Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Die Pflanzung des Misi Kuma

Als sie Faga durchschritten, gab Grothusen mit Händeschwenken und kurzen Zurufen Proben seiner Beliebtheit zum besten. Graubärte im Hause des Dorfschulzen, entzückt aufächzend, sahen kopfwiegend hinter ihnen her; man hörte das Peitschen ihrer Fliegenwedel auf den Matten. Primitive, weißgekalkte Kirchen glänzten aus dem Grün der gut gehaltenen Kokuspflanzungen. »Diese Gegend ist ein wahrer Tummelplatz für die unglaublichsten Sekten,« schnarrte Grothusen kurz. »Wo früher der amüsanteste 176 Unfug herrschte, ist jetzt ein reiner Kirchhofsfrieden.« Er spuckte aus.

Auf einmal ertönte das Knirschen eines Buggys hinter ihnen, und eine weiche, das R rollende Stimme erkundigte sich: »Want a lift, Mr. Grothusen?«‹ – »Hallo, Joe!« schrie Grothusen. – Zu Gerhart gewandt: »Dies ist mein Freund Godinet.« Beide kletterten auf den Sitz und nahmen den Halfcaste in die Mitte. Grothusens Laune war glänzend. »Bequem, bequem!« rief er auf englisch, wobei er Godinet einen väterlichen Klaps auf die Schulter gab. »So kriegen wir unser Frühstück in Safotulafai.«

Der Halfcaste versank in ein langgezogenes Lächeln, das eine Reihe fabelhafter Zähne entblößte. Sein Benehmen Grothusen gegenüber war unterwürfig mit einem Stich ins Tastend-Vertrauliche. Er war mattweiß, und die Hände, die die Zügel hielten, ließen den Wunsch in Gerhart reifen, ihn etwas weiter entfernt von sich zu halten, was aber der enge Sitz verhinderte. Es waren Finger, deren jeder eine kleine Rückenbürste von schwarzen Härchen trug bis herab zu den bläulichen Nägeln, und die die Eigenschaft zu haben schienen, sich um die Gegenstände, die sie faßten, herumzuwickeln. Die Kniee Godinets stachen spitz aus verflickten Hosen von grauem Flanell. An den Füßen trug er Sandalen. Sein Gesicht war glatt; seine braunen Augen schliefen unter glanzlosen Wimpern von ordinärer Schwärze. »Sicher hat er verfilzte Haare,« dachte Gerhart; »sicher hat er jene Art von Scheitel, der sich wie ein nackter Streifen bis zum Hinterkopf windet.« Godinet trug jedoch einen Topfhut aus Palmfasern und zeigte seinen Scheitel nicht.

Mit der Zeit geriet er ins Schwatzen: Geschäftsaffären. Seine Sprache wimmelte von einheimischen Ausdrücken. Sobald er englisch sprach, rollten alle Konsonanten, alle kurzen Worte darin von seinen Lippen, als trennten sich die Kinder seines Hirns widerwillig von einem Daunenpolster und plumpsten auf den Boden, wo sie feist und träge 177 weiterspielten. Er gab der Sprache einen ganz neuen Charakter.

»Ein Staatsstreich, Doktor!« schrie Grothusen und schlug Godinet klatschend auf die Kniee. »Ich erfahre da eben, daß McGrew hereingelegt worden ist – von Waldemar Zierlich in Vaipouli! Der alte Yankee stinkt von Geld, hat vierzig Stationen hier . . .« Er strahlte und wandte den Kopf mit seligem, scharlachfarbenem Gesicht ruckweise hin und her, wobei er seine Brille wie gewöhnlich an seinem Knie putzte. »Es herrscht ein übler Favoritismus bei ihm; ein Tyrann ist er auch . . . ha, das gönne ich dem alten Gauner!« Er setzte die Brille auf, sie blitzte.

Der Halfcaste drehte, während er die spärlichen Lebensgeister des Pferdes mit Zungenschnalzen anregte, seine Pupille auf die Seite und zwinkerte Gerhart mit dem linken Auge zu. Es war kaum bemerkbar; ein schattenhaftes Zucken des Augendeckels. Dann kroch die Pupille wieder langsam an ihren Platz zurück.

Das Pferdchen lief emsig weiter, doch merkte man ihm Ermüdung an. Es hatte Mustangblut in den Adern, doch seine Ausdauer litt darunter, daß man seine Ahnen seit Generationen auf eine wenig wählerische Art durcheinander gezüchtet. ›Ich passe nicht hierher,‹ sagte sein plumper Kopf. Sein dicker Wildpferdpelz war schweißgetränkt. Es war ihm zu bunt hier, zu heiß. Es beugte sich und schnob zwei Mulden in den allzu weichen Sand. Es stand zitternd und glotzte halb erblindet in das Farbengetümmel. ›Ich müßte Steppe haben, harte Steppe und Sturm . . .‹ ahnte es mit dem Rest seiner kümmerlichen, von Lauheit umschnürten, von dickem Blut erstickten Seele . . .

Sie waren in Safotulafai. Der Halfcaste sprang geschmeidig ab und lenkte das Buggy zu einem kleinen Bungalow, in dem sich ein Laden mit allerhand billigen Waren befand. Ein halb Dutzend Samoanerinnen saßen darin vor dem Verkaufstisch auf dem Boden, in billige Buntdruckkattune gewickelt, und betrachteten ein Kind, dem die eine die Brust 178 gab. Godinet trat ein und räumte dabei drei der Weiber mit dem Fuß auf die Seite. Spitzes Schimpfen erhob sich, das in ein breites Lächeln überging, als man Grothusen und Gerhart gewahrte. Die jüngste Person zog die Brust aus dem Mund des Kindes, mit einem Geräusch, als ziehe sie einen Stöpsel aus einer Flasche. Sie starrte töricht auf die Fremden und verhüllte sich halb. Auf einmal prustete sie mit einem albernen Kichern heraus.

