Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Begegnung

Das war im Amtszimmer der Regierung in Fagamalu, Sawaii: da wählte sich Mr. Harrigan, der »Kaiserliche Amtmann«, die Pfeife Nr. 5 vom Fensterbrett und sprach seufzend zu einer im Raum hockenden Gestalt: »Ja! – Es ist gut, Suisala!« – Und der Häuptling erhob sich mühsam und ging nach Händeschütteln und wiederholtem Dank hinaus. Er ging ein wenig schwankend, als ob er am Fieber leide.

Die Pfeife entzündend und stark aus ihr paffend, ließ der Amtmann seine unter rosigen Hautwülsten – er besaß keine Brauen – hervortretenden blaßblauen Augen auf der riesigen Ananas ruhen, die Suisala auf dem Amtstisch zurückgelassen. – Das war denn doch des Teufels! – Seine runde weiße Faust landete hörbar auf dem Tisch. Seinen Suisala, seinen treuen Ratgeber und Freund, loyal seit er ihn als kraftstrotzenden jungen Manaia zu Fagamalu gekannt – Suisala seinen Prachtsprecher – den sollte er krepieren lassen wie einen Hund an diesem leicht kurierbaren Wechselfieber, weil die Regierung zu schäbig war, Chinin zu beschaffen? Einen Arzt zu bezahlen oder die Missionare mit den einfachsten Hausmittelchen zu versehen? –

Bis man den Patienten ins Hospital nach Apia schaffte, lebte er vielleicht nicht mehr; wo sollte man auch schnell ein Boot auftreiben, nachdem das »Kaiserliche Motorboot« sich gerade auf einer speziellen Sendung befand? – Feder her! – Eingabe gemacht! – Er griff nach einem 120 Aktenbogen; die Stirn zornig umwölkt und schnaufend preßte er sein mächtiges Körpergewicht näher an den Tisch heran und überlegte . . .

Während er so überlegte, ließ er seine Blicke durch den kahlen Raum streifen. Die Messinglampe ihm zu Häupten schütterte leise. Ihm gerade gegenüber zwischen den Fenstern, durch die das bunte Grün flammte, hing eine Aufnahme mit einer flott und zugleich energisch darunter gesetzten Unterschrift. Zwei schläfrige Augen aus einem maskenartig glatten Beamtenkopf trafen in die seinen . . . Ja, wenn der von Vailima einmal herüberkäme, zu einer Inspektion . . . Mündlich würde sich das alles besser machen . . . Dem Format nach paßten sie zusammen, der joviale Irländer und der fette preußische Titelträger dort im Rahmen . . .

Aber täuschen Sie sich nicht, Mr. Harrigan! – Eine mündliche Aussprache würde nichts helfen . . . Es muß seinen »Instanzenweg« gehn; das heißt, Suisala wird das Zeitliche segnen, bevor die Nummer auf der Eingabe trocken ist. Ihre Treuherzigkeit wird in einen bureaukratischen Kühlkeller geraten; Sie bejahrter Enthusiast! –

Die Feder entsank dem Amtmann. Er fühlte einen Frosthauch im Nacken, denn noch ein anderer war im Zimmer zugegen, als lebensgroße Photographie in einen zweiten Rahmen gezaubert; der ließ machtvolle Blicke an seinen runden Rücken prallen. Und die Messinglampe, die von der Erschütterung des Stuhlrückens noch schwang, schien einen geisterhaften Laut von sich zu geben: – das Klirren ferner, immer lockerer . . . Säbel . . .

Suisala, der mit so einsamer Eindringlichkeit hier sein Schausterben vollführte, sank zur unsäglichen Nichtigkeit herab. Der Raum war voll von entrücktem stählernem Prunk, der jedes kleine Sentiment zermalmte.

