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Einleitung

Adele Schopenhauer

A Adele Schopenhauer, die Schwester des berühmten Philosophen, ist am 12. Juni 1797 in Hamburg geboren; aber nicht die norddeutsche Handelsstadt hat als ihre eigentliche Heimat zu gelten, sondern Weimar, wohin die Mutter 1806, nach dem Tode ihres Gatten, der in einem Anfall von Schwermut Selbstmord verübt hatte, übersiedelte. In dieser geistigen Sphäre entdeckte Johanna, die auch als Malerin ein nicht gewöhnliches Talent besaß, ihre poetische Begabung, hier bildete sie sich zur angesehenen Romanschriftstellerin aus, und hier erhielt auch die frühreife Jugend der Tochter Adele die Eindrücke, die für die Entwicklung ihres unregelmäßig kristallisierten Charakters und für ihre krause, allenthalben gebrochene Lebenslinie bestimmend waren.

Das Haus ihrer Mutter, der vermögenden Kaufmannswitwe in den besten Jahren, wurde bald nach ihrer Einwohnung in Weimar der bürgerliche Mittelpunkt der dortigen literarischen Geselligkeit. »Durch die Feuertaufe« war Johanna, nach Goethes Ausdruck, Weimaranerin geworden, denn sie langte am 29. September 1806, kurz vor der Schlacht bei Jena (14. Oktober), dort an, und zu den ersten Erlebnissen, die in der sonst so friedlichen Residenz der Ritter vom Geiste auf sie einstürmten, gehörte die Besetzung und Plünderung der Stadt durch die Franzosen. Durch Sprachgewandtheit und sicheres Auftreten wußte aber Johanna die Schrecken der Plünderung von ihrer Wohnung abzuwenden, und durch Hilfe mit Rat und Tat, durch Pflege der Verwundeten und Linderung der Kriegsnot erwarb sich die resolute Frau schon gleich bei Napoleons Herannahen in der Weimarer Bürgerschaft einen Ruf, der zu Goethes Ohren kam. Am 12. Oktober besuchte er sie unangemeldet und stellte sich ihr selbst als »Geheimrat Goethe« vor, und am 20. Oktober brachte er ihr seine Gattin Christiane Vulpius, mit der er sich, der Gefahr der Zeit Rechnung tragend, tags vorher hatte trauen lassen, nachdem er achtzehn Jahre lang das Ärgernis einer freien Ehe vor einem Parterre von Fürsten und Dichtern nicht gescheut hatte. Die gute Gesellschaft Weimars, die sich bis dahin die Ausnahmestellung des Dichters und seiner Lebensgenossin hatte gefallen lassen, geriet aber jetzt in Harnisch, als er seine Familienverhältnisse in eine bürgerlich solide Ordnung brachte. Dem vom Adel verfemten Ehepaar öffnete sich nun eine sehr willkommene Zufluchtstätte in dem Hause der »Hofrätin Schopenhauer« – ein Titel, der ihrem Gatten, einem Sohne der ehemals freien Reichsstadt Danzig, vom König von Polen verliehen worden war; doch hatte der bürgerstolze Floris Heinrich Schopenhauer niemals selbst davon Gebrauch gemacht. Durch die Aufnahme Christianens bewies sich Johanna als eine über den alltäglichen Vorurteilen stehende Frau. »Wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, so können wir ihr wohl eine Tasse Tee geben«, schrieb sie an ihren Sohn Arthur, der damals noch in Hamburg, wo seine Eltern seit 1793 gewohnt und ebenfalls ein großes Haus geführt hatten, die kaufmännische Lehre durchmachte, und die Bewährung dieses tapferen Wortes hat Goethe der neuen Freundin nie vergessen. Mit bewußter Dankbarkeit wurde er der Magnet, der alle literarischen und künstlerischen Berühmtheiten, an denen Weimar ehemals so reich war, zu ihren Gesellschaftsabenden am Sonntag und Donnerstag hinzog, ihr führte er die zahllosen Fremden zu, die zur Wohnstätte des Dichterfürsten wallfahrteten, und wenn er, wie Karl von Holtei lustig erzählt, gelegentlich in eigennützigem Freiheitsbedürfnis den Strom der Geselligkeit von seinem Haus in das ihre ableitete, so durfte er das tun, da es ihr Freude machte. Der selbstbewußten und lebenslustigen Bürgersfrau gewährte es eine besondere Genugtuung, mit Goethe gegen Adel und Hof zu frondieren, und wenn gerade aus diesem Kreise manche herabsetzenden Äußerungen über sie laut wurden, so können diese nicht die gleiche Gültigkeit beanspruchen wie die Urteile der vielen, die unbefangen in ihrem Hause ein und aus gingen. Bei diesen herrscht über ihre gesellschaftliche Gewandtheit, über ihre Sicherheit in der Führung der Unterhaltung, wie über ihre Bescheidenheit, wenn »kluge Männer« redeten, über die humorvolle Behaglichkeit ihres ganzen Wesens, ihre durch keine besondere Schönheit unterstützte Grazie, ihren Takt und ihr natürliches Verständnis für literarische Dinge nur ein Wort des Lobes, wenn auch nicht all diese Besucher geneigt sein mochten, die schwärmerische Verehrung zu teilen, mit der Karl von Holtei seine mütterliche Freundin gefeiert hat. Der Höhepunkt dieser Gesellschaftsabende bei Johanna Schopenhauer am Theaterplatz war die Zeit von 1806 bis 1813. Da trafen sich in ihrem Salon Goethe und Wieland, Zacharias Werner und Karl Ludwig Fernow, Friedrich de la Motte-Fouqué und Wilhelm Grimm, die beiden Schlegel und Ludwig Tieck, Riemer und Goethes »Kunschtmeyer«, Stephan Schütze, Gerhard von Kügelgen, Fürst Pückler und zahllose andre. Johanna bildete, um Holteis Wort zu gebrauchen, »den Übergang aus der Sturm-, Drang- und Glanz-Periode, in die sie durch damals noch existierende Zeitgenossen eingeweiht worden, zur allmählichen Abnahme, die sie selbst gesehen, und aus dieser dann wieder zur Gegenwart, wie die Sonne, sich nahem Untergang neigend, noch einmal vor ihrem Scheiden mit sanftem Abendrot die halbe Welt beleuchtet.« Obgleich Johanna neben dem Französischen und Italienischen auch die englische Sprache beherrschte, wußte sie doch in echt deutscher Empfindung die besonders in Weimar herrschende »Engländerpest« dauernd von ihrem Hause fernzuhalten; das Gewimmel der »plattierten Lords«, denen Weimars holde Weiblichkeit, allen voran die Schwiegertochter Goethes, Ottilie, ihre Seele verkauft hatte, wurde in den zwanziger Jahren in Weimar so arg, daß der Übersetzer Johann Diederich Gries darauf den trefflichen Spottvers machte:

