Willy Seidel
Der Buschhahn
Willy Seidel

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Schwerer Gang

Als Tai aus ihrer Ohnmacht erwacht, ist sie vollkommen ruhig.

Sie tritt aus der Hütte heraus und sammelt sorgfältig alle Sachen, die draußen verstreut liegen.

Man ist sehr besorgt um sie; man gibt ihr starken Kaffee zu trinken. Dann steht sie plötzlich wieder auf und breitet ein Stück Kattun auf den Matten aus: ist es etwa Maggies weltliche Gewandung?

Sie legt eines von den kleineren Büchern hinein: »O le Tusi Paia ma le Viiga« – den halbzerbrochenen Kamm darauf, ihre Hornbrille und ihr Nähzeug. Dann verschwindet sie wieder und erscheint mit einer Konservenbüchse, in der es klappert. Es ist ihr Geld. Sie macht aus allem ein Paket und verschnürt es mit einer Bastschnur.

258 Man sieht diesen erstaunlichen Vorbereitungen mit schlaffen Kinnen zu. Langsam begreift man, was sie vorhat. Es ist so außergewöhnlich, so unaussprechlich erniedrigend, was sie vorhat, daß die alte Ta‘ele sich jedes Wortes enthält. Es kommt nicht häufig vor, daß ein samoanisches Weib handelt; wenn sie aber handelt, vollzieht es sich wie eine Naturerscheinung. Und darüber verliert man keine Worte, keine Vermutungen oder Ratschläge.

Tai sagt: »Tofā!« – – Und die anderen hinter ihr rufen: »Tofā soifūa!« – – Weiter nichts. – Es ist still hinter ihr. Vier Händepaare raffen gleichsam Stille zusammen und schleudern sie ihr nach; baden sie darin; umhüllen sie. – – So geht sie davon wie ein Nichts, denn alles hinter ihr ist taub geworden. Mit jedem Schritt, den sie tut, vergrößert sie die Kluft zwischen sich und der A‘iga. Die vier strohgelben Hunde sitzen auf der Wiese. Selbst sie geben keinen Laut von sich; sie wedeln wie hinter einem Nebel.

 

Tai geht über die Vaisiganobrücke nach Apia hinein. Es ist lange her, seit man sie auf der Hauptstraße gesehen hat. An den Läden von Hopkins und McFarlan wandelt sie stracks vorbei, ohne den bunten Auslagen einen Blick zu schenken; dann biegt sie bei McGrew ein.

Der Gewaltige hat den Vormittag über, das kupferrote Gesicht bedeckt vom »Sydney Morning Herald«, wie ein weißes Gebirge von Leinwand auf einer Strohcouchette geschlummert; nun sitzt er vor einem Bureautisch und klimpert auf einer winzigen Schreibmaschine.

Tai läßt sich lautlos in der Ecke der verdunkelten Stube auf dem Boden nieder, so daß es ziemlich lange dauert, bis McGrew sie bemerkt. Er fragt, was er für die »Dame« tun dürfe. Er ist immer außerordentlich höflich mit Eingeborenen; er hat seine sehr bestimmten Gründe dafür.

Es dauert lange Zeit, bis Tai ihm erklärt hat, was ihr Anliegen ist. Obwohl es in drei Worten hätte gesagt werden können, hört McGrew ihr geduldig zu. Sie will 259 mit dem Abend-Motorboot, das die Post für Sawaii bringt, nach Fagamalu mitgenommen werden. Sie erklärt sich bereit, dafür zu zahlen; das Geld habe sie da.

McGrew sagt, er wolle keinen Vorteil aus ihr ziehen. Er fühle sich geschmeichelt, daß sie sein fragwürdiges Beförderungsmittel für ihre erlauchte Person in Anspruch zu nehmen gedenke; und dann verlangt er zwei Dollars. Tai reicht ihm die Büchse, die sie inzwischen umständlich herausgewickelt hat; und McGrew bedient sich daraus mit acht Reichsmark. Sie solle am Platze sein; um fünf Uhr gehe das Boot von der Bismarckbrücke. Tai dankt bilderreich und wickelt die Büchse wieder ein. Der Händler wartet geduldig, bis die leise Rede mit einem »Tofā Mekulu« im Rahmen der Tür erlischt . . .