Geistesabwesend schrieb Mr. Harrigan noch seinen Namen unter die Eingabe eines Paters Kummer von Safotulafai, der um die Erlaubnis bat, Destillierapparate benutzen zu 121 dürfen – und zwar zur Herstellung von »Blumenparfüms«. Diese Eingabe vermochte nicht einmal, ihn zu schwacher Heiterkeit zu reizen. Abgrundtief ächzend erhob er sich, rief nach seinem Buggy und schickte einen Leoleo nach einem jungen Mann, einem gewissen Herrn Gerhart Ollendiek, der sich seit Sonnenaufgang in der Nähe befand und auf unauffällige Weise darauf wartete, daß er, der Amtmann, etwas für ihn tue.

Gerhart war bald zur Stelle. – Der Amtmann saß bereits, Zügel in der Hand, auf dem Buggysitz, den er erschöpfend auszufüllen schien. Die heruntergeschlagene Krempe des Panamahutes ließ ein Stück des rosigen Nackens frei und gab der runden mit schneeweißem Linnen bezogenen Gestalt das Gepräge eines wohlbekömmlichen Pilzes. Doch da die Körperlichkeit Mr. Harrigans ebenso elastisch war wie sein irisches Herz, fand Gerhart Platz neben ihm. Der Amtmann schnalzte leise, mit freundlichem Geräusch, und das Pferdchen zog an.

Unter dem Topfhut hervor betrachtete er seinen jungen Begleiter von der Seite. Dann sagte er – in anheimelndem breitem Brogue –: »Füllen mir mal meine Pfeife; eh? Kann die Hände nicht freibekommen.« – Die erste Furt von Sale‘ia kam; da hieß es aufpassen. – Gerhart pflückte die Pfeife vorsichtig ab, klopfte sie aus, stopfte sie neu und setzte sie an ihren Platz zurück, während das seichte Wasser der Furt an den Rädern emporspritzte. Auch das Entzünden gelang ihm; unter der Pilzhaube qualmte es auf.

In Sale‘ia rannten halbnackte Kinder herzu und hängten sich an die Speichen. Der Amtmann entfernte fünf mit dem Peitschenknopf und winkte zwei herauf. Das ältere, ein Mädchen, setzte sich Gerhart auf den Schoß; das jüngere verkroch sich zwischen den Knieen Mr. Harrigans. Es war, was auffiel, blond zu braunem Teint; – er behandelte es auf väterliche Art, und es wollte Gerhart scheinen, als habe dies irgendwie eine tiefere Berechtigung . . . Latū 122 hingegen, das kleine Mädchen mit ungekämmtem Struwwelkopf, duftete restlos nach Samoa.

»Wissen Sie: Sie gefallen mir,« sprach Mr. Harrigan plötzlich. »Ich meine die Weise, wie Sie sich eingestellt haben. – Ich kriege sonst immer Leute mit ›Empfehlungen höheren Orts‹ auf den Hals geschickt; verdammt, diese ›Empfehlungen‹. – Ich bin ein alter Mann.« – Und er dachte daran, daß er in ein oder zwei Jahren die Füße auf ein Kamingitter in Auckland legen werde, in Gesellschaft seiner Freunde O'Leary und Kirkpatrick. – »Ich habe immer meine Pflicht getan; Straßen und Brücken gebaut, in Letui, in Tufu . . . Immer ein menschliches Regiment geführt . . . Aber zum Teufel, ich kriege keine Subsidien mehr. Man wird schauderhaft stramm in Berlin. Was soll ich jetzt nicht alles vorstellen: Jurist, Doktor, Seelsorger . . . Bin ich ein Vogel? – Kann ich überall auf einmal sein?Mr. Harrigan kopiert hier das irische Parlamentsmitglied: »Am I a bird who can be at two places at once??« . . .«

 

Das Buggy rollte jetzt auf der Strandstraße, deren rechte Seite, von einer niedrigen Tonganer-Mauer gesäumt, steil ins Meer abfiel. Links zog sich ein schmaler Gürtel von Palmen entlang, der sich verwildernd mit dem Busch vermählte; und hoch darüber dunkelte der Urwald, hinansteigend zum Tolua‘i‘ava.