»Geduld! Verlaß dich auf mein Wort,
Gar vieles ändert sich auf Erden;
Und geht's nur so ein Weilchen fort,
Wird bald das Deutsche hier am Ort
Als fremde Sprache Mode werden.«

Seit dem Wiederausbruch der kriegerischen Wirren 1813 zog sich der alternde Goethe mehr und mehr von der Gesellschaft zurück; 1817 gründete sein Sohn August durch seine Verheiratung mit Ottilie von Pogwisch in den Mansardenräumen des Goethischen Hauses ein eigenes Heim für eine nach Jenny von Pappenheims Zeugnis noch freiere Geselligkeit; 1819 sah sich Johanna Schopenhauer durch den Verlust eines Teils ihres Vermögens zur Einschränkung ihrer Gastfreundschaft gezwungen, zwei Jahre später geriet sie sogar mit Goethe, bei dessen jüngstem Enkelkinde Wolf sie Pate gestanden hatte, in einen zwar bald wieder beigelegten Zwist, und 1823 traf sie ein Schlaganfall; viele ihrer älteren vertrauten Freunde starben weg – kurz, es wurde einsam um die ebenfalls älter und zudem kränklich werdende Frau. Seit 1811 war die Frau Hofrätin auch mehrfach an den großherzoglichen Hof gezogen worden. Nun sich aber die meisten Besucher ihrer eigenen Salons verlaufen hatten, empfand sie erst die übliche Zurücksetzung einer Bürgerlichen in so einer kleinen Residenz. Es wird erzählt, sie habe sich 1825 bei dem fünfzigjährigen Jubiläum des Großherzogs so weit erniedrigt, den Adel zu erbitten, Karl August habe aber das Gesuch mit dem noch dazu unberechtigten Witz abgelehnt, da sie sich selbst den Titel einer Hofrätin beigelegt habe, bedürfe sie auch nicht erst des Adelspatentes!

Dieser Blick auf den Höhepunkt des Lebens der Mutter kennzeichnet die Umgebung, in der die Tochter heranwuchs.