»Meine sechste Frau,« sagte Godinet auf englisch. »Tuaoloa.«

»Der ›Passatwind‹!« bestätigte Grothusen. »Und das Kind da? Ist das deins, Joe?«

Godinet hatte sich hinter den Ladentisch begeben und klapperte mit Konservenbüchsen. Jetzt bückte er sich und wurde unsichtbar. »Sure!« erwiderte er, »ich glaube, das fünfzehnte.«

Grothusen brach in ein krachendes Gelächter aus. »Sehen Sie sich den Kerl an, Doktor!« schrie er aufgeräumt auf deutsch. »Der verliert keine Zeit, sich fortzupflanzen. Als ich ihn kennen lernte, waren es schon zwölf. Na, er schlägt wieder ganz auf die farbige Seite zurück . . .«

Das Kind begann zu jaulen und sah ihn mit einem großen Auge an. Es war braun, nur das Auge war hellgrau. »Soia!« zischte der ›Passatwind‹. »Soia Kotūsa!« – Das Kind verstummte, und der Halfcaste richtete sich wieder auf.

»Mit Kotūsa bist du nicht gemeint, Grothusen,« erklärte er mit bescheidenem Zögern. »Sie spricht mit dem Kind. Das Kind heißt Kotūsa – nach dir. Ich habe es so genannt. Du hast mir einen Dienst geleistet, und ich habe damals geschworen, meinen nächsten Sohn nach dir zu nennen . . .« Er blickte mit einem wesenlosen Blick nach der Richtung, wo sich das Baby befand.

Grothusen schien betroffen. Dann, als er schwarzen Tee, zwei große ›Mammy-apples‹ und eine geöffnete Büchse mit Lachs vor sich sah, schienen ihn Erinnerungen zu 179 bewegen, und eine Miene nahm den Ausdruck würdevoller Zufriedenheit an. »Sehen Sie, Herr Ollendiek,« rief er plötzlich, während er auf eine gefräßige und einheimsende Weise kaute, – »sehen Sie, das ist das Schöne hier in Samoa: Eine gute Tat fällt nicht unter den Tisch! Goldene Herzen überall!«

Er spülte sich die Kehle mit Tee frei.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, wie populär ich hier bin?!«

 

Das ist im Schulhaus der katholischen Maristenbrüder in Safotulafai. Es ist vier Uhr nachmittags. Die Schüler sitzen der Größe nach: ganz vorn die Kleinsten, dann die Vierzehn- bis Sechzehnjährigen, und ganz hinten die langen, Ungeschlachten, die schon Tätowierung tragen. Vorne steht ein junger Mensch, ein Bruder mit einem Gesicht wie Milch und Blut, und schreibt Buchstaben auf die Tafel. Er trägt eine schwarze schmutzige Soutane, die bis zu den Knöcheln reicht. Er ist schläfrig; es ist nicht viel Feuer in seinen Bewegungen.

Das Schulzimmer, lang und flach, ist nach allen Seiten offen und von einer breiten Veranda umgeben.

Auf der linken Seite ist ein breites Glänzen, durchschnitten von drei Balken, die als Säulen dienen. Die Zuckerrohrjalousien sind ganz in die Höhe gezogen und rascheln leise mit ihren toten Blättern. Denn es kommt eine Brise aus dem Glänzen, es sind weiße lodernde Flammen, die statt Hitze paradiesische Kühle hereinhauchen. Macht man die Augen zu, so ist alles hell purpurn. Öffnet man sie und wendet sie zum Licht, so tritt es eins nach dem anderen hervor: Zunächst die gelben Strohfiedern der Jalousie, dann ein paar junge oder halbverkrüppelte Strandpalmen, dann zwei oder drei zackige Lavafelsen und dann – dann das ätherischzitternde, kristallen im Sonnennebel schwimmende Wasser. Vom dunkleren Türkis, von einem blau durchstrahlten Rand, in dem weiße, schneeige Flocken wimmeln, erblaßt es wachsend zu einem zarten Grün; aus 180 Funkenschwärmen keimen silberne Silhouetten: Apolima und Manono. Und ganz am Rand eine Kette von weichen Hügeln: Upolu. Das ganze Bild flimmert, als sei es zauberhafter Augentrug; als weiche es bei schärferer Betrachtung zurück. Es ist ein Traum, der da draußen webt, ein brünstig nach Stoffwerdung ringender Wunsch, der auf einer seligen Übergangsstufe zögernd flimmert, als sei er bereit, sich sogleich wieder in Licht aufzulösen; als hasse er es, zu nackter Form zu gerinnen, als scheue er die abschätzenden Sinne, scheue Entkleidung und Entzauberung.

Und die hundert Schüler, die auf ihren Holzbänken hocken, sind nicht in der Schule. Ihre halbnackten, braunen Körper sind wohl da; und ihre Zehen, unbeschäftigt, krümmen sich und spielen miteinander. Wie schlankgliedrige sammethäutige Tiere, die man in Bretterverschlägen fing – so hocken, lehnen, singen und schnauben sie in ihren Bänken. Man hört, wie die silbernen Schaumünzen mit dem heiligen Aloisius, der Mutter Gottes, oder sonst einer Pa‘alagi-Gottheit mit hellem Klang an die Bänke schlagen; wie die silbernen Ketten von den vorgeneigten Brüsten baumeln. Man sieht ihre schwarzen Zottelköpfe zucken und ihre Schultern erschüttert von verschlucktem Gelächter. Und doch sind sie nicht da. Denn ihre Seelen, die Seele des ganzen Raumes ist ein Abbild jenes verschwimmenden Funkelns da draußen, und ihre Gedanken zeichnen sich unbestimmbar ab, wie die silbernen Schatten der kleinen Inseln. Es ist eine bunte Folge.