Man fuhr eine gute Strecke im Schatten dahin. Safotu war still, als sie anlangten; kaum aber ward das Knirschen der Räder auf dem Sand vernehmbar, als sich in allen Hütten eine lange Reihe herausgewandter lächelnder Gesichter zeigte, die in der Dämmerung unter den Dächern wie helle Flecke schwankten. Ein großer Mensch trat an das Buggy heran; sein Gesicht war wie aus Teakholz geschnitzt. Ein eisengrauer tabakgelber Schnurrbart, durch ein chronisches Nervenzucken gleichsam aus der Balance gebracht, füllte den Raum unter einer Habichtsnase mit messerscharfem Sattel. Die Gestalt stand zunächst eckig und unbeteiligt da; dann lehnte sie sich gegen die Wagendeichsel. 123 Damit, daß Kehllaute unter dem Schnurrbart entstanden, trat ein Mund in Erscheinung, dessen Kleinheit ein seltsames Mißverhältnis zum Kinn hatte; – dies Kinn, groß und knochig, wirkte als viel zu mächtiger Hebel, verglichen mit den ärmlichen Lauten, die es hervorbrachte . . .

Die Unterhaltung war beendet. – Der große Mensch trat von der Deichsel zurück; es sah dabei aus, als setze er jedes Glied einzeln in Tätigkeit; gruppiere sich gewissermaßen um . . . Zum Abschied nickte er kurz; doch nicht in vertikaler Richtung, sondern indem er mit dem mächtigen Kinn nach seitwärts in die Landschaft fuhr. Dann, schlendernden Ganges, verschwand er wankend zwischen den Palmen.

Mr. Harrigan fuhr weiter.

»Der alte Stubbs«, meinte er, »hat anscheinend schon wieder einmal zu tief ins Glas geblickt; dabei ist und bleibt er aber vollkommen Gentleman. Er tut mir jedesmal leid, wenn ich ihn sehe. – Er überwacht hier gerade die Ablieferung eines Kirchendaches im Auftrag von MacGrew. Der hat jetzt amerikanisches Wellblech eingeführt, um die Gegend zu verschönern.« Er grunzte. »Aber was will man . . . es gibt dem Manne zu tun . . .«

Er sah betrübt aus und verlor in der Folge kein Wort mehr über Mr. Stubbs. Überhaupt trug er eine Nachdenklichkeit zur Schau, die sich durch keinen Zwischenfall lüften ließ; nur ab und zu richtete er ein samoanisches Wort an den blonden Kinderkopf, der zwischen seinen Knieen hervor mit weltenschwerer Eindringlichkeit an ihm emporstarrte, und an die braunen Finger, die seine Uhrkette am Gürtel mit zäher Geduld zu enthaken suchten – oder er drehte die runden wasserblauen Augen auf die Seite, versteckt unter der Hutkrempe, und versenkte sich mit seltsamem, fast schwermütig-erzürntem Ausdruck in Gerharts Profil.

In Fatavalu, Safune, befand sich eine Süßwasserquelle am Strand; die hatte Mr. Harrigan durch sinnreiche Anordnung von Lavabrocken und Bestreuen des Bodens mit 124 Korallenkies zum bequemen Bassin umbauen lassen. Er deutete mit der Peitsche darauf. »Dort ist mein Badezimmer,« sagte er. – »Wir sind am Ziel.« – Die Kinder blieben im Buggy, während er, von Gerhart unterstützt, herabkletterte.

Die Ankunft des »Kovana Aligano« hatte sich mit schier elektrischer Schnelligkeit herumgesprochen. Er fertigte eine Gruppe von grinsenden Dorfältesten ab, die sich zur Begrüßung herbeimachten, schüttelte da und dort eine Hand und begab sich unverzüglich zum Baden.