Über Adelens Mädchenzeit haben die 1909 veröffentlichten beiden ersten Teile ihrer Tagebücher strichweise Licht verbreitet. 1912 und 1913 traten dann die beiden dicken Bände aus dem Nachlaß der Ottilie von Goethe hinzu, ihr bis zum Tode ihres Schwiegervaters geführter Briefwechsel, dessen Veröffentlichung nur den Zweck erfüllt, die Geistes- und Gefühlsmisere zu kennzeichnen, über der der Dichter wie ein Paradiesvogel schwebte. Unter Ottiliens Freundinnen, deren prosaische oder gereimte Pubertätszeugnisse hier des Druckes gewürdigt wurden, steht Adele Schopenhauer von 1811 ab obenan, nicht nur durch Zahl und Umfang, sondern auch durch Eigenart und tatsächlichen Inhalt ihrer Briefe, die besonders mit den reifer werdenden Jahren sehr angenehm abstechen von der, wie der Herausgeber Wolfgang von Oettingen selbst zugibt, »auffallenden Oberflächlichkeit« vieler andern Korrespondenzen dieses »kleinen Geschlechts, das der große Moment der Freiheitskriege überraschte«. Dieses leichtsinnige, oft frivole Getändel der adeligen Jugend spottet des Dichterworts von dem großen gigantischen Schicksal, das den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt.

In ihrem 1845 erschienenen Roman »Anna« hat Adele Schopenhauer gezeigt, daß sie sich eine lebhafte Erinnerung an die stürmischen Eindrücke ihrer ersten Weimarer Jahre bewahrt hatte; Personen ihrer nächsten Umgebung in jener Kriegszeit sind in jenem Roman porträtiert, die tüchtige Haushälterin ihrer Mutter und zuverlässige Vertraute ihrer eignen Jugend, Sophie Duguet, tritt sogar unter ihrem richtigen Namen darin auf. Über die Schwelle des eignen gefährdeten Hauses geht aber diese Erinnerung nicht hinaus; der Roman springt mit einem Male auf das Jahr 1822 über und läßt die ereignis- und machtvollste Zeit, deren Größenverhältnisse erst unter der Wucht des jetzt überstandenen gewaltigsten aller Weltkriege zusammenschrumpfen, als eine gähnende Leere hinter sich. Ähnlich steht es auch mit diesem Briefwechsel aus dem Ottilienkreise. Man würde kaum etwas von dem blutigen Ernst der Zeit darin verspüren, wäre nicht die spielerische Betätigung dieser jungen Damen in einem »Orden der Hoffnung oder Schwesternbund«, der durch Geldsammlungen, Handarbeiten usw. Invaliden und Soldatenwitwen unterstützte: seine Großmeisterin, daher vielleicht auch Gründerin war die bürgerliche Adele. Daß dieser Orden ein »Bund gegen undeutsches Wesen und gegen die Napoleonische Bedrückung« gewesen sei, wie Jenny von Gerstenbergk in ihrem Büchlein »Ottilie von Goethe und ihre Söhne Walther und Wolf« versichert, widerlegt sich aus diesen Briefen von selbst.

Den Höhepunkt dieses patriotischen Aufschwungs bildete 1813 die kurze Gastrolle eines von französischen Dragonern versprengten Lützower Jägers, den man verwundet und hilflos im Weimarer Park fand. Nach seiner Genesung entführte er als Siegestrophäen die Herzen Ottiliens und – Adelens mit sich in seine schlesische Heimat. Ferdinand Heinke, so hieß dieser Rattenfänger, war zwar schon verlobt, erwiderte aber die heftige Leidenschaft Ottiliens; das Wörtchen »von« jedoch, unter dem Ottilie litt, machte eine eheliche Verbindung unmöglich. Adele, die Bürgerliche, mußte sich mit der herzlichen Freundschaft des Mannes begnügen, der nach dieser romantischen Episode in das Haus seiner Eltern, biederer Pelzhändler in Breslau, zurückkehrte, seine bisherige Verlobte prompt heiratete und ein tüchtiger preußischer Verwaltungsbeamter wurde. Anfang der dreißiger Jahre arbeitete der nunmehr geadelte Polizeipräsident von Heinke tapfer in Demagogen- und Burschenschaftsverfolgung. Den unglücklichen Mädchen in Weimar verblieb aber dauernd dies Körnersche Idealbild des verwundeten Kriegers im Park an der Ilm, und sein mit heißen Tränen beweinter Verlust schloß beide Opfer, Ottilie und Adele, in überschwenglichster Freundschaft zusammen. Beiden ist dieses Jugenderlebnis unvergeßlich und teuer geblieben. Ottiliens leidenschaftzerwühltes Leben bewahrte es vielleicht davor, sich völlig zu verlieren, und wenn Adele in ihrem späteren Leben das Glück leidenschaftlicher Liebe kaum zum zweitenmal empfunden hat, so durfte sie bei den hartnäckigen Enttäuschungen ihres Herzens sich mit den Worten des Dichters trösten:

