotz deines unerschlossenen Leibes, schon alt scheint wie nach den Drangsalen vieler Geburten!

Deine Haut ist so glatt wie die einer Pflanze. Und diese Pflanze schießt, vom gewaltsamen Hauch der Naturgesetze berührt, im feuchten Schatten empor und kann ihre Bestimmung nicht erfüllen, weil sie das Licht durch das erdrückende Dickicht kaum ersaugen kann. Du hast deinen schmächtigen Stolz, deinen dünnen Ehrgeiz zu wachsen und deine Bestimmung abzurunden . . . Keime deuten sich an, schmale Blätter vielleicht tasten in die Runde, eine Blüte gar, von schwacher Farbe, müht sich zu prangen . . . Bald aber ergreift dich die tödliche Müdigkeit des verfehlten Beginnens, der mangelnden Kräfte, und du verschmachtest am reichen Tisch des Lebens.

Aber trotzdem, Maggie, ist etwas in dir tätig, das dich hindert dich hinzulegen und auf das Dasein Verzicht zu leisten mit einem Blick in die flammenden Dachritzen; dich der Natur zurückzuliefern, eben der Natur, die dich wider ihre Absicht bestehen ließ. Denn sie hat auch dich nicht übergangen mit der Begierde, dich an das Leben der Starken anzuschmiegen. Was sie anderen gab, es freudig auszuspenden, gab sie auch dir. Doch du hast die Kraft nicht, es zu bändigen.

Die großen Gesetze fassen auch dich, doch sie machen dich 70 nicht stolz; kein Segen bleibt zurück von ihrem Tun. Sie hausen in deinen blassen Adern als Gift, als fremde Gewalt, als zehrend ermüdendes Feuer; sie schütteln und beugen dein schmächtiges Skelett und wühlen wie mit Messern in deinem Leib.

Die Mutter, die dir das Leben gab, nahm fremdes Blut in sich auf, nährte und mehrte es ergeben, bis es deine fragwürdige Form gewann, und wurde seiner wieder ledig.

Sie ist stärker als du. Sie ist Tausende von Jahren alt; in ihrem Blut sind keine Erinnerungen fremder Tropfen, keine dumpfen Bilder von Städten, Unnatur und Saftverrottung. Sie nahm dich an und stieß dich ab.

Sie ist die alte geblieben.

Doch was ist's mit dir? Wirst du dem Joch je gewachsen sein?

Du trägst ein rotes Mousselinkleid und weiße Strümpfe; doch statt zu blenden, erregst du Mitgefühl. Du quälst dich, im Sitzen gekrümmt, mit einem absurden deutschen Brief, worin du einer Freundin in Europa, das du nie sehen wirst, die Wonnen des Kilikiti ausmalst, das du nie spielen konntest, weil deine Arme zu schwach sind. Die französischen »Schwestern der Barmherzigkeit« sehen dich an, wenn du dasitzest, in aufgelöster Haltung, die Stirn ganz von Falten zerquält. Sie nennen dich: Armes Kind. Sie machen einen kleinen Mund und lächeln beziehungsvoll unter ihren schlohweißen Leinwandhauben.

Du wirst mit einer Art von flüssiger Güte behandelt, die ohne Spuren an dir abrinnt, während die anderen handfesten Mädchen deutlichen Gewinn davon ziehen . . .

Kommst du dann heim, so siehst du der Mutter in die moorbraunen Augen. Dann schleuderst du die Strümpfe weg, hockst dich auf die Matten und sprudelst erregt deine Erlebnisse in der Sprache deines Volkes hervor, ganz besessen von Verworrenheit und blindem Unmut. Und das 71 sind die Stunden, wo du nörgelst und unausstehlich bist, wo du alles willst und alles verabscheust!

 

Tai setzte jetzt die Brille wieder auf. Sie sagte nicht viel. Ein großes Rätsel lag auf ihr.