Diese Erholung des Amtmanns war zwar eine ziemlich regelmäßige Angelegenheit, wurde aber jedesmal wieder wie ein öffentliches Schauspiel genossen, das immer neue Überraschungen versprach. Deshalb war der Stamm der umgestürzten Palme in der Nähe dicht besetzt von Kindern, Jungfrauen und alten Vetteln. Voll kichernder Vorfreude, erschüttert von Albernheit, drängten und zwängten sie sich um die besten Sitze. Eine unsichtbare Linie, von Höflichkeit gezogen, verhinderte die Zuschauerschaft, sich mehr als etwa zwanzig Schritte dem erwarteten Schauspiel zu nähern.

Nur eine von den Alten schien ein Privileg zu genießen. Sie erschien mit zwei schneeweißen Badetüchern und zwei Lavalavas und breitete sie sorgsam auf den runden Steinen aus. – »Diese Dame wird uns bedienen,« schmunzelte der Amtmann. »Sträuben Sie sich nicht; es ist die einzige Freude ihres Alters. Seit zehn Jahren tut sie das . . .«

Die Greisin wurde jovial begrüßt und ließ die Augen unter einem Gewimmel von Runzeln versinken; nahe der eingefallenen Nase geriet ein tabakgelber Zahnstumpf in einsames Entzücken. Sie war uralt . . . Die Sage ging, daß die Berührung mit der märchenhaft rosigen Haut Mr. Harrigans, die abzutrocknen ihres Amtes war, ihr jedesmal neue Lebenskraft einflöße; daß sie sich dadurch seit langem künstlich am Leben erhalte . . .

Dieser Glaube mochte berechtigt sein; denn sie glich einer 125 krummen Wurzel, in der sich rätselhaftes Leben regte, und warf den Schatten eines zwölfjährigen Kindes . . .

Gerhart und der Gouverneur entkleideten sich. Mit erwartungszitterndem Ernst paßte die Alte den Moment ab, wo sie ihnen die beiden violetten Lavalavas reichen durfte –eine eindrucksvollere Szene wäre keiner erprobten Hofdame gelungen, der solche Funktionen lebenslang vertraut sind. Mr. Harrigan hockte wie ein großer weißer Frosch auf dem Grunde des kristallklaren Beckens, während Gerhart noch auf dem Steinwall sitzen blieb. Von der Flut zurückgebliebene oder verirrte Meerfische, purpurn, grün und blau, schossen in ratlosem Zickzack an den Rändern des Bassins umher. Mr. Harrigan lachte und deutete nach der umgestürzten Palme: wo soeben noch eine Reihe von Brüsten gewesen, zeigten sich jetzt runde, von stoßweißem Prusten erschütterte Schultern. – Sobald aber die Augen, verstohlen zurückrollend, von dem Anblick der beiden Pa‘alagi naschten und auf Gerhart trafen, blieben sie gleichsam im Nacken stehn . . . Des Kovanas altvertraute Fülle hatte einen neuen Hintergrund erfahren; – Gerharts schlanker, mattweißer Körper erregte mehr Bewunderung als Humor.

Er ließ sich hineingleiten; und eifriges Flüstern trat an die Stelle haltlosen Kicherns. Mr. Harrigan winkte, und ein halb Dutzend Kinder, die darauf gelauert zu haben schienen, purzelten Gerhart nach. Es war ein maßloses Gejubel und Geplantsche; ein Wirbel von elfenbeingelben oder kaffeebraunen Gliedmaßen und schwarzen Lockenstrudeln, aus denen Silber spritzte . . . Und dieser Wassertanz hüllte Gerhart ein wie eine Welle von betäubendem Leben. Er fühlte glatte Leiber eidechsenartig zwischen seinen Knieen hindurchschlüpfen und sich über seine Brust winden; es umzappelte ihn, stieß ihn, rieb sich an ihm von allen Seiten . . .

Hier, zum erstenmal, lüftete sich die Nachdenklichkeit des eirunden Kopfes mit der rosigen Haut, und er gab ein 126 beträchtliches weithindröhnendes Gelächter zum besten. Darauf erließ er einen samoanischen Befehl, und die Kleinen knüpften ihre Lavalavas ab, bliesen sie auf, bis sie wie Ballons auf dem Wasser schwammen, betteten sich darauf und ließen sich strampelnd treiben. Die Sonne lockte zarten Dampf aus den nackten geschmeidigen Kinderkörpern . . . In einer Sprühwolke von Gekreisch und funkelndem Tau stiegen die beiden Pa‘alagi aus dem Bade.