»Ich besaß es doch einmal,
Was so köstlich ist!«

Die unglückliche Adele bedurfte dieses Trostes schon deshalb, weil sie häßlich war. Dem widerspricht nur ein einziges Urteil, aber ein gewichtiges: das des Fürsten Pückler, der in Fragen des Geschmacks einiges Vertrauen beanspruchen darf. Er war 1812 Gast bei Schopenhauers und schrieb einer Freundin ganz begeistert über seinen Besuch: »Adele ist eins von den weiblichen Wesen, die entweder ganz kalt lassen oder tiefes, unwandelbares Interesse erregen müssen. Was meine eigne Individualität angeht, kann ich nicht mehr über sie sagen, als daß ich wünschte, meine zukünftige Frau möchte ihr treues Ebenbild sein; ihr Äußeres gefällt mir, ihr Inneres ist eine schöne Schöpfung der Natur.« Adele war damals fünfzehn Jahre alt, also in ihrer frischesten Mädchenblüte, die, wenn sie überhaupt je so war, wie Pücklers Begeisterung sie sah, sicher schnell dahinschwand. 1828 nannte sie der Bildhauer Rauch »abschreckend häßlich«; Friedrich Hebbel, Fanny Lewald, Heinrich König, Karl Gutzkow und andre bestätigen dieses Urteil, und geradezu grotesk ist das Bild, das Levin Schücking von ihr entwirft, der sie 1840 bei Annette von Droste-Hülshoff in Rüschhaus traf. »Von der Wiege Adelens«, sagt er, »waren die Grazien in einer wahrhaft empörenden Entfernung geblieben; die große knochige Gestalt trug einen Kopf von ungewöhnlicher Häßlichkeit, der nicht im mindesten an den des Philosophen erinnerte, sondern in ganz eigner Weise Victor Hugos großes Wort › Le laid, c'est le beau‹ zu bestätigen gewußt hatte; er war rund wie ein Apfel, er wäre vom Typus der Tataren gewesen, wenn er in seiner eigensinnigen Originalität nicht jedes Typus gespottet hätte. Aber ein Paar ernste treue Frauenaugen leuchteten aus diesem Kopf, und niemand konnte sie kennenlernen, ohne sich bald von ihr angezogen zu fühlen, von einem Charakter von seltener anspruchsloser Tüchtigkeit und einer Bildung von ganz ungewöhnlicher Gründlichkeit und überraschendem Umfang.« 1829 bat selbst ihre unbefangene, kein Blatt vor den Mund nehmende Mutter Holtei, sich von dem ersten Anblick ihrer Tochter nicht abschrecken zu lassen.

Solange Adele unter ihren adligen Jugendgespielinnen noch als reiche Erbin galt, scheint der Mangel körperlichen Reizes kein Störer ihres Glückes gewesen zu sein. Zum Fluch wurde er erst, als die Mutter 1819 einen Teil ihres Vermögens verlor, fast wie auf der Flucht Weimar verließ, um in ihrer Heimat Danzig zu retten, was zu retten war, aber nach einjähriger Abwesenheit mit Adele auf den Schauplatz ihrer früheren gesellschaftlichen Triumphe zurückkehrte. Weder der Mutter noch der Tochter blieben Zurücksetzungen erspart; am schwersten aber litt Adele darunter, denn für sie bedeutete der Vermögensverlust den Ruin ihrer Zukunft. »Wenige sind wohl so glücklich gewesen, als ich im Leben: das plötzliche Aufhören des Glücks und die Verachtung, die dieses Aufhören mir gegen die liebsten Menschen aufzwang, brachte mich in die Mitte zwischen Wahnsinn und Tod,« versichert sie 1831 in einem ihrer gedankenreichen Briefe dem Bruder. »Ich suchte mir zu helfen und fand Mittel aus, das Leben zu ertragen, ohne Freude, aber doch ohne Klagen, und mein Körper blieb länger krank als meine Seele. ... Keine einzige leidenschaftliche Empfindung bewegt mich, keine Hoffnung, kein Plan – kaum ein Wunsch; denn meine Wünsche streifen an das Unmögliche; so habe ich ihrem Fluge und Zug nachsehen lernen, wie dem der Vögel in der blauen Luft. Ich lebe ungern, scheue das Alter, scheue die mir gewiß bestimmte Lebenseinsamkeit. Ich mag nicht heiraten, weil ich schwerlich einen Mann fände, der zu mir paßte. Ich weiß nur einen, den ich heiraten könnte ohne Widerwillen, und der ist verheiratet. Ich bin stark genug, um diese Öde zu ertragen; aber ich wäre der Cholera herzlich dankbar, wenn sie mich ohne heftige Schmerzen der ganzen Historie enthöbe.«