Topu denkt:

Der Kovana Aligano, als er kürzlich der Mission einen Besuch gemacht, ist beim Absteigen vom Buggy gefallen, und beim Bad in der Süßwasserquelle am Strand hat er das Hüfttuch verloren und ist in eine spitze Koralle getreten. Er ist weiß und sehr fett, er hat große Verwünschungen ausgestoßen, und drei Männer haben Mühe gehabt, ihn herauszuheben . . .

181 Dem Voli fällt ein:

Im Hause des Famasino hat man vorgestern ein reizendes Gesellschaftsspiel getrieben. Sein Neffe Keisali ist unter das Fliegennetz zur Mali‘e gekrochen und hat in ganz tiefem Baß gesagt: »Tā te mo‘ë totōlo«, und sie hat erwidert: »I-o-e«; das hat sich zehnmal wiederholt, und das halbe Dorf ist gekommen. Sie haben Beifall geklatscht, und der Kopf, dann die Arme und zuletzt die Beine Keisalis sind unter dem Netz verschwunden . . . Keisali hat immer tiefer gelockt wie ein Kater, und sie hat immer langsamer gesungen: »I-o-e«. Das Fliegennetz hat wie ein Schiff geschwankt. Auf einmal hat sie erschrocken geschrien: »Ui, Ui«. Da hat man in der Runde mitgeschrien und vor Entzücken um sich geschlagen; alle haben das getan, auch ich. Plötzlich ist aber der Misi Kuma vorbeigekommen, und Keisali hat sich wie eine Eidechse auf der anderen Seite herausgewunden. Der Misi Kuma hat zornige Worte gesprochen, von Sünde und Buße, und sie haben an Ort und Stelle, wie sie dasaßen, zwanzig Rosenkränze beten müssen. – Ich aber singe lieber hundertmal: »O le pule lelei mali‘e« nach dem Kilikiti und haue dabei auf die Matte. Das darf ich beim Rosenkranzbeten nicht . . .

Bama erinnert sich:

Als sich die Mele neulich im Sili wusch, hat sie einen Gecko in ihrem Lavalava gefunden; da hat sie das Tuch von sich geschleudert und ist nackt in ihre Hütte zurückgestürmt. Dort haben der Alfosio und die anderen mit ihr das Steinchenspiel gespielt –, und niemand hat es erfahren . . .

Uelese denkt:

Usu Amosa hat neulich geschworen, er gehe nicht mehr auf dem Waldweg nach Tufu Gataivai; dort sei ein A‘itu. Der Misi Kuma hat ihm angeboten, mit ihm nach Tufu 182 zu gehen, wenn er nächstens Kollekten macht; aber Usu hat ein Kanu gekauft und glaubt nicht mehr an das Amulett von der Mission . . .

Lea träumt:

Den alten Pe‘i, gegenüber von der Kirche in Neiafu, haben sie betroffen, wie er sich zwei Kampferholzkisten vom Dachboden geholt hatte und die Gebeine seines Sohnes mit Öl putzteWenn ein angesehener Samoaner außerhalb seines Heimatdorfes stirbt und der Körper nicht transportierbar ist, wird er vorläufig dort eingegraben, und nach drei Jahren werden die Knochen ausgebuddelt und abgeholt, wobei die Familie seine Matten bringt. Die Dorfschaft übt reiche Gastfreundschaft und gibt ein fast vollständiges Begräbnis-Festmahl. Die Gebeine werden sorgfältig gereinigt, in Tapas gewickelt und nach Hause genommen. – Heutzutage werden sie wieder begraben; früher wurden sie in Kampferholzkisten gelegt, wöchentlich mit Öl geputzt und andächtig aufbewahrt. So traf ich einen murmelnden Alten in Alepata, der die Gebeine seines Sohnes liebkoste, ausschalt und um Verzeihung bat.; wie er sie ausschalt und um Verzeihung bat. Der Sohn ist vor zehn Jahren auf Upolu gestorben.

Wenn Pe‘i nicht ein so alter Mann wäre, müßte er eine schwere Abgabe in Sisipenis zahlen.

Und vorgestern und gestern haben sie den Suisala in Fagamalu auf alte Weise bestattet; das haben die Schwarzröcke hier in Safotulafai heute herausbekommen und sind böse, sehr böse . . .

Solcher Art sind die Gedanken, die im Sonnennebel schwimmen, der auf der Schülergruppe ruht. Ihre dunklen Augen wandern ziellos auf den Rücken der Vorderen spazieren, scheinen deren weich hervortretende Wirbel zu zählen; oder sie prüfen, ob die blauen Kreuzchen und Wellenlinien an den Schenkeln der Mannbaren gut geheilt sind; stumme Bewunderung waltet. Sie sind Knaben, blank und dumm. Aber die Älteren sind für sie ein erhabenes künftiges Stadium ihrer selbst. Die brauchen nicht zu schweigen, wenn alte Tulafale reden, sondern dürfen selbst ihren Senf dazugeben zu einem Thema, das schon von zehn anderen der Reihe nach abgewandelt ist. Die Finger schreiben mechanisch die steifen Striche nach, die der Laienbruder da vorn an die Tafel malt; aber manchmal werden Hütten daraus, manchmal eine Haifischangel, ein Tapamuster oder eine Kawabowle. Von dem, was sie schreiben, denken sie nicht viel. Sie schreiben: »Braust« und »Donnerhall« und »Vaterland«. Sie setzen Mißgeburten von Begriffen aufs Papier, die ihnen ewig unverständlich sind, und deren Schall an ihren Südseeohren 183 blechern vorüberklirrt wie der von leeren buntbeklebten Büchsen, die man auf den Abfallhaufen wirft. – – Da plötzlich geschieht etwas.