Und dieses Rätsel war gewachsen mit Maggie, siebzehn Jahre hindurch; es lähmte und beengte; und Tai war es fast sterbensmüde, dem Rätsel zu Leibe zu gehen.

Es war ein Gespenst mit kranken Augen und bleicher Haut.

Es war fremd, bedrückend und stark, denn es entschlüpfte jeder Beschwörung. Es saß auf ihrem Herzen und auf ihrem Magen; es fraß ihre Kinder auf, Stück nach Stück . . .

Sie wußte, was es war! Ein A‘itu hatte ihre Milch verhext, als der Pa‘alagi sie zu sich nahm und sie ihm diese Kinder gebar . . .

Maggie war ihrem Bruder um drei Jahre voraus. Doch trat er bereits als Beschützer auf und nahm als rechtschaffenes Männchen ein eindringliches, wenn auch noch reichlich instinkthaftes Interesse an ihren Angelegenheiten. Er hatte wenigstens schon einen deutlichen Begriff davon, welche Bedeutung Männern beizulegen war, wenn man sie mit Maggie in Beziehung setzte. Und Maggie, das fühlte er, hatte es schwer, denn daß es Männer gab, war eine Tatsache, die sich nicht aus der Welt schaffen ließ. Ein Mann, der sich mit Maggie abgab, hätte unbedingt auch mit Petina Freundschaft schließen müssen . . . Maggie mußte einen Pa‘alagi heiraten, das stand fest. Und wenn das nicht anging, dann wenigstens einen Kuatakasi. Da er sich aber zu den waschechten Samoanern vorläufig noch am stärksten hingezogen fühlte – er also nur Freundschaft bei diesen genoß – und die Halfcaste-Herren und die Weißen ihn noch übersahen, so war er wie ein kleiner mißtrauischer Hund hinter der Schwester her.

Denn Maggie gehörte zu jenem Schwarm von Mädchen, 72 die gern in die Läden von Hopkins und MacFarlan gingen und sich von den Clerks hinter der Auslage küssen ließen. Maggie ging in ein derartiges Paradies von buntbeklebten Konservenbüchsen und billigen Schmucksachen wie in ein Bad hinein. Sie verkaufte ihre Küsse – saugende durstige Küsse ohne Wahl des Objekts – für falsche Ringe, für ein Pfund Salzfleisch oder Lachs, für gläserne Ohrringe oder Schuhe, die sie meistens qualvoll drückten. Wenn sie mit solch nutzlosem Tand behaftet des Weges kam, nahm Petina ihn ihr fort, auch wenn sie zeterte, und brachte ihn in den Laden zurück. Mit einer seelenlosen Miene legte er alles auf den Zahltisch, geräuschlos wie ein regulierender Geist; und diesen oder jenen Verkäufer pflegte zuweilen darob ein kleines Unbehagen anzuwandeln.

Auch pflegte Petina Maggie von der Kirchenschule abzuholen. Dort vor dem Tor sammelten sich immer einige Halfcaste-Jünglinge an, sowie junge »Bullen«, die ergeben am Boden hockten, trotzdem sie von den Halbweißen mit »Mea uli« geneckt wurden. Die Halbweißen waren von einer Eleganz, die von Petina Seelenstärke erforderte. Doch blieb er treu trotz dem Wall von schimmernder und kraftschwellender Männlichkeit, der sich ihm entgegen stemmte.

Die Mädchen brachten Blumen aus dem Pensionatsgarten mit und erwarteten Parfüm oder Zopfbänder dafür zurück. Sie ließen sich dann nach Hause begleiten; auch für die »Bullen« fiel eine Erlaubnis ab. Diese spielten eine platonische Rolle; sie waren dumpfe und willige Instrumente. Die Dosis weißen Blutes, über die unsere Damen verfügten, wirkte wie eine geheimnisvolle, wenn auch unübersteigbare Schranke.