Tai geht zur Bismarckbrücke, setzt sich hinter einem rundgehauenen Pfosten nieder und wartet. Um halb sechs endlich geht das Boot.

Ein herkulischer Halbweißer, einer der Söhne McGrews, steht am Steuerrad in der Mitte. Drei blaugekleidete Chinesen hocken auf dem Boden und schwatzen mit hellen meckernden Stimmen. Sie essen Reis aus einem gemeinsamen Topf mit Stäbchen, die sie scherengleich öffnen und schließen. Ein vierter ist bei der Maschine.

 

Man kommt ins offene Fahrwasser, und das Boot beginnt gleichmäßig zu rollen. Die Küste von Upolu wandert langsam vorüber. Süßlicher Duft von Petroleum verseucht die Luft und füllt Tais Hirn wie mit einer Wolke. Ihr wird übel. Die meckernden hellen Stimmen schwimmen leise auf dem Rauschen des Schaums ihr zur Seite; es klingt wie Gemurmel ferner begrabener Völker.

Und mit der Übelkeit, die sie spürt, verknüpft sich in lähmender Süße der Druck, der von jeher um ihr Herz gesessen und von dem sie glaubt, er habe ihre Kinder erwürgt, eins nach dem anderen; – und vor dem sie sich gleichwohl beugt . . . Denn letzten Endes ist es ein 260 freiwilliges, dieses fremde Joch, das sie sich auferlegt; und ihr Leben, aus tausend Widerwärtigkeiten zusammengestückelt, läßt eine gute Fessel durchschimmern, die so stark ist, daß auch er, Kotūsa, sie nicht zerreißen kann. Bei jeder Geburt, nach der Maggies, hat er ihr die Hand auf den Kopf gelegt. Seine Beschwörungen sind wirksamer gewesen als die Gebete der Schwarzröcke.

Nicht seine Schuld war's, wenn die anderen Kinder starben; denn war er nicht später immer zugegen? – Und wo ist ein Beweis, daß er Ehebruch getrieben habe, während sie schwanger war? – War sie nicht dumm gewesen – – oh wie dumm! – – als sie glaubte, sie habe ihn mit Eli am »Sandy Cap« auf der Tat ertappt? – Und wenn dem auch so gewesen wäre: welches Recht hätte sie, Tai, gehabt, die Großtochter des Alii‘sili Mataafa zur Rechenschaft zu ziehen? – – Selbst ihm hätte sie keine Szene machen dürfen . . .

So sagt ihr Verstand; doch irgend etwas in ihrer Brust streitet dawider an; und das Etwas ist häßlich, schwerblütig und tappt ihm entgegen mit gealterten Gliedern, die ihre Rundung dennoch nicht eingebüßt; das heftet dunkle Blicke, braun gleich Regentümpeln, die von einsamen Himmeln träumen, auf jene schimmernd kalkweiße Haut, die nach streichelnden Händen verlangt; auf jene goldene Brille; auf die rötlichen Haare, röter als Kupfer; von einer Farbe einzigartig hierzulande und nie zuvor erblickt. – – Ist er nicht durch lange Jahre ihr Ernährer gewesen? – Hat er ihr nicht am Morgen seines Geburtstages Geld geschenkt? – Und hat sie, undankbares Weib, sich nicht verleiten lassen, heimlich eine Verschwörung einzugehen und seine Kinder ihm böswillig zu entrücken – so daß er, wenn er nach Hause käme und fragte: »Wo ist meine Familie?« – er nur Schweigen zurückerhalten würde; Schweigen in Scheffeln gemessen –? Und niemand würde ihm die Stiefel reichen; niemand würde da sein, den er würde anraunzen können zu seines schweren Herzens 261 Erleichterung . . . Und Tai weiß, wie wichtig es ist, daß man das Herz zuweilen durch Keifen erleichtert!