 

Veränderung tritt ein, wie ein plötzlicher Windstoß, der den Nebel zerreißt. Jäh schreckt die Inselseele aus dem Schlummer. Schritte werden draußen auf der Veranda laut, und geführt von Misi ›Kuma‹ treten zwei Pa‘alagi in die Stube. Und die Inselseele, aus hundert dunklen und unschuldigen Augenpaaren, brennt wie gemeinsame Flamme auf zu brünstiger Betrachtung.

Es ist nicht der Pater, dessen Kommen sie erregt. Es ist auch nicht Kotūsa, denn er ist bereits ein Bestandteil ihrer Phantasie – darin hat er recht gehabt! – Es ist der Anblick eines neuen Pa‘alagi, der erstaunliche Merkmale an sich trägt.

Käme er wirklich »aus dem Himmel«, sie wären nicht erstaunter. Er paßt nicht in das gewohnte Schema ihrer Hirne, nicht in das geläufige Bild, das sie in sich tragen. Er hat keinen Bauch, ist aber auch nicht dürr. Er trägt keine schmutzbespritzten Leinwandhosen, doch auch nicht steife, makellose, so von Stärke getränkt, daß man sie bei Bedarf in die Ecke stellen kann. Nein, er ist angetan mit Wollstrümpfen, niedrigen schwarzen Schuhen und seltsamen kurzen Hosen mit einer Garnitur von Knöpfen am Knie und an den Seiten gebauscht – nie zuvor erblickt! Aus dem weichen gelben Hemd kommen zwei eiserne gebräunte Arme mit weißen Händen.

Und das Rascheln der Hüfttücher, das Winden der hundert aufgescheuchten Körper, der rastlosen Hände wächst: Ist das der Kopf eines Pa‘alagi? Wo ist der harte kalkulierende Blick; wo die feisten Backen, der zusammengepreßte Mund? Wo die starrende Bürste auf dem kokusnußrunden Schädel, der ohne Übergang in einen wulstigen Nacken versinkt? Wo das Gebell, wo der finstere Unmut? Der rätselhafte, halb tückische, halb verlegene Unmut? –

184 Sein Hals steigt schlank und kräftig mit unbehinderter Bewegung aus der Öffnung des Hemdes. Die Arme sind nicht eckig nach innen gebogen oder »ordnungssüchtig« schlenkernd, sondern voll beherrschter Kraft. – Nein, das ist keine dieser vertrauten Erscheinungen, die mit verheerendem Lärm »Inspektionsfahrten« halten, und wo sie einherziehen, sich zuvor eine Bresche schlagen mit zwei Hämmern, »Furcht« und »Respekt«. Das ist kein Wesen, das mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks den finsteren Gesetzen eines drolligen und mehr noch: beklemmenden Daseins folgt. Wer da steht, ist ein freier Mensch, einer wie sie, und doch schöner als sie.

Sein weißes Gesicht zeigt einen leichten Schimmer von Braun; gesundem Sonnenbraun auf einer damastenen Haut. Eine schön gesetzte Nase springt energisch hervor. Seine großen grauen Augen nehmen, wie gewisse Edelsteine, je nach der Laune des Lichtes eine dunkelgrüne Färbung an. Ganz dunkle Brauen hängen strähnig darüber, scharf abgezeichnet gegen eine weiße Stirn. Und diese ist halb verhüllt durch einen Büschel üppigen blonden Haares.

Und es ist nichts Befehlendes in diesem Antlitz, eher etwas Scheues, Gedankenbeschwertes, mit dauernder Einzelfreundschaft Vertrautes. Er steht da und lächelt über sie hin; dabei sieht er keinem von ihnen ganz ins Auge. Er nimmt die Gesamtheit mit einem langen Blicke auf, und für jeden fällt ein Teil dieses Blickes ab. Dabei scheint es, als ob er an einem unverständlichen Bedauern trage. Er lauscht weder auf das krächzende Gespräch Kotūsas noch auf die sanften Erklärungen des Misi Kuma, der den Schulplan erläutert. Er scheint von einem ganz abliegenden Gedanken befangen; und unter der geheimen Kraft dieses Gedankens scheint alles für ihn wesenlos zu werden und zu verblassen.

Auf einmal ermannt er sich, spricht und lacht. Sie verstehen es nicht; nur einzelne Worte schnappen sie auf, auf die sie sich keinen Vers machen können; doch es muß etwas 185 Freundliches sein. Sie wollen ihm Dankbarkeit beweisen; sie zappeln danach, ihm aufzufallen, jeder einzelne. Einer von den langen Kerlen, die ungeschlacht und finster hinten hocken, beginnt mit zitternder Fistelstimme: »Ambuk is ein seenes Steedchen . . .«, und der junge Laienbruder verfällt in Unruhe und macht »Husch, husch!« Der gute Jüngling mißversteht das; er brüllt lauter. Jauchzend fallen die Kleineren ein, mit Trommeln und Pfeifen. Es ist eine Ovation für den neuen Pa‘alagi, und sie geben sich Mühe. Die Worte entgleiten ihnen, sie wissen nicht, was sie singen, aber so viel wissen sie, daß sie ihn ehren wollen mit dem Bootsgesang seines eigenen Volkes. Der junge Laienbruder läßt es geschehen, wie man mit gefaßter Miene eine unabwendbare Katastrophe abrollen sieht. Der Vater Kummer streicht seinen strohblonden, fadenscheinigen Vollbart. Seine zurückliegenden Augen, voll von einer milchigen und stereotypen Güte, ruhen auf dieser Schar junger erregter Samoaner und wenden sich Gerhart zu, als wolle er sagen: »Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie singen!«

Und um den Eindruck des »schönen Städtchens Hamburg« zu verwischen, heißt es: »Beten!« Von frischen Muskeln angespannte Körper werden schlaff und vom Rhythmus des Anrufs an die Jungfrau bewegt. Wie das Bild der Gottesmutter aussieht, das sich in ihren Köpfen niedergeschlagen, muß ein Rätsel bleiben; jedenfalls aber wissen sie genau, wie man sich auf samoanisch zu ihr in Beziehung setzt, und kommen diesem Bedürfnis mit vorbildlich gedrillten Stimmbändern nach. Aufatmend schweigen sie dann, und einer der frechsten Halbwüchsigen schickt noch ein unpassendes »Ususū« hinterher. Zur Strafe wird ihm verboten, sich am Kricket nach Stundenschluß zu beteiligen. Das macht ihm nichts, er hat ohnedies vorgehabt, nach Sapapalii zum Taubenschießen durchzubrennen . . .