Die alte Person hatte die Frottiertücher in Bereitschaft und machte sich alsbald über den Amtmann her. Mit zärtlicher Gründlichkeit glitten die runzligen Finger über die gepolsterten Schultern und den breiten Rücken des Machthabers . . . Dann, unaufhaltsam wie das Verhängnis und gleich einem Kobold grinsend, ging sie daran, sich mit Gerhart zu befassen. – »Lassen Sie ihr den Spaß,« sprach der Amtmann und zwinkerte ihm zu.

Die Alte war wie außer sich. Sie stimmte, während sie das Tuch um Gerharts Schultern legte, mit verrosteter Stimme einen Singsang an. – »Das Lied ist ausgestorben; altsamoanische Melodie,« erklärte der Amtmann. »Wenn sie sich aufregt, bekommt man noch allerhand interessante Sachen aus ihr heraus; aus der Zeit, wo man noch die Flöte blasen konnte . . . Sie erklärt Ihnen gerade ihre Liebe.« – Gerhart spürte eine Beklemmung. Die graugelben Arme, wie verschrumpfte, auf schauerliche Art lebendige Wurzelstränge, preßten sich um seine Brust, und die tastenden Knochenfinger jagten ihm Frost durchs Gebein; so erklärte er sich sehr bald zufriedengestellt . . . Der Amtmann übersetzte ihr: ›Man sei entzückt über die Bedienung; man fürchte jedoch sie zu ermüden und es sei gut!‹ – worauf die Greisin widerwillig abließ und sich kreuzbeinig auf den Boden hockte. – Als sei ein jahrzehntelang verspätetes Feuer mit verzehrender Heftigkeit in sie gefahren, ließ sie ihre Augen affenartig flink über jede Bewegung Gerharts wandern; kratzte sich im dünnen eisgrauen Haar und nahm die Badetücher zu sich, die sie abwechselnd 127 entfaltete und zusammenlegte. Dann begann sie mit näselnder Stimme Verse zu singen, zwischen die sie lange Tiraden flocht . . .

»Wenn Sie wüßten, was sie sagt,« meinte Mr. Harrigan, »würden Sie eitel werden; sie hat in ihrem Leben noch keine so ausgiebigen Komplimente hervorgeholt wie Ihnen gegenüber . . . Damit verglichen hat sie selbst mich wie einen Waisenknaben bedacht.«

Sie waren angekleidet und gingen zum Buggy zurück. Die Alte blieb hocken. Es war etwas Unheimliches in der uhrwerkhaften Art, mit der sie fortfuhr die Tücher zu entfalten und wieder zusammenzulegen. Sie glich dem Gebilde eines Traumes, der Zerrbilder von Menschen entstehen läßt, die ähnlich sinnlose Gebärden machen – und wir, im Innersten, glauben sie dennoch schaudernd zu begreifen . . .

 

Der Amtmann war weit besserer Laune, als man zurückfuhr. Die beiden Kinder nahm er wieder mit, um sie nach ihrer Spazierfahrt in Sale‘ia abzusetzen. Dann, endlich, brach er seine Einsilbigkeit mit einer Ankündigung, auf die Gerhart geduldig gewartet hatte. –

»Zurückkommend auf die ›Empfehlungen‹ von denen ich vorher sprach, – so sind in den letzten Jahren dann und wann Leute zu mir gekommen, ›Ethnologen‹, wie sie sich nannten; ›interessiert für Sitten primitiver Völker‹; auch ›Gelehrte‹, wenn Sie wollen, die in schöner Harmonie mit diesem ›sanften Volke hier zu wirken‹ gedachten; schlechtangezogene ahnungslose Stubenfiguren mit fertig erstandener Tropenausrüstung . . . Mein lieber Herr Ollendiek, was für eine Menagerie beherbergt doch Ihr Vaterland! – –