Tai erinnert sich an eine Photographie. Sie hängt überm Bett in ihrer Hütte und ist vom Klima zu einer gelben Rolle gedörrt. Da stehen sie beide: er in der Mitte im schneeweißen, frischgebügelten Anzug, und hinter ihm sie selbst in beblümtem Kattun, vorgestreckten Leibes und eine Kette auf der Brust. Sie lächelt; doch der Mund ist mißraten; der ist nie so groß gewesen, wie er dort aussieht. Und rechts und links vom Vater stehen die beiden Kinder, in europäischen Gewandungen, die der Photograph für diesen Zweck hervorgeholt, – glanzlosen Blicks . . . Auf der ganzen Gruppe ruht dasselbe angestrengte Lächeln, als ob jedem die Stirnhaut schmerze . . . Aber für Tai ist es ein schönes Bild. Es stammt von früher.

Nein; das Bild ist nicht mehr wahr. Tai hat eine Lüge daraus gemacht. Maggie ist heilig, und Petina ist tausend Meilen überm Meer.

 

Der Petroleumduft wird stärker; Tai krümmt sich zusammen und zieht ein Tuch übers Gesicht. Das Boot schlingert; die Mittagssonne brennt. Der Mischling am Steuerrad schreit ihr zu, sie solle sich in den Schatten legen, in die Mitte; dort werde ihr besser werden. Sie gehorcht und kriecht an den Planken entlang bis an die winzige Kajüte. Feuchter Wind hüllt sie ein. Und während die Übelkeit ihr im Halse sitzt, kommen die Gedanken wieder wie ein Rad:

. . . Die jungen Mädchen von Papa‹uta sind von der London Mission in die Ferien entlassen worden. Drei davon kommen nach Fagamalu; und Kotūsa verkuppelt eine an seinen weißen Freund Soli. Sie hat später ein Kind mit ihm gehabt . . . Zwei von den Mädchen kommen in die kleine Samoahütte, die Kotūsa neben seinem Pa‘alagi-Haus bewohnt. Sie übernachten . . .

Es kommt etwas vor; ja, Tai möchte darauf schwören, daß etwas vorkommt. Sie ist noch in den Wochen und sehr 262 schwach; aber sie findet Kraft genug, ein Stück Mousselin im Dunkeln mit den Fingern zu zerreißen . . . Die Papa‘uta-Mädchen gehen noch vor Tagesanbruch. Sie sind aus guter Familie, und Kotūsa schimpft. Tai schämt sich, aber es hilft nichts mehr; die Mädchen sind gegangen . . .

Tai, mit vorgestrecktem Zeigefinger, beschreibt Kreise auf dem Fensterglas der Kajüte. Der Motor schüttert. – – Wer bin ich, denkt sie, daß ich immer mit ihm hadern muß voll Eifersucht. Es gibt so viel schönere Weiber als mich . . . Er hat am Schluß immer recht gehabt, oder recht behalten . . .

. . . Tai ist in Tufu-Tafoi . . . Er ist lange fort gewesen; es ist nach Maggies Geburt . . . Da kommt er durch die Buschwege. Tai geht ihm freudestrahlend entgegen.

»Du bist ein schlechter Mensch; du hast mich lang allein gelassen . . .«

»Ich habe eine neue Frau mitgebracht.«

Tai steht wie vom Blitz gerührt. – »Wer ist das –?« fragt sie. Nur die eine Frage.

»Talāla, Tochter von Suatēle.«

Sie ist über ihr. Sie beugt sich und spricht: »Dann gehe ich.« Sie will ihm nicht im Wege stehen; Talāla ist über ihr. –– Und Kotūsa sagt zu einem Jungen, der im Hause sitzt: »Geh hin und hole meine neue Frau; sie wartet am Außenrand des Dorfes.« – – Sie kommt. Wer ist's? – Latu, eine Base Tais. Sie fallen sich in die Arme. Kotūsa erhält freundschaftliche Klapse . . .

Der Motor tut langsamere Stöße. Das Riff von Fagamalu kommt in Sicht; mit einem Schlag werden die Wasser ruhig. Sie blickt hinaus, während die Wiese mit den buntbeschärpten Leoleos und dem weißen Amtshaus ihr entgegenwandert; dann steigt sie aus, ein Stückchen noch watend.

Sie geht langsam auf die Straße zu: die Füße auswärts gesetzt, das Leinenbündel auf dem Kopf und den Bauch 263 mit ruhevoll wiegender Bewegung vorgeschoben. – – So tritt sie ihren schweren Gang an.