Noch Verschiedenes wird produziert: Rechnen, 186 Schönschreiben und deutsche und englische Sprache; es geht alles zu des jungen Laienbruders leidlicher Zufriedenheit. Immerhin kann er eine leichte Nervosität nicht verbergen. Vater Kummer hat sich aufs Pult begeben. Die Art, wie er die Hände reibt, wie er sich mit seinen blutlosen Fingern die bleiche niedrige Stirn über den tiefliegenden Augen massiert, deutet an, daß er seinem Beruf ein gesundheitliches Opfer bringt. Aber er ist eingesessen hier und pflegt die Pflanzen der Seelen, versorgt sie ununterbrochen mit dem Gnadenwasser seiner schlichten Erziehung – sich kaum bewußt dabei, daß er Danaidenkrüge schleppt; daß die Schwammerde dieser Inseln die Hälfte mindestens des Segens wie ein Filter schluckt und nur spärliche und vergängliche Pflänzchen daraus erzeugt.

Aber das will er niemand wissen lassen; am allerletzten dem Fremden, vor dem er heute seine Resultate aufweist und an dessen Beifall ihm – er weiß nicht ganz weshalb – besonders gelegen ist. Er hat die Kunst, hinter Gesichtern zu lesen, ganz verlernt – wenn er sie überhaupt je besessen hat!

Seit drei Jahrzehnten ist die Fa‘asaleleaga sein etwas monotoner Wirkungskreis. Von jeher glaubt er an Gesichter, wie er sie sieht; glaubt an das samoanische Lächeln wie an eine Naturerscheinung. Seine Harmlosigkeit, in ihrem Selbsterhaltungstrieb, hat nie an den Kulissen gerückt. Und die weichen, aufgeweckten Knabengesichter mit ihrer beweglichen Witterung bedeuten für ihn ein ebenso offenes Buch, wie das Entzücken in den Zügen eines alten gerissenen Sprechers, den er für treuen Kirchenbesuch gelegentlich mit einer Havanna belohnt.

Er weiß, der Vater Kummer, daß die Welt um ihn wanken würde, wenn er das Mittel besäße, die Geheimschrift, die in Vexiertinte gebunden schlummert, auf den weißen Blättern hervorzulocken. Deshalb, wenn er auch das Mittel besäße, er würde es nie benutzen.

Fanatisch dagegen sträuben würde er sich. Er will die 187 Blätter weiß; er will nichts sehen, als die unschuldige, eckige, einfache Schrift, die er selber darauf malt, und will seine eigene ehrliche Tinte gebrauchen, um sie aufzufrischen, wenn sie verblassen sollte . . .

Solang er das tut, weiß er, hält er die Schlange aus diesem Paradiese fern und aus dem eigenen Herzen; gleich wie er sich selbst zuliebe anschleichende Zweifel am Dogma erdrosselt hat.

 

Die Schulstunde ging zu Ende, und man nahm zu dritt das Abendessen in einem hohen, luftigen Saale ein. Auf die Wände, bis zum einfachen Deckengebälk hinauf, malte grüner Schimmel seine Fresken. Ein großer Kruzifixus an verrosteten Angeln beugte sich in blinder Qual in den Raum . . . Es war ein häßliches Idol; ein schlechtmodelliertes, marktschreierisches, furchteinjagendes Stück Holz. Es schien, als wolle er sich losreißen und mit den flachen Händen wie mit Schaufeln in die Erde wühlen; als bäume er sich stumm vor dem warmen, schwermütigen Blau in den glaslosen Fenstern.

Vater Kummer hätte nie zugelassen, daß man diesen Kruzifixus durch einen kleineren und weniger peinvollen ersetze. – Lebensgroß, wie das Holzbild war, hatte es eine schlagende Wirkung auf die Samoaner – mochten sie nun Schüler sein oder erwachsene Besucher. – Wenn Vater Kummer sich mit einer Verneigung gegen die Ecke bekreuzigte, so zog er sozusagen einen Dritten ins Gespräch; – und weil man die Stärke des Zaubers nicht kannte, wußte man nicht, ob man diesem Dritten trauen durfte. Es war dann besser, wenn man nicht auf dem Stuhl sitzen blieb, auf dem man sich mit fröhlicher Unverschämtheit niedergelassen, sondern wenn man herabrutschte und das Gespräch vom Boden aus – in Hockstellung – fortsetzte. Dies mußte man ruckweise und unauffällig tun; dann dachte der Blutbespritzte in der Ecke vielleicht, man sei schon, seit man eingetreten, auf dem Boden gesessen . . . Ebenso empfahl 188 es sich, ihm hohe Häuptlingsehren zu erweisen und ihn auf seine private Art zu begrüßen; nach Misi Kuma zu urteilen, schien dies ein unumgänglicher Punkt des Pa‘alagi-Zeremoniells . . .

