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[Weißt du, sagte der Alte zum aufhorchenden Enkel ...]

Weißt Du, sagte der Alte zum aufhorchenden Enkel, warum der Mond die Erde so wehmütig-selig anlächelt? gieb Acht, ich erzähle es Dir: das glänzende Sonnengestirn war in frühster Zeit, wohin keine Erinnerung reicht, mit der schönen Luna vermählt: sie aber war stolz auf den herrlichen Gatten und auf den Glanz, den sie von ihm erhielt. Und sieh! bald wuchs ihr hochmüthiger Sinn zu riesiger Größe, und es deuchte ihr, als strahle nur sie allein im ungeheuern All. Ja sie vergaß sogar in ihrer Verblendung, daß Phöbus ihr seinen Glanz mittheile, und glaubte, durch ihre Schönheit allein die Welt zu erleuchten. Da ergrimmte der Sonnengott, und schied auf ewig von der eingebildeten Thörin – verlassen blieb sie allein in tiefster Trauer. Aber ihren Jammer zu mehren, mußte sie mit dem Geliebten zugleich ihre herrliche Tochter, die Erde, verlieren, und nur ihre Diener, die Sterne, durften ihr folgen. Zu spät, in trauriger Öde, sah nun Luna die Größe des Verlusts – und wenn der zürnende, noch unversöhnte Gatte fortzieht, schleicht sie still heran, den süßen Liebling zu besuchen. Mit mütterlicher Sorge späht sie dann von fern, ob nichts der lieben Tochter mangele, findet ach! mit Allem sie geschmückt, und kann mit keiner Gabe sie erfreuen. Nur mit den spielenden Silberstrahlen wagt sie, wenn Phöbus sehr fern, die Geliebte zu zieren, die das flüchtige, vergängliche Geschenk freudig nimmt. Doch auch die Erde trägt das ewige Sehnen nach der stillen Mutter im tiefsten Herzen und scheidet schmerzlich, wenn der Morgen naht. Schuldbewußt wendet sich dann die trauernde Luna und hüllt sich weinend in ihre Wolkenschleier; wenn aber ihre Frauen ihren Schmerz schauen, weinen sie mit, und ihre Thränen erscheinen uns Menschen als fallende Sterne. – So erzählte der Alte dem Knaben.


Weißt du, sagte der Alte zum aufhorchenden Enkel, warum der Mond die Erde so wehmütig-selig anlächelt?

H 1, Seite 73. – Signatur Sibyllens: Q.


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