Sie hatten zu Hause die ›samoanische Sprache‹ erlernt; selbstverständlich gab ich ihnen zwei farbige Boys mit; die machten ihre eigenen Preisaufschläge und ließen ihre Verwandtschaften in den Dörfern profitieren bis zu 128 Vettern sechsten Grades . . . Als die ›Malaga‹ zu Ende war, hatten die Herren Kiefernstarrkrampf vom ewigen Grinsen; von Gebräuchen und Gepflogenheiten waren ihnen nur die bekannt geworden, die mit dem Schwund ihrer Kasse zusammenhingen. In den Artikeln blieb Samoa die ›Perle der Südsee‹. Andere kamen, denen ging's genau so. – Jedesmal gab ich ihnen dieselben Boys mit . . .

In Ihrem Falle jedoch mache ich eine Ausnahme; Sie bekommen einen Fachmann. – Er ist zwar auch nicht geradezu das, was man Altruist nennt; aber ich esse meinen Kopf darauf, daß er ein Fachmann ist. – Er wird heute Abend in Fagamulu sein . . .«

»Wie sieht er denn aus?«

»Er trägt rote Haare und ist auffallend dürr . . . Er ist aber recht amüsant; und wenn ich mich einmal gut unterhalten will, dann bitte ich ihn auf Besuch. – Er ist dem Whisky nicht abgeneigt; das schadet aber weiter nichts im persönlichen Verkehr mit ihm; nur freilich in seinen Stellungen hat er sich nie lange gehalten, und das ist auch der Grund, weshalb er ab und zu einen kleinen Nebenverdienst brauchen kann . . . Wenn ich mir für Sie jemand heraussuche, dann weiß ich, wen . . .«

»Sie verwöhnen mich, Mr. Harrigan . . .«

»Verwöhne ich Sie, so verwöhne ich Sie . . . Tragen Sie darüber keine Sorge. – Übrigens: der Mann redet gern und viel; mein Gott, kann der Mann reden. Er braucht nur jemand, der ihm zuhört; also wenn Sie das tun, haben Sie ihn in der Tasche. – Um sieben Uhr, schätz ich, kommt er an; ich habe das Motorboot heute früh herübergeschickt.«

Gerhart machte einen Anlauf, zu danken . . .

»Erwähnen Sie das nicht, Herr Ollendiek. – Ich bin nicht umsonst die Regierung hier; und glauben Sie mir: ich mache mir ein Privatvergnügen daraus, etwas für Sie zu tun . . .«

129 Nach der Rückkunft in Fagamalu begab sich der Amtmann in das geräumige Samoahaus, in dem er zu schlafen und sich umzukleiden pflegte. Gerhart hielt sich auf der Wiese vor dem Amtshaus auf.

 

Was Grothusen betraf, so war er am Morgen desselbigen Tages in einer Verfassung erwacht, die ihn noch um einen Grad weniger tolerant mit seiner Umgebung stimmte als gewöhnlich. Zum Teil kam das daher, daß der reichliche Alkoholgenuß des vorhergehenden Geburtstages es ihm zwingend nahelegte, von dem täglichen »Augenöffner« abzusehn und sich mit schlichter Kawa zu behelfen.

Mr. Harrigans Brief, durch einen mit den Reichsfarben beschärpten Leoleo überbracht, fiel dämpfend in eine Stimmung, die sich in fliegenden Gegenständen, besonders in einer krachenden Wiederbelebung des altersmüden Stuhles äußerte. Tai, den Kopf witternd gebeugt, wagte sich nach einer lebhaften Umkreisung der Hütte wieder in des Hausvaters Nähe. Denn er stand, sein zerknülltes Lavalava mit abwesenden Gebärden ordnend, seltsam besänftigt da und nahm Kenntnis von einem Handschreiben, auf dem ein rotes Siegel prangte.