Perez, ein eurasischer Knabe von der Tokelau-Gruppe, bediente bei Tisch und räumte ab. – Nach kurzem Dankgebet begab sich der Pater an ein Grammophon . . . Ein paar spitze Töne fuhren messerscharf hervor und sanken in ein röchelndes und brodelndes Geräusch zurück . . . Dann kamen sie wieder, wie schrille Hilferufe – oder war es der schmetternde Schrei nach dem »Mann von Alcalá«?– begannen leiser zu wimmern und schnappten ab.

Perez nahm in größter Ehrfurcht die abgeleierte Platte herunter, worauf der Pater verschwand und eine Flasche mit zwei Gläschen zum Vorschein brachte.

»Ich habe versucht, den Geschmack der Ananas rein einzufangen,« erklärte er. »Es gibt vielerlei Gerüche und Blumen hier . . . Unbekannte ätherische Öle . . . Auch gehe ich daran, neue Parfüms zu destillieren . . .«

Dies regte Grothusen an; er berichtete von seinem Freund Grafen Wurmbrand, der im Serbenkrieg die Angewohnheit erworben habe, Eau-de-Cologne aus Fingerhüten zu genießen.

Nach dieser Abschweifung schenkte er seinem Gläschen einen starren Blick. Er trank nicht eigentlich, insofern er schluckte kaum; er schien den ganzen Inhalt schnell und spurlos zu assimilieren. Mit tödlichem Ernst strich er sich den Schnurrbart glatt; die Gebärde, wie er das Gläschen zurücksetzte, hatte etwas Rituelles.

»Ich würde mich ganz auf diesen Schnaps verlegen,« meinte er.

Des Paters weißliche Wangen bezogen sich mit einer leichten Röte; dies ward ersichtlich, als er eine Lampe entfachte.

Das Bananenblatt vor dem Fenster hing plötzlich schwarz vor einem stumpfen Blau. Die Kalkfarben auf der 189 Holzfigur in der Ecke zerliefen weiß und braun. Durch das Fenster auf der anderen Seite sah man in die Kakaoanlage hinein: stumme Klumpen von Gold lagen dort, die sich langsam schwärzten. Die Ananasstauden trotzten nicht mehr mit feindlichen Speeren; sie begaben sich zueinander unter einen runden Schatten. Das Licht der Palmwedel erlosch und hinterließ dunkle Zackenlinien; stumpfes Blau schmolz und wurde fern und grün. Hinter einem Gitter von schlanken Stämmen sank zögernd ein durchscheinender Vorhang herab; und gedämpfte Orgelklänge – Bootsgesänge – drangen aus ihm hervor . . .

Mit der Zeit behielt die Lampe den Sieg. Sie hatte das Leben in allen Fenstern getötet und die leeren Rahmen mit Schwärze gefüllt. – – –

 

Die Unterhaltung kam auf das Begräbnis Suisalas. Der Pater nannte es einen schweren Unglücksfall; das Missionswerk an den Seelen sei ihnen umgeworfen worden wie ein Kartenhaus – ein Standpunkt, den Grothusen nicht teilte. Er sprach von »harmlosem Spektakel« und »nächtlicher Ruhestörung«; er rief, man müsse tolerant sein, und alte Sitten seien alte Sitten . . . Und man solle, hier in Samoa, über niemanden so leichthin den Stab brechen, auch wenn es ein so ausgemachter Schuft sei wie ein gewisser Godinet . . .

»So kennen Sie den verdüsterten Mann?« klagte Vater Kummer. »Man kann nicht sagen, daß er ein christliches Dasein führt . . . Ich sehe ihn siechen, denn er lebt in loser Gemeinschaft mit armen Frauen, die das Heil nicht erkennen . . .«

Grothusen meinte, seiner Ansicht nach sei Godinet ganz gesund und noch keineswegs verdüstert. Und wenn er gesagt habe: ›Schuft‹, so wolle er damit nicht andeuten, sie seien sich feindlich. Als er hier für McGrew gearbeitet, habe Godinet ihn zwar einmal bös hereingelegt, er habe seine ganze Kopra in Sasina unter der Hand an einen Engländer Rea verkauft, der aus schmutziger Konkurrenz 190 von Avau seinen Kutter dorthin geschickt . . . man stelle sich vor! – Und er, Grothusen, nahm ganz harmlos Inventur auf mit Godinet in Leagi‘age und Safune, während die Dorfschaft Sasina ahnungslos dem Rea, der Kreatur, zwanzigtausend Pfund an Bord verstaute – dunkelblaue Kopra, auf der Lava getrocknet, zum Einrahmen schön! –

Aber das sei nun geschehen, und er habe Godinet nicht angezeigt –: »Der Mensch hatte zwölf Kinder zu versorgen; da hat man Vaterpflichten, zum Donnerwetter! – Aus Dankbarkeit hat er seinen fünfzehnten nach mir benannt. Hab es heute erfahren,« beschloß er blitzend.

Vater Kummer hatte dem entgegenzusetzen, daß alles Halbblut vom Übel sei; es sei nicht Gottes Plan, daß Weiß und Samoanisch sich vermische; und wenn es Ausnahmen gebe, so sei es die Güte Gottes, die sich auch derer erbarme, die seinen Zwecken zuwiderhandelten . . .

»Sache von Erziehung!« – schnarrte Grothusen. »Ja freilich – in vielen Fällen, da ist der Vater faul oder die Mutter faul . . .« Er geriet in Hitze, bediente sich unter gewaltsamen Bewegungen mit einem vierten Gläschen Ananasgeist und schrie, indem er sich den Schnurrbart am Ärmel trocknete:

»Sind aber beide das, was ich Charaktere nenne, dann garantier ich Ihnen, dann wird die Mischung gut! – Dann haben wir die richtige Erziehung! – Dann gibt es eine gute neue Rasse, die Rasse der Zukunft hier! – Europäische Kapazität!« – Er hieb sich gegen die Stirn . . . »Und Immunität – absolute Immunität gegen das Klima!« – Er hieb sich auf den Magen; dann sank er zurück und sah sich kampflustig um.