Petina ging stracks auf Maggie zu und nahm sie bei der Hand. Er war so entschieden und so zäh, daß sie ihm nie widerstrebte . . . Sie nörgelte, sie riß sich los; er folgte ihr. Sie lief davon, und er tauchte am Rand des Weges auf. Er war immer da . . .

73 Was war nun heute ihr Leidwesen? – Sie war beleidigt worden; man hatte das Mütchen an ihr gekühlt.

Da keiner sie, Petinas halber, bis jetzt hatte begleiten dürfen, war man gereizt und spöttisch geworden. Man hatte sie belästigt und sie gefragt, wo ihr Liebhaber sei. Dann hatte man ihr, als sie sich böse und jähzornig losriß, zugerufen, sie solle doch zu Hause bleiben; ihr Vater sei ein heilloser Trunkenbold, ein Hampelmann, der kein Geld verdiene und sich aushalten lasse; und dann hatte man gelacht, daß man es die halbe Strandstraße entlang hören konnte.

Das war es also gewesen. Sie war fertig damit und setzte sich hoffnungslos auf die Matte.

Tai stand auf, rollte sich eine Sului, steckte sie an und setzte sich wieder. Auf einmal sagte sie leise und bekümmert: »Kalōfa!«Tal ōfa, gesprochen oft Kalōfa: in diesem Zusammenhang Ausdruck des Bedauerns. – kurz, mit einem kleinen Schnalzlaut am Gaumen. Ihre Augen wußten nichts von der Umgebung. Petina witterte das Unheil und sprudelte hastige Fragen hervor, doch erhielt er keine Antwort darauf.

Während Maggie Fasern aus der Matte zupfte, passierte etwas: Eine einzige Träne kroch an Tais breiter Nüster herab, ohne daß sich auch nur ein kleiner Zug in ihrem rätselhaften Gesicht verändert hätte. Maggie sah die Träne gedankenlos, wie man auf eine Spinne sieht. Dann aber begriff sie mit ihrem Vogelhirn und kroch auf das Bett. Dort bäumte sie sich auf und nieder, daß die alte Lade in den Fugen knarrte. Sie stieß kein Geschrei aus; sie erlöste sich nur in pfeifenden Atemzügen.

Draußen vom Meer aus dem Riffgürtel tönte ein Rudergesang aus fernen Kehlen, taktfeste warme Akkorde vibrierten wie Bienensang in der Luft; sie schwollen orgelhaft an, während sie sich näherten, und erstarben dann, in der Richtung nach Saluafata leise verhallend. Der Mittag umglühte das Haus, durchklungen von Kindergeschrei und 74 schläfrigem Hundegebell. Ein Hauch wie aus einer Kloake stahl sich, kaum fühlbar, unter dem hitzeknisternden Dach hindurch; und ganz in der Nähe wurde eine Maulbeermatte gehämmert; das war ein metallisches »pinkpink« von Holzschlegeln auf der tönenden Lava.

Man schwieg. Auf einmal sagte Petina schnell und hastig, als fiele es ihm gerade ein: »Vater will ein Huhn zu Mittag.«

Das Schweigen war ausgelöscht. Man lebte, dachte, handelte wieder.

»Ein Huhn!« stieß Tai hervor, hell und erschrocken.

Petina lachte hölzern und sprudelte hervor, mit allen Gesten der Eingebornen: »Ja . . . der Vater ging in die Stadt . . . Er schimpfte und sagte: ›Geh nach Hause und sage der Mutter, ich will ein Huhn!‹ . . .«

In die Dämmerung hinein glitt ein Sonnenstrahl, wo sich ein Zuckerrohrblatt im leisen Hauch vor einer Ritze bewegte . . . Auf dem Querbalken blitzte es auf.

Dort stand, abgesondert und einsam, wie ein verfemtes, unabwendbares, prahlerisches Symbol – die vierkantige Flasche.


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