Rasche Entschlüsse schienen ihn zu durchzucken. Er kleidete sich unverzüglich an und ging hinweg. Den Brief hielt er in der Hand, während er munterer denn je dahinschritt; und in der Tat bewährte sich dies Papier als ein Sesam . . . Im Laden von Hopkins ließ er fallen, ›sein Freund, der alte Harrigan, beanspruche ihn einmal wieder mit dem Ersuchen um eine Gefälligkeit, deren diskret-politischer Charakter ihm leider eine nähere Erläuterung erschwere. Doch zwinge ihn ihre Wichtigkeit, sich mit einem neuen Anzug auszustatten‹. Der Händler sah das ein. Von dem Regierungssiegel hypnotisiert, rechnete er sich's zur Ehre, ihm jeden Kredit aufzutun . . .

130 So verließ Grothusen – Gegenstand kinnschlaffer Andacht für zehn schwarzhaarige Köpfe, die Türen und Fenster füllten – gehüllt in strahlendes steifgebügeltes Linnen, den Laden und verfügte sich, prächtig unterstützt von zwei buntbeschärpten Leoleos, von der »Bismarckbrücke« herab in das harrende Motorboot. Auf der Überfahrt überlas er den Inhalt des Schreibens zum drittenmal. – Demnach sei ein junger Herr von Distinktion auf Sawaii eingetroffen; derselbe beabsichtige, mit Hilfe eines kompetenten Führers, eine Fußwanderung um die Insel zu unternehmen.

Beim Lesen dieses Briefes kamen Grothusen verschiedene Gedanken.

Wiewohl er gänzlich damit einverstanden war, daß man so beträchtlichen Apparat seinethalben in Bewegung setzte, erfaßte ihn doch eine etwas unbehagliche Neugier, was der alte Harrigan diesmal bezwecken möge. Frühere Mitteilungen zwischen den beiden hatten sich auf ganz informelle Weise erledigt. Wenn er ihn jetzt durch zwei Leoleos und jenes prächtig lackierte Beförderungsmittel der Regierung abholen ließ, so wollte er jedenfalls damit andeuten, daß man an den offiziellen Menschen in Grothusen, an den Europäer, appelliere. Man mutete ihm also eine Rolle zu, die er ja zweifellos glänzend beherrschen würde; aber trotzdem . . . Ein klein wenig bessere Vorbereitung darauf hätte immerhin nichts geschadet!

Um den Kern der Sache zu treffen: man erinnerte sich höheren Orts an ihn. Ha, wäre es nicht auch auf die Dauer schwierig gewesen, ihn zu ignorieren? – Was? – Ob es nun in diesem Falle ein preußischer Regierungsrat war, einer von denen, die mit abgehackt-gequetschter Stimme tieferen Kreaturen überrumpelnde Schicksale zumessen; etwa mit der Begründung: »Na, Sie könnten sich auch mal nützlich machen . . .« – oder ein jovialer alter Irländer, der selber darüber erstaunt war, wie er zu dem Titel: »Kaiserlicher Amtmann« kam, das verschlug nichts. – Es war »höheren Orts«. – Sein Wesen trug daher den Stempel 131 des Empfangenden. Im Unterbewußtsein des Buchhalters rührte sich das dumpfe Gefühl des Durchschnittsdeutschen, selbst Fußtritte, »höheren Orts« korrekt verabreicht, seien unter Umständen eine Schmeichelei; ist dies doch schließlich auch ein Beweis, daß »man« sich seiner »erinnert« . . .

Auf der andern Seite erkannte Grothusen das Praktische an der Angelegenheit. Er hatte zwar noch nie mit Touristen näher zu tun gehabt, sagte sich aber, daß er diesmal mit Hervorkehrung einer gewissen Würde und Entfaltung seiner geheimeren Inselkenntnisse genug Pfunde Sterling einheimsen könne, um sich seine Bärenhaut und seinen täglichen Magentrost für ein weiteres halbes Jahr sicherzustellen. – Ach, diese Firmenchefs! – Diese wabblig-gedunsenen Bierschwämme! – Diese Halfcaste-Snobs! – Dieser Amerikaner mit dem steinernen Herzen! – Er würde nicht mehr nötig haben, ihnen mit der Bitte um das Almosen einer Anstellung die Türen einzurennen . . .