Der Pater wurde unruhig, als habe er eine Wirtespflicht versäumt; plötzlich trug er die Flasche behutsam ins Dunkel zurück. – Grothusen schickte sich eben an, weiter zu dozieren – mit jener lispelnden Korrektheit, wie sie Leuten aus Hamburg eigentümlich ist – als er etwas bemerkte und 191 verstummte. Seine Augen suchten etwas auf dem Tisch, vermißten das Gesuchte und wurden farblos.

Nicht lange darauf stand er auf, um sich ins Bett zu begeben.

Man hörte ihn die Treppe gewinnen, heulend gähnen und langsam auf unsicheren Füßen in der großen Kammer unter dem Wellblechdach landen. Von dort her drang noch einige Male ein dumpfes Poltern oder das Bruchstück eines Fluches . . . Bis alles mit einem Krach erlosch und unbehinderte Stille herrschte.

 

Unwillkürlich lauschten die beiden Zurückgebliebenen auf . . . Von der See kam das Gespräch der schlafmatten Schaumkämme; zuweilen ein fernes Tosen unter dem Sternenlicht: die Brandung vom Riff. Und hinter dem Haus zankten sich, wie immer zur Nachtzeit, die Fliegenden Hunde. Es war ein harter, herzloser Zank. Dort stand ein Mangobaum. Man sah, daß seine Blätter sich trotz der Windstille wie im Sturme regten. Dunkel und rund stand er da; hitziges Zischen flitzte aus ihm hervor; plump schwappten schwere Schwingen. Er stand wie eine Quelle übler Gedanken, über deren ruhelosen Ansturm das Herz erschrickt.

Der Pater schritt gleichmäßig, die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt, hin und her. Da das Licht der Lampe scharfe Schlagschatten auf sein Gesicht warf, so war die Farbe seiner Augen, der milchiggütigen, nicht mehr ersichtlich. Die tiefliegenden Höhlen schienen veränderte Augen zu beherbergen, als sei ein zweites Gesicht aus dem ersten getreten.

Auf einmal erkannte Gerhart: der Pater konnte hassen, und in diesem Augenblick haßte er, stark wie alle Schlichten.

»Ich warne Sie,« sprach der Pater, ohne ihn anzusehen. »Ich warne Sie vor jenem Mann. Gott hat ihm leider Macht über die einfachen Gemüter hier gegeben, ja in der Tat, sein Einfluß ist groß, und oft mußte ich ihm in meinem 192 Werk begegnen. Der Widersacher nimmt oft Gestalt und Züge an, die bestechen . . . Tun Sie ihn ab, mein Freund! Bannen Sie ihn! Jener junge Bruder, den Sie heute unterrichten sahen, wird Sie gern um die Insel führen gegen ein kleines Entgelt. Er versteht genug von der Sprache der Leute, um Ihnen Bekanntschaften zu vermitteln. Es wird Ihnen eine hohe Freude sein, zu bemerken, welch gute Früchte unser Liebeswerk gezeitigt hat . . . Und seine Gegenwart wird Sie davor bewahren, Szenen beiwohnen zu müssen, die die Moral verletzen . . . Sie werden die Sonnenseite dieses Lebens hier kennen lernen. Morgen früh werden Sie ein Zwiegespräch mit dem Bruder Aloisius haben und zugleich jenem Grothusen zu verstehen geben, daß Sie seiner Dienste – übler Dienste, wahrlich! – nicht mehr bedürfen . . .«

»Ihre Abneigung gegen Grothusen muß tiefere Beweggründe haben.«

Der Pater blieb stehen, wie angewurzelt. Dann sagte er mit sehr hoher Stimme: »Tiefere Beweggründe? Ha! Beweggründe tief genug, um mich wünschen zu lassen, der HErr hätte ihn scheitern lassen, noch ehe er seinen Fuß auf diese unschuldige Insel setzte . . . Verteidigt er nicht alles, was wir auszurotten wünschen? Und wenn das Heidentum die Sinne dieser armen Menschen verdunkelt, was tut er? Statt mich entsetzt zu beschwören, ihnen zu Hilfe zu eilen, steht er nicht lästernd auf ihrer Seite? Ist nicht der weiße Mann berufen, seinen Brüdern den Pfad zu weisen? Von ›nächtlicher Ruhestörung‹ spricht der Verblendete? Ein ›Spektakel‹ ist es für ihn? Ja wahrlich, Spektakel ist es, aber an einer Stätte, wo kein Schlummer ist, wo jener Suisala im Fegefeuer wimmert . . . Aber auch ihm, auch ihm werden einst die Ohren gellen!«

Gerhart bohrte sich die Pfeife aus.

»Ich übertreibe nicht,« klagte die hohe Stimme weiter. »Da sind Gesetzesbrecher wie dieser Godinet, Paape, Stubbs oder wie sie heißen; sie umgehen das Band der Ehe; sie 193 hecken ihre Brut in unlauteren Winkeln und setzen ein verruchtes Beispiel, und wenn es ihnen genehm ist, verlassen sie die Insel, und jene Halbblütigen irren umher ohne Namen und ohne Familienbande; ihr Volk kennt sie nicht, ihre Erzeuger kennen sie nicht! So ist ihr Herz offen für böse Saat! Sprach nicht der Unselige von ›Charakteren‹?« Der Pater schob ein wehmütiges und höhnisches Gelächter ein. »Wissen Sie, daß auch er das Band der Ehe mit Füßen tritt –? Daß er seit Jahren in lockerer Gemeinschaft mit einem armen samoanischen Weibe lebt –? Daß sie ihm sieben Kinder geboren, von denen fünf durch Gottes Gnade erlöst wurden? – Die zwei, die er noch hat, kenne ich und betrauere ihr Los . . .