Nach drei Stunden, in Sasina rastend, erfährt sie, daß Grothusen und sein Begleiter am Morgen Asau verlassen haben und sich wohl gerade auf dem Bergpfad befinden, der vom Buschdorf Aopo herunterführt.


Die vergangene Woche lag hinter Gerhart wie ein Traum, erfüllt von der bunten Bewegung verschiedenartigster Menschen; solche, die er wirklich gesehen, mengten sich unter ein Rudel von anderen, die Grothusens Erzählergabe greifbar vor ihm heraufbeschwor . . . So ertappte er sich darauf, etwa zu fragen: »Wann war es doch, daß Sie den Streit mit dem alten Nelson hatten? . . .« Oder: »Wann war es, daß Gravenhagen den alten Malietoa Laupepa chokierte, indem er dessen Tochter mit Hilfe der Kupplerin Le‘uta zur dritten Frau verlangte? . . .«

Seit jenem Abend in Tufu schien Grothusens Laune jedoch verdorben; er schien viel zu grübeln und machte die Besuche bei all den Dorfältesten ab wie eine Verpflichtung, die bezahlte Routine ihm auferlegte. Gerharts kleine Ungeschicklichkeiten Eingeborenen gegenüber waren sogar zuweilen Anlaß für ihn, ironisch zu werden . . . Aber Gerhart war so tief in Nachdenken versunken, daß er gewisse Nadelstiche seines Begleiters nicht empfand. Eins fiel ihm trotzdem auf: Fragen, Tai und Petina betreffend, beantwortete Grothusen so ungeduldig, scharf und abrupt, daß er weiteres Forschen aufgab. Es fiel ihm schwer, denn seine Gedanken befaßten sich seltsam eindringlich während der ganzen Wanderung mit der rätselhaften samoanischen Matrone . . .

In einem Pandanushain hinter Taga, der dicht bis zum Rand der Steilküste wucherte, begann sie neben ihnen herzugleiten; Gerhart fühlte sie. Sie drängte sich und glitt schattengleich unter grellem Himmel durch den kargen Schutz der zeltförmig emporstrebenden Luftwurzeln. Sie 264 schritt ruhig, ohne Hindernisse zu spüren, mit leicht vorgeschobenem Leib durch die Landschaft und wiederholte mit hoher Stimme endlose Strophen, die scheinbar an ihn gerichtet waren . . . Oder täuschte sich Gerharts Ohr? – War es der gläserne zarte Aufschrei der leichtbewegt verebbenden Riffwasser an den spitzen Blöcken, mit denen die Küste beschüttet war? – Und das trockene Rascheln: kam es von ihrer Gewandung oder der Reibung langer, schmaler Blätter? – Farbflecke flammten auf, die der Zeichnung auf einer Tapa glichen: oder lagen dort nur seltsam gegitterte Schlagschatten wie Muster auf der hitzeschwelenden Lava? – Sie wollte etwas von ihm; das fühlte er. Es war eine drängende Absicht in ihrem Gehaben . . . Es schien, als sei sie durch eine unsichtbare Linie gebannt und gezwungen, stets in Entfernung zu bleiben, wie ein scheues Wild, aus dessen braunen Augen nimmersatte Neugier blinkt . . .

In einer enormen Kokuspflanzung vor Saleilua verblich sie; rannte am Rand des fernen Urwalds entlang, huschend und in Eile wie ein Windstoß, der flüchtigen Tumult in die Blätter bringt. Sie hatte den Umweg gutzumachen . . . Dann war sie wieder da; Gerhart fühlte es. Von Saleilua ab, auf der Urwaldstraße, verschmolz ihre mitwandernde Stimme mit der siedenden, brütenden Stille, deren schwerer Atem mühsam hauchte, verseucht vom schrillen Aufschrei zahlloser Zikaden. Taudicke Lianenstränge wurden von ihr entwirrt wie Spinnennetz. Gerhart fühlte ihre Augen im Nacken; doch wenn er sich umsah, hingen zwei glänzend schwarzbraune Beeren im Unterholz und rührten sich mit kaum wahrnehmbarem Schaukeln . . .