Dieses Grauen vor der »Lebenseinsamkeit« begann schon das neunzehnjährige Mädchen zu beunruhigen. »Mein Los hat eine Niete, denn ich bleibe krank und allein« – diesen harten Urteilsspruch, den das Schicksal tatsächlich über sie gefällt hat, enthält schon ihr Tagebuch von 1816, und es ist gewiß nur eine ganz natürliche Notwehr gegen die Schicksalsgewalten, wenn sie bei jeder möglichen Gelegenheit dem ihr gewissen Lose zu entfliehen hofft. Sie hätte einen Hausfreund ihrer Mutter, den Vizekanzler von Gerstenbergk, der schon so gut wie zur Familie gehörte, heiraten können, und es scheint auch, als ob die Mutter diesen Entschluß gern gesehen haben würde; aber ein dumpfes Gefühl des Mißtrauens riß Adele von diesem Manne zurück, der selbst haltlos zwischen Extremen pendelte, bald in ihr seine Feindin sah, bald sie mit eingebildeter Eifersucht verfolgte. »Ihn heiraten wäre das klügste – ich kann nur nicht!« erklärt sie am 20. Februar 1817 in ihrem meist an Ottilie gerichteten Tagebuch, und schon einige Monate vorher (16. Oktober 1816) hatte sie dieser Freundin auch brieflich ihr Herz über Gerstenbergk ausgeschüttet. »Ich fürchte manchmal,« schreibt sie mit frühreifem psychologischem Scharfblick, »die Leere in Gerstenbergks Herzen treibt ihn nach ein paar Jahren zu einem leidenschaftlichen Gefühl für mich – Liebe wird's nie; ich bin nicht einmal eitel genug, das zu glauben; doch eine Art Eifersucht; sein will er mich nicht nennen, aber mein Geist solls seyn und keinen Andern denken. Die Reizbarkeit seines Wesens treibt ihn zu solchem Unwesen und wird, wenn wir uns etwa noch einigemahl trennen, ausarten, weil er dann meine Fehler alle vergißt und mich in Gedanken sehr bessert – vor welcher Besserung Gott mich behüte.« Daß das bekannte Zerwürfnis der Mutter mit ihrem Sohn Arthur, das bei dem finanziellen Zusammenbruch der Familie Schopenhauer nur noch schroffer geworden war, bei diesen Kämpfen eine Rolle spielte, ist gewiß, ebenso daß Adele tapfer zum Bruder hielt, wo sie sich nicht selbst von ihm roh beleidigt fühlte; aber durchsichtige Klarheit über die Bewegungen dieser häuslichen Schlachtordnung geben uns auch der Schwester Aufzeichnungen nicht. Nur heraus möchte sie aus den aufreibenden Zwisten mit der Mutter, und schon zu dieser Zeit ist sie schier zu jeder Vernunftheirat entschlossen, die sie nicht mutwillig unglücklich macht. Fast endlos ist die Reihe der Männer, die sie nun im Lauf der Jahre auf Heiratsmöglichkeiten Revue passieren läßt, bei denen sie immer wieder einen »Anhalt« im Leben zu finden hofft, und die immer wieder, oft gewiß ganz ahnungslos über Adelens vorschnelle Hoffnungen, aus ihrem Gesichtskreis verschwinden oder die leichte Beute glücklicherer Freundinnen werden. Ihre hier zum erstenmal veröffentlichten Gedichte und ihre späteren Tagebücher, die mir in der Handschrift vorliegen, zeigen, daß sich diese einseitigen Heiratspläne sogar bis in die Zeit hinein fortsetzen, wo schon eine unheilbare Krankheit den Gedanken an eine Ehe zum Frevel machte.

So wandelt sich das fröhliche Kind sehr bald in das ältliche verbitterte Mädchen. Wenn sie mit neunzehn Jahren noch seufzte; »Die Männer! Wer versteht sie denn!«, so wurde sie nur zu bald die typische Erscheinung der alten Jungfer, die das erotische Gezappel ihrer Freunde mit gouvernantenmäßiger Überlegenheit und übertriebener Prüderie behandelte und verschränkten Armes Unfehlbarkeitsurteile aus der Fülle einer Lebenserfahrung zum besten gab, die sich ihr leider nie geboten hatte, im Gegensatz zu der temperamentvolleren und entschlosseneren Ottilie von Goethe. Diese gouvernantenmäßige, philiströse Art, die das frische und kräftige Leben ringsum als ein Schulheft betrachtet, das nur mit roter Tinte zu behandeln ist, macht ihre Tagebücher trotz manchen feinen Einzelheiten zu einer peinlichen Lektüre.