Meine Amtsbrüder vom Londoner Glauben haben sich heilig bemüht, das Band der Ehe um die beiden zu schlingen. Doch der Unselige hat mit der Geschicklichkeit eines Teufels Dornen in ihren Weg gestreut, und so haben sie sich blutenden Herzens gezwungen gesehen, der Frau das Abendmahl zu verweigern, wenn auch zu hoffen steht, daß Gott sich der armen Heidin erbarmt. Doch lassen Sie mich nicht von den weiteren Taten des Menschen reden; wie er seine Fallstricke legte und viele schuldlose Jungfrauen, kaum daß sie meiner Hut entwuchsen, darin fing und zu Fall brachte! – Und wie er trotzdem mit der Gabe der Rede – er bedient sich der Eingeborenen-Zunge fließend – der übel gebrauchten Gabe den gerechten Stachel, der sich wider ihn kehrte, abzustumpfen wußte . . .«

Gerhart steckte seine Pfeife in die Tasche und erhob sich. Der Pater nahm sich resigniert zusammen und trat lautlos in die Dunkelheit zurück. »Ich fürchte, ich fürchte,« drang es aus der Ecke –, »daß Ihnen ein Missionswerk, wenn Sie es an jenem versuchen, zum Spott werden wird; denn er ist zu besessen von seiner Sünde; zu tief im Pfuhl . . . tief im Pfuhl . . .«

Er murmelte weiter.

Man sah ihn undeutlich vor dem Holzbild stehen; seine 194 Rede, aufgenommen von der Routine des Gebetes, verlor sich im leisen Klappern des Rosenkranzes.

Gerhart ging hinauf.

Droben brannte ein Lichtchen. Es war so aufgestellt, daß es das Profil Grothusens, zum Gebirge vergrößert, an die weißgekalkte Wand warf.

Sammetschwarze Ordensbänder, dunkelviolett gezeichnet, saßen sinnend mit glühenden Augen auf Tisch, Stuhl und Bett oder tappten töricht mit den Köpfen an die Decke. Plötzlich erlosch die Kerze unter zappelnden Schwingen. Und in der Schwärze, vom Zauber des Lichts entbunden, erhob der ganze Schwarm ein dumpfes Surren.

Gerhart ging im Dunklen zu Bett.

Zwei Moskitos sangen und malten eine haardünne Tonschleife, wie das Symbol für die Unendlichkeit, auf die schwarze Tafel seines Hirns.

›Sie singen genau in einer Quinte . . .‹, dachte er.

 

Zusehends entstand ein grünes Leuchten auf dieser Tafel; sie wurde zu einem vertieften Bild, das jedes Hälmchen, jede Fieder, jedes spitze oder runde Blättlein zeigte. Er vermeinte noch nie empfunden zu haben, welch unendliche Befriedigung, welche leuchtende Wollust im Lichte webt, wenn es in einem satten, jubelnden Grün geläutert ruht.

Auf einmal trat ein Schatten herein und machte die Farbe tot, wo er stand. Es schien ein Loch zu sein, wo sein Umriß sich abhob. Vor der Lebendigkeit des Grüns ward das Schwarz der Figur doppelt schwarz.

Er sprach sanft rezitierend; dabei hielt er mit den blutlosen Händen ein beschädigtes Buch umschlungen. Der Klang seiner Rede war farblos wie der Text einer verschimmelnden Postille. Brüchig und durchsichtig schien er zu sein, ein Erbauungsjournal in Form eines Menschen, dessen trübe Mühe es ist, alte Schlagworte wieder aufzuputzen, die dennoch nimmer glänzen wollen. Oder er schüttet Krüge aus, voll vom Absud einer sonnenfeindlichen 195 Tradition, und die Flüssigkeit verschwindet spurlos oder spritzt ihm vom harten Grund, vom Lavagrund entgegen und besudelt ihn.

Der schwarze Rock, der den Körper verneint, wandelt vor dem Grün einher, in dem der Körper seine Heimat hat.

 

Doch wenn auch zehnmal die tiefe Augenhöhle der Entsagung sich auftut, aus der die stumme Wut, der gebändigte Fanatismus starrt – das Tier, das schöne, nackte, sammethäutige, schlankgliedrige, braune Tier bleibt unangefochten in seinem prangenden Trotz.

Es läßt sich häßliche Kattunkleidung überwerfen, es läßt sich in seinen Liebesspielen behindern, es ahmt die weinerlichen fremden Gesänge nach, in denen die eigene wohllautende Sprache auf einem Prokrustesbett ächzt. Irgendwie aber ahnt es, muß es ahnen, daß hinter all diesen zähen und nutzlosen Bekehrungs- und Entstellungsversuchen nichts steckt als Neid, dumpfer, Jahrhunderte alter, dem Leben feindlicher und doch von Gier nach dem Leben verschmachtender Neid, der es unterdrücken will!

Deshalb fährt es fort zu lächeln.

Und in den wenigen Stunden, wo es den Schatten vergißt, befreit es sich von all dem aufgezwungenen »Heil«, wie ein Knabe häßliches Spielzeug zertrümmert, und steht da in warmer und strotzender Nacktheit.

Wo sind hölzerne Baracken, wo weiß gekalkte Bethäuser, häßlich wie Ställe für Vieh mit Wellblechdächern, dem gleißenden Sklavenzeichen einer rohen, herzlosen Vergewaltigungssucht?

 

Es war Gerhart, als stehe er irgendwo auf einem weiten jungfräulichen Strand, Freund und Führer für ein Häuflein starker und empfindsamer Kinder, deren Leben nach keinen anderen Gesetzen verlaufen durfte als nach denen eines gütigen Himmels. 196


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