Ob Samata gab es tiefe Einschnitte in der Küste, in denen das grüne Meer gefangen donnerte. Die Wanderer badeten in einem Strudelloch. Der Wirbel erlaubte ihnen gerade noch, sich aufrecht zu halten; dann kletterten sie wieder auf den Küstenrand hinauf, um sich anzukleiden. Gerhart spähte, noch nackt, zurück: tiefrote Blüten nickten aus den 265 Rissen der Schlucht. Und dort unten: was war das? – Etwas Braunes tastete sich an der Wand des Wasserloches entlang bis zu den runden schleimigen Steinen, auf denen kletternde Fische, glänzend schwarzgrün, wie Heuschrecken durcheinanderschnellten . . . Etwas Erdfarbenes reckte sich entrückt in emporspähender Betrachtung verlängerten Halses hinauf, blinkenden Blickes; verharrte einen Atemzug lang unbeweglich und verlosch, von der plötzlich aufschießenden Schaumgarbe einer benachbarten Woge verschlungen . . . Gerhart fuhr sich mit der Hand über die schweißfeuchte Stirn. Seltsame Tagträume besaßen ihn; doch fand er nicht die Kraft, sie abzuschütteln. –

Dorf nach Dorf zog an ihm vorüber. Überall flammte Grün auf; überall lächelte es. Eine unendliche Kette lächelnder Zahnreihen in Kinder-, Männer- und Weibergesichtern. Das weiche Gurren ihrer Reden verließ ihn nicht; saß ihm ewig im Ohr. Hahnenschreie klangen auf, schriller Brüllton zu seinen Ehren gehetzter Schweine. Es gab pompöse Empfänge; rieselnde Ansprachen; schöne, gemessene Linien ruhevoller Körper; junger und alter . . .

Grothusen war immer zur Hand; er war sein Sprecher. Man erwartete keinen Ton von Gerhart. – Er sagte vielleicht: »Machen Sie's kurz, und bringen Sie die Gesellschaft bald dazu, uns was anzubieten; ich habe Hunger . . .«; und Grothusen, auf samoanisch, teilte dem aufhorchenden Kreise mit, man sei rüstig, satt und erwarte durchaus keine Bewirtung; man wolle es durchaus nicht darauf anlegen, Umstände zu verursachen! – Übrigens sei der junge Pa‘alagi, wiewohl für sein zartes Alter sehr gelehrt und unter seinesgleichen ein weitbeschriener »to‘oto‘o uli‘uli«, arm wie eine Kirchenmaus und ein ausgesprochener Mädchenhasser . . . Solche Rede, mit Inbrunst hervorgestoßen, dauerte vielleicht eine Viertelstunde, und es zeigte sich, daß Grothusen wie immer »schwer Bescheid« wußte. Denn mit allem, was er sagte, meinte 266 er nach samoanischer Art das pure schlichte Gegenteil; und so hatte er den Erfolg, daß sofort an die Bereitung eines ausgedehnten Mahls gedacht ward; daß nebst der Kawa auch Kokusmilch erschien und später Kaffee . . . Die braunen Herren verfielen der Reihe nach in eine entzückte Selbsterniedrigung und machten sich im Handumdrehen noch zehnmal belangloser als ihre Gäste. Wer sei Kotūsa? – Ihr Freund und Bruder . . . Und wen er bringe, sei im vornherein auch ihr Freund und Bruder! – Wer dagegen seien sie selbst –? – Prasser, faule Bäuche und Tunichtgute; minderwertig und kaum einer Rücksicht wert! – So fürstlicher Besuch falle als Sonnenstrahl in ihr nächtliches Dasein, das Dasein von Käfern! – –

Und es sammelten sich Mädchen an; die ganze Hütte war voll von seidigen, schwarzen, schwankenden Mähnen. Sie hockten sich nieder und starrten. Der junge Pa‘alagi hatte ganz weiße Haut; weiß wie Porzellan; »pa‘epa‘e«; so weiß war sie; so weiß! – Und seine Lippen waren rot wie Strauchblumen! – Gerhart lächelte; schwirrende Ausrufe entstanden . . . Dann ward er geknetet von vier neugierigen Händepaaren, die sich bisweilen verschmitzt verirrten; Brust, Schultern und Schenkel kneteten sie ihm. Heiß und eifrig waren sie bei der Arbeit . . . Grothusen, auf deutsch, gab ihm indes einige Anweisungen, mit dem Erfolg, daß der Duft dieser spröden dunklen Mähnen durch Gerharts Schlummer drang; daß sie ihm die Welt und die schwacherleuchtete Hütte verhängten, deren Pfosten in grausamer Weise beklebt waren mit alten Zeitungsbildern, amerikanischen Reklamen und dem wesleyanischen Samoablatt: ›O le fetu Ao‹ . . . Es war gut, daß ihm die Aussicht darauf versperrt war; denn wohin er tastete, drängten sich nackte warme Glieder herzu . . .