Für diesen unerfreulichen Zug im Wesen Adelens entschädigten aber, wie schon Levin Schücking nachdrücklich hervorhebt, Vorzüge des Herzens und vor allem des Geistes. Von der »klugen Adele« ist im Bekanntenkreis der Mutter schon früh die Rede, wenn auch keineswegs in beifälligem Sinne; es scheint wie bei vielen geistig frühreifen Personen einige Zeit gedauert zu haben, bis das junge Mädchen ihre selbstbewußte Überlegenheit an Talent und Wissen mit dem gesellschaftlichen Takt in harmonischen Einklang brachte. Der berühmte Kriminalist Anselm von Feuerbach, der 1815 in Karlsbad den Damen Schopenhauer flüchtig begegnete, nennt die achtzehnjährige Adele kurzweg eine »Gans«. Der Calderonübersetzer Ernst von der Malsburg, einer der »gemütvollen« Dichter der Romantik, allerdings selbst kein großes Licht, war 1824 in Weimar bei Schopenhauers und schilderte die Familie in einem Briefe an Tieck. Von der Tochter war er sehr abgestoßen: »mit entsetzlichem Geistesgepolter rasselte und stolzierte« sie daher und »zog alle Schellen und Orgelzüge ihres Genius auf«. Im Anfang war ihm die neue Bekanntschaft entsetzlich, fast lächerlich, dann in Augenblicken wieder recht leidlich, so daß er »zwischen Schrecken und Verwunderung, manchmal auch tragischem Mitleid und Angezogenheit auf und ab schwankte«. Dann macht er die kluge Bemerkung: »Es ist etwas Sonderbares mit solchen Geistreichen; man wird sehr häufig von Erstaunen angefallen, wie bey einem kunstreichen Uhrwerke auf einem Marktthurme, aber auf einmal, und da, wo man sich bewandert glaubt, erscheinen sie Einem ganz unwissend oder einfältig,« und, fügt er hinzu, »so gieng es mir recht oft bey dieser berühmten Adele«. Vielleicht aber regte Malsburgs eigene Unterhaltungsgabe in Adele eine ähnliche Empfindung auf, wie ein Fräulein Collin, mit der sie am 18. Juli 1816 in Schwalbach zusammen war und über die die Neunzehnjährige entrüstet in ihren Tagebüchern berichtet: »Als sie aber über Kunst, Literatur, Goethen und Schillern viel sagte, was ich besser wußte, – da wurde ich übermütig und schmiß mit solchen Redensarten um mich, daß beiden Angst wurde. Es war aber auch zu arg, mir zu sagen, daß Correggio die Nacht gemalt habe, und sie als Kind eine Kopie gesehen habe!«

Das harte Urteil Feuerbachs mag nicht unberechtigt gewesen sein zu einer Zeit, wo die Spielereien des Kreises um Ottilie von Pogwisch und Adele im »Orden der Hoffnung« abgelöst wurden durch »Musenkaffees«, bei denen die talentbegabten Freundinnen »Tille-Muse«, »Adel-Muse«, »Jule-Muse« oder wie sie sich sonst geschmackvoll nannten, ihr poetisches Gestammel zum Vortrag brachten, wobei sich wieder die Verse Adelens durch Inhalt und Form auszeichneten; wie Adelens Tagebücher verrieten, hat Gerstenbergk, der ebenfalls poetisch dilettierte, drei oder vier Gedichte Adelens unter seinem Namen in seine 1817 erschienene Sammlung »Phalänen« aufgenommen; als früheste Talentproben Adelens sind sie in den Anmerkungen zu ihren Tagebüchern (I. 145 f.) wieder abgedruckt. Die Äußerung Malsburgs aber stammt schon aus einer Zeit, in der bereits kein Geringerer als Goethe Adele seines freundschaftlichen Umgangs würdigte, nachdem sie gewissermaßen unter seinen Augen vom neunjährigen Kinde, mit dem er, trotz Geheimratswürden, noch gespielt hatte, zur Jungfrau herangewachsen war. Adele war von Jugend auf eine eifrige Theatergängerin, und ihre enthusiastische Freundschaft für das Schauspielerehepaar Pius Alexander und Amalie Wolff hatte sie früh zu Versuchen in dieser Kunst angeregt. Sie galt als eine treffliche Deklamatorin: in dem von Goethe gedichteten Maskenzug, der am 18. Dezember 1818 die Anwesenheit der Kaiserinmutter Maria Feodorowna von Rußland in Weimar feierte, verkörperte sie mit gutem Erfolg die Tragödie; in Berka waren die Rollen vom Dichter selbst mit den Hauptdarstellern einstudiert worden. Das Rollenheft mit der handschriftlichen Widmung Goethes fand sich im Nachlaß Adelens. In seinen »Tag- und Jahresheften« von 1821 nennt er neben Julie von Egloffstein Adele ein »entschiedenes Talent dieses Faches«, niemand soll so gut wie sie Goethes Iphigenie gesprochen haben, und ihr eignes Tagebuch vom 12. Februar 1820 berichtet die niedliche Anekdote von dem Erfolg ihrer Thekla in Schillers »Wallenstein«, die sie bei einem Fest in Danzig dargestellt hatte. »Ein alter preußischer General ... kam zu mir und sagte mit einer Stimme, die etwa wie ›Kreuzelement‹ klang: ›Sie haben ja deklamiert, weiß Gott, daß mir die Tränen aus den Augen geschossen sind‹. Dazu sah er aus, als ob er's recht übelnehme.«