Seine magere weiße Faust schloß sich krampfhaft um die Geländerstange. – Nur herausholen, dachte er dabei, was herauszuholen ist . . .

 

Durch die Reihe der Leoleos, die sich auf einer Bank vor dem Amtshaus von der Abendsonne bescheinen ließen, ging eine Bewegung. Einer erhob sich und deutete mit dem Ausruf »Kotūsa!« aufs Meer hinaus; Gerhart erspähte auf dem funkelnden Horizont ein schwarzes Pünktchen, das sich schnell wachsend näherte. Fernes Summen schwoll zum Knattern an, verlangsamte sich und starb dahin. Ein Motorboot schoß mit weicher Gleitkraft durch die Lücke des Riffs und bremste in der Mitte des Hafens.

Die Leoleos stürzten sich selbsechst auf ein Ruderboot am Strande, machten es flott und gingen gleichsam zu einer wilden Attacke über. Ein Lied sprang auf; befördert von seinem sonoren Refrain eroberten sie ihr Ziel und halfen einer weißen Gestalt, spinnengliedrig zu ihnen herüberzusteigen.

132 Als der Erwartete an den Strand stieg, ging Gerhart ihm entgegen. Die Gestalt streckte die Brust heraus, schritt stelzend heran, schleuderte, mit der umfassenden Herzlichkeit zweier nach oben gedrehter Handteller, beide dürren Arme wagerecht nach vorn und sprach mit eingedrücktem Kinn und einem tiefen Baß, der vor Leutseligkeit bebte: »Mein junger Wandergefährte . . .?« – Die ganze Betonung schien auszudrücken: »Nur keine Sorge; zwei Kerle wie wir, die werden sich schon vertragen; was?«

Gerhart erwiderte den Händedruck. Ein unbestimmtes Frösteln kam ihn an und eine Art von blitzartiger Ahnung: Wo habe ich dich schon gesehen? . . . Doch überwand er das Gefühl so schnell, als es ihn streifte.

Mr. Harrigan indessen, ausgeschlafen und wie aus dem Ei gepellt in einem Abendanzug aus gelber Rohseide, tauchte schmunzelnd zwischen den Palmen auf und begrüßte den Kömmling. Grothusen setzte zu demselben leutseligen Krähen an, dämpfte sich aber in der Folge zu einer leicht mit Vertraulichkeit gemischten Bescheidenheit, die offenbar doch besser am Platze war . . . Hierauf überließ der Amtmann die beiden einander; er müsse noch einen Blick auf die Vorbereitungen zur Mahlzeit werfen . . .

Er verfügte sich in das weitläufige Bungalow, das in der Nähe des Amtshauses lag und zum Empfang von Gästen diente. Er prüfte die Temperatur einer sehr alten Flasche Chateau-Lafitte, entstaubte ihre Etikette und blickte dabei aus dem Fenster. Er hatte einmal den Schwur getan, diese Flasche nur zu einer ganz besonderen, einer umwälzenden Gelegenheit hervorzuholen.

Fern auf dem Weg leuchtete Gerharts blonder Kopf, getroffen von einem letzten Rest des Lichtes. – Des Amtmanns runde blaßblaue Augen blickten starr hinüber.

»Wer ist es,« dachte er – »der zu so später Unzeit in mein Leben einbricht – und mich wünschen läßt, er wäre mein Sohn . . .?«

Er zog den Kork aus und schnupperte an der Blume. Die 133 Zikaden draußen hoben ihr messerscharfes Schrillen an. Hier war es warm um ihn; hier hatte er seine inhaltlose warme Sicherheit . . . Und wenn diese Wärme einmal nicht mehr stichhielt, dann gab es ja immer noch den Kamin in Auckland . . .


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