Überall, wo man einkehrte, gab es ein neues Examen nach dem Woher und Wohin. Gerhart erhielt Geschenke. Da Grothusens Schilderungen großen Glanz auf ihn warfen, versah man ihn mit zwei ungeheuren 267 Roßhaarfliegenwedeln, braun und schwarz, die er abwechselnd gebrauchte und die er zur Bestätigung unverstandener Behauptungen seines »Sprechers« durch die Luft pfeifen ließ.

Von Neiafu ab überblickten sie den letzten nördlichen Zipfel von Sawaii wie einen Garten; sie durchquerten ihn, und ein schöner langer Sandweg, durch das reinliche Tufu-Tafoi, führte sie nach Falealupo. Auf dem Weg nach Asau begegneten sie dem Laienbruder Aloisius von Safotulafai, der sich auf der Sendung befand, neue Knabenseelen für die Pflanzung des Misi Kuma zu ködern. Er errötete, grüßte mit herabgeklappten Wimpern und schritt rüstig aus, die Soutane über den Knieen in die Höhe gerafft und festgesteckt. – »Ist auf der Jagd nach Schülern . . .« sprach Grothusen grimmig. »Und kriegt sie, kriegt sie, trotz des schwachatmigen ›Unterrichts‹, den Sie neulich selbst erlebt . . . Als ich noch Schullehrer in Falealili war . . .«

Weiter ging's durch Sataua und Vaisala, wo Gerhart einige Matten und das Miniaturmodell eines Hauses erstand . . . Rechterhand blickte man auf Buschland und Berge; links eröffneten sich tiefer liegende Meeresbuchten. Die Hütten von Vaisala spiegelten sich in einem kleinen Binnensee, palmenüberschwankt und von ungebrochener Ruhe. Das Brückchen – Palmstämme, quer über eine Einschnürung gelegt – führte auf einen steinigen Weg, der mäßig anstieg. – »Einzige Chance der ›Gerechten‹, in den Himmel zu kommen,« fluchte Grothusen. »Ist auch 'n Weg, mit Glasscherben gespickt; aber noch Parkett gegen diesen hier.« –

Mit zerrissenen Sandalen und blutenden Füßen langten sie in Asau an, wurden im Bungalow eines eingeborenen Händlers mit Tee erquickt und genossen dann unter dem Sternenhimmel einen Siva, den die graziösen Silhouetten nackter halbwüchsiger Kinder tanzten . . .

Mit Sonnenaufgang weckten sie die Klänge einer Mundharmonika, von einem verschmitzten Knaben gemeistert; und zu guter Letzt blies ihnen der Pulenu‘u des Dorfes 268 noch ein Trompetenstücklein vor, worauf die gesamte Bevölkerung zwischen den großen schwarzen Blöcken auftauchte und ihnen »Tofā« nachschrie. Lange noch folgten ihnen abgerissene Töne, bis der Urwald sie wieder ganz mit seiner Stille umfing. Die Stunden vergingen . . . Nach Überwanderung asphaltglatter Lavastrecken erreichten sie das mauerumgebene vereinsamte Buschdorf Aopo, dessen vernachlässigte Hütten wenige Figuren beherbergten, die herauslugten wie verscheuchte Hunde und die Gerhart irgendwie häßlicher dünkten als die Leute am Strande . . . Dann bogen sie scharf nach links und trafen bei Letui auf die breite Chaussee Mr. Harrigans, eine wahre Prachtstraße, glatt und sauber . . . Dann und wann kam ein Trüpplein Eingeborener an ihnen vorüber, oder ein Buggy, mit dessen Insassen Grothusen Grüße wechselte . . .