Zu ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag sandte ihr Goethe seine »Wanderjahre«, verwechselte aber die beiden für sie und Marianne von Willemer bestimmten Exemplare miteinander und berichtigte dann am 28. November das »Heitere Mißverständnis« mit den zierlichen Versen:

»Verirrtes Büchlein! kannst unsichre Tritte
Da oder dorthin keineswegs vermeiden;
Irrsternen zu bewegst du deine Schritte,
Und vor dem Kommen bist bereit zu scheiden.
Für dießmal aber wollen wir dich fesseln,
Du sollst mir diese Botschaft nicht verfehlen;
Sey es durch Rosen, Dornen, Veilchen, Nesseln,
Nur immer grade zu, geh zu Adelen!«

Die enge Freundschaft Adelens mit Ottilie von Goethe machte sie zu einem häufigen Gast in dem Haus am Frauenplan, und wenn sich, was mit den zunehmenden Jahren immer seltener geschah, auch der Schwiegervater bedächtigen Schrittes hinauf in die Mansardenräume begab, um bei solchen Gesellschaften begünstigten Fremden Audienz zu geben oder intime Freunde zu begrüßen, so gehörte Adele zu denen, die häufig seiner Auszeichnung gewürdigt wurden. Oder er nahm sie auch mit hinunter in seine eignen Zimmer, die den damaligen Besucher, der noch nicht durch Museen aller Orten und aller Art verwöhnt war, erst recht museenartig anmuten mußten, da sie der Merkwürdigkeiten eine unerschöpfliche Fülle enthielten. Hier schlug er dann eine der vielen Mappen auf, die Zeichnungen oder Kupferstiche enthielten, und freute sich der klugen Bemerkungen des kunstverständigen Mädchens. So wie er früher der Mutter gelegentlich in eine Zeichnung hineinkorrigiert hatte, sah er es gern, wenn ihm jetzt Adele Proben ihres nicht gewöhnlichen Talentes vorlegte, ihn um Rat anging und über seinen Beifall stolz errötete. Ab und zu mag sie mit ihren malerischen Bagatellen dem guten Geheimrat auch ein wenig lästig gefallen sein; diesen Eindruck hatte wenigstens Heinrich König, der Ende September 1828 in Weimar weilte, Goethe besuchte und auch bei Schopenhauers vorsprach, die damals eben von einem mehrmonatigen Aufenthalt am Rhein zurückgekehrt waren und den letzten Winter in Goethes Nähe zubrachten. Adele klagte ihm, daß man jetzt so schwer und selten bei dem Geheimrat vorkommen könne, da er ganz in Beschlag genommen sei von Fremden, die aus Bädern heimkehrten, und von Naturforschern, die von ihrer Versammlung in Berlin den Rückweg über Weimar nahmen. Sie warte von Tag zu Tag auf ein »gutes Stündchen« bei ihm, denn sie brauche seinen Rat sehr dringend bei der Wahl – einiger Farben zu einer Zeichnung auf Holz, die sie dem etwas ironisch dreinschauenden Besucher vorwies. Das Kunstwerk, über das Goethe sein Urteil abgeben sollte, war ein für ihre erst kurz vorher gewonnene Freundin Sibylle Mertens-Schaaffhausen in Köln bestimmter Tisch, an dem Adele zu jener Zeit arbeitete; zwei ihrer Briefe an Goethe aus dem Oktober desselben Jahres beziehen sich darauf, und am 5. Februar 1829 lud Goethe die »Künstlerin mit dem Kunstwerke« zu einem »frugalen Mittagsmahl« bei sich ein. Daraufhin wohl schrieb dann Johanna Schopenhauer am 19. Februar ihrem Freunde Holtei, daß »der alte Herr«, der »oft kaum begreift, wie Andere sich unterstehen können, auch existieren zu wollen«, Adelen »zuweilen zu einem Diner tête-à-tête« zu sich bitte.