Auf einmal ward es still; nichts zeigte sich mehr. Die Sonne, auf halber Vormittagshöhe, begann ihr unbehindertes Spiel. Grelle Flecken entstanden im lichten Morgendunst und krochen wachsend über die Straße.

 

Grothusen blieb stehen und zeigte nach vorwärts; Gerharts Augen folgten der Weisung des Fingers.

Eine Viertelmeile weiter unten, wo die Straße eine leichte Biegung machte, stand die plumpe Zementeinfassung einer Brücke. Die Hälfte wurde von der Sonne beleuchtet; doch auf dem schattigen Teil saß eine Gestalt. Sie saß reglos und gebeugt, kaum erkennbar gegen das rieselnde Spiel der Laublichter hinter ihr.

Grothusen putzte seine Brille und setzte sie wieder auf. Die blaßblauen Augen quollen hervor mit fast wütender Konzentration. –

»Donnerwetter,« sagte er, tief überrascht, – »es sollte mich nicht wundern, wenn das . . .« Er vollendete nicht. Sein Gesicht wurde scharlachfarben.

Ein unerklärlicher Schreck, als habe etwas Mystisches plötzlich über ihn Gewalt – wie bei der Erscheinung des 269 körperlosen Knaben in Tufu Gataivai – durchzuckte Gerhart: sein seltsamer Tagtraum hatte Form gewonnen; deutlich erkennbaren Umriß. Das flüchtige Wild, das ihm in geisterhafter Weise den Weg über gefolgt, dessen unverständliche Fragen er um sich schwirren fühlte wie Ton von Insektenflügeln, ungreifbar und in Pein, hatte die Bannlinie durchbrochen und sich in den Kreis der Sinne begeben. Dort saß sie. Niemand anders konnte das sein als sie. – Und diesmal floh sie nicht zurück; verschmolz nicht wieder mit dem Wald, sondern blickte ihnen – scheinbar ohne Unruhe – entgegen. Jetzt glitt sie sogar von ihrem Sitz und schritt langsam heran; winzig zunächst, dann schaukelnden Ganges mählich sich vergrößernd . . .

»Bleiben Sie hier!« sprach Grothusen gebieterisch. – »Es ist meine Frau. – Ich habe mit ihr zu reden.« –

Gerhart gehorchte zögernd; und Grothusen ging resolut vorwärts. – Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis jene sich trafen. Endlich standen sie Aug' in Auge.

Eine weibliche Stimme von unendlich sanftem Tonfall sprach zuerst. Die Wellen dieser Stimme schwammen gleichmäßig zu Gerhart herüber.

Dann sprach Grothusen; er stieß sechs, sieben rauhe Fragen hervor. Auf keine dieser schneidenden Fragen schien eine eigentliche Antwort zu erfolgen; nur immer ein fast besinnungslos gesungenes: »Fa‘amolemole Kotūsa...«

Da erdröhnte – ein zweites Mal für Gerharts Ohren – das böse Wort: »Uma!« – Die Gestalt sank auf der Straße zusammen; ihre bettelnde Stimme wurde schrill.

Grothusen beugte sich spreizbeinig über sie und sprach kurze, heisere, verächtliche Sätze. Mit jedem Satz, den sie wie einen Peitschenschlag zu empfinden schien, schrumpfte sie gleichsam zusammen und wurde kleiner. Dabei begannen die Hände des dunklen Weibes nach vorwärts zu tappen . . . Sie kroch auf ihn zu . . .

270 Und jetzt geschah es, daß Grothusen ihr den Absatz seines Stiefels an die Schulter setzte und sie zurückschleuderte.

Der Stoß war so heftig, daß sie sich überschlug und auf den Rücken fiel; dann, in äußerster Eile, rollte sie sich nach seitwärts, sprang auf und entwich. Grothusens Bambusstock landete pfeifend im Graben zur Seite der Straße. – Ein heller Schrei, wie der eines davonstiebenden Vogels, zerging in der Luft; es raschelte im Dickicht . . . Dann war es still. –

. . . Der Mann hatte den Stock wieder aufgerafft und wollte gerade mit vorgestrecktem Kopf wütend ins Unterholz nachbrechen, als Gerhart herzugerannt kam und ihn erreichte. Er packte ihn an der Schulter und riß ihn herum.