In der Tat war, wie König sagt, der liebenswürdigen Adele zum Ersatz für den ihrem Angesicht so gänzlich versagten Liebreiz die Gabe in Auge und Hand gelegt mit dem Pinsel und der Schere Anmutiges zu bilden. Ebenfalls zu Anfang des Jahres 1829 gedenkt Goethe in Versen an den Berliner Maler Samuel Rösel der »holden Finsternisse« von »Adelens Klecksen«, ihrer Silhouetten, die sie mit besonderer Meisterschaft auszuschneiden wußte. Einige Proben dieser »wahrhaftigen Gedichte mit der Scheere«, wie Karl Immermann sie bewundernd nannte, sind den beiden ersten gedruckten Bändchen ihrer Tagebücher als Auswahl aus einer größeren Sammlung beigegeben. »Es ist zum wenigsten vielleicht die Fingerfertigkeit, die an diesen winzigen, komplizierten, vielverästelten Blättern zu bewundern ist,« sagt der Herausgeber Kurt Wolff; »mit einem Geschick, das angeborene künstlerische Fähigkeiten und erlesensten Geschmack verrät, sind die Landschaften, Gruppen, Figuren in den kleinen runden Raum gesetzt. Das Auge kann an diesen Schattenspielen nicht vorbeihuschen, sie bannen es in ihr dunkles Reich, zwingen zum Verweilen, und indes man hineinstarrt in dies rätselhafte Dunkel, beleben sie sich, die Schatten längen, dehnen sich, die Tanzenden schweben vorüber, das Liebespaar versteckt sich hinter der Baumgruppe, Bäume neigen die Kronen wie unter leisem Wind, der Hexensabbat tobt wild vorüber – vor dem Auge, das hinter den Schatten das Wirkliche erspähen wollte, flimmert es, und unbewegt, unverändert und kühl liegt der Schattenriß, der sein schwarzes Geheimnis nicht durchschauen läßt, vor uns.« – 1913 ist eine Reihe ihrer Arbeiten als »Silhouettenbuch der Adele Schopenhauer« herausgegeben worden. Ein zweites, nicht minder wertvolles ihrer Silhouttenbücher hat sich neuerdings gefunden; es stammt aus dem Besitz der Freundin Adelens, Sibylle Mertens-Schaaffhausen, und wird hier als Beigabe zu ihren Gedichten veröffentlicht.

Wie aufrichtig Goethe Adele Schopenhauer schätzte, beweist vor allem sein Briefwechsel mit ihr. Er beginnt schon mit dem Jahre 1820, wird aber erst inhaltreich, als Adele mit ihrer Mutter Weimar verließ, aus Köln und Bonn, Godesberg, Plittersdorf und Unkel a. Rh. dem väterlichen Freunde über ihr neues Leben berichtete und nicht nur mit flüchtigen Dankeszeilen abgefunden wurde, sondern sich vertraulicher und bedeutender Antworten Goethes rühmen durfte.

Schon seit Anfang der zwanziger Jahre hatte sich Johanna auf ihren regelmäßigen Badereisen nach einer andern Wohnstätte umgesehen, wo sie in einem milden Klima und mit geringern Kosten den Rest ihres Lebens verbringen könnte. Im Sommer 1828 hatte sie sie in Unkel, einem kleinen Flecken am Rhein, gefunden. Die Übersiedlung erfolgte 1829. Damit schloß Johannas und Adelens Weimarer Zeit ab; die Mutter schritt rüstig und mit humorvoller Gefaßtheit dem Greisenalter entgegen; für Adele begann erst jetzt, wo sie mehr auf sich angewiesen war und gleichsam von ihrem eignen geistigen Kapital zehren mußte, der Kampf zugleich um die innere und äußere Existenz, der dann mit ihrer Entwicklung zur Schriftstellerin endete.

Im Jahre 1826 scheinen die mancherlei unerquicklichen häuslichen Umstände, die Adele Schopenhauer von Weimar fortdrängten, ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Eine mehrjährige Beziehung zu einem jungen Jenaer Gelehrten, dem Chemiker Gottfried Osann, dessen Namen mehrere ihrer Gedichte bezeichnet und damit erklärt, hatte im Sommer 1826 ein trübseliges Ende gefunden; abermals mußte Adele eine ihrer stillen Hoffnungen zu Grabe tragen. Osann ist es, von dem Adele noch 1831 an Arthur schreibt, daß der einzige Mann, den sie ohne Widerwillen würde heiraten können, schon verheiratet sei. Ebenfalls im Sommer 1826 erlitt sie durch einen Sturz aus dem Wagen auf der Chaussee von Jena nach Weimar eine starke Erschütterung ihrer niemals festen Gesundheit. Man möchte fast an einen ursächlichen Zusammenhang beider Ereignisse denken, denn der Entschluß zum Selbstmord hatte sie schon einmal, 1820, bei dem Aufenthalt in Danzig, zu überwältigen gedroht, und fast zur Gewißheit wird diese Vermutung durch den ergreifenden Aufschrei tiefster Seelenqual, der sich, mit dem Datum »In Jena, im September 1826« bezeichnet, unter ihren Gedichten findet. Obendrein war Adele durch die unglückliche Ehe ihrer besten Freundin mit August von Goethe und durch die unvorsichtigen »Extratouren« des Herzens, in denen Ottilie Sättigung ihres verzehrenden Liebeshungers suchte, oft in peinliche Mitleidenschaft gezogen worden; nicht ganz ohne eigene Schuld, scheint sie doch bei einem Flirt, den Ottilie 1822 mit einem jungen schönen Kunstreiter namens