– – Das Gesicht des Buchhalters war stockfleckig; er blickte ihn blind an und atmete schwer. Nach halbwegs wiedererlangter Fassung glättete er den Jackenstoff an der Stelle, wo Gerhart ihn gegriffen, und sprach dann – kellerhohl und schleimig; in einem Tonfall, der noch durchaus neu für seinen jungen Begleiter war –: »Herr, lassen Sie Ihre Finger gefälligst aus dem Spiel! – Hab ich Ihnen nicht gesagt, Sie hätten zurückzubleiben?«

»Sind Sie verrückt, Grothusen?« fragte Gerhart ruhig. – »Was haben Sie vor?«

»Mir Ihre Einmischung zu verbitten; – das habe ich vor! – – Wenn ich hier in überflüssiger Weise Ihren Führer zu spielen habe, so gibt Ihnen das noch lange kein Recht, sich in meine Privataffären zu drängen! – – Wie stolz wir auf einmal sind!« – Das Hamburger »st«, in schönster Schärfe, zischte auf. »Wenn ich mit der – Person da eine Auseinandersetzung habe – wenn ich ihr einen Denkzettel verabreiche –: dann steht er da, der junge Gentleman! – Dann ist er zur Hand und spreizt sich! – Schwingt sich zum Ritter auf für ein – Kanakerweib! –« Grothusen flötete mit rundem Mund. Seine Augen waren klein; Speichel tränkte seinen roten Schnurrbart. Er schwankte etwas hin und her, als ob er betrunken 271 sei; doch war es nur ein grotesker Tanz der Überlegenheit, den er vollführte. –

Gerhart sah ihn ruhig, fast aufmerksam an. – Ein Faustschlag unters Kinn – das fühlte er – würde diesen ausgemergelten Menschen tödlich schädigen; so begnügte er sich damit, ihn zu ergreifen und wie ein Bündel von alten Lumpen auszuschütteln. – Er fühlte, wie das dürre Skelett, im innersten Aufbau erschüttert, fast aus den Fugen ging; – – in seinen eisenharten Fingerspitzen hatte er die Empfindung, als müßten die Sehnen sich ungebührlich dehnen und die Gelenke auseinanderschnappen, um einen hilflosen, gummigliedrigen Krüppel zurückzulassen. – Schließlich gab er ihm noch eine kreiselförmige Drehung, und Grothusen gelangte, sich diesem Antrieb überlassend, sechs Schritt von ihm auf den Boden. – Dort saß er, mit hochgezogener Stirnhaut.

»Sachte,« pfiff er atemlos. – »Sachte, sachte . . .«

Es sollte drohend klingen; doch seine Stimme war zerbrochen durch ein klebriges Keuchen.

»So,« sagte Gerhart befriedigt; – »jetzt haben Sie einmal ein Stück von meiner Meinung. – – Wenn das allerdings Ihre Weise ist, hier ›Bindeglied‹ und ›Brücke‹ zu spielen, so ist sie weniger originell, als ich dachte. – Man braucht nicht weit zu suchen in einer deutschen Kolonie, um andere Leute zu finden, die das gerade so gut, wenn nicht noch besser können. – Wenden Sie sich nur an Ihre Freunde, zu denen Sie gehören; Sie wissen schon: die mit den Bürstenhaaren und den abstehenden Ohren . . .«

Grothusen stand auf; Glied nach Glied. – Er säuberte sich; die magere Hand mit den blauen Adersträngen darauf war auf eine absurd eitle Art bemüht, den Schmutz abzustauben. – Sodann, um Haltung zu zeigen, drückte er das Kinn ein und machte den Rücken steif. Noch sagte er nichts; nur seine Lippen gerieten in die Form eines Dreiecks. – Seine Augen glotzten Gerhart blutdurchschossen 272 und mit blindem Ausdruck an; sein Kehlkopf stieg schluckend auf und nieder. –

Endlich schob sich seine offene Hand mit gekrümmten Fingern nach vorwärts, und mit einem Ton, der Gerhart zurückprallen ließ – im gemeinen, näselnden Slang amerikanischer Werftarbeiter – kam es gurgelnd aus seiner Brust:

»Now cut it out and come across!«

Gerhart warf ihm den vereinbarten Lohn vor die Füße und ging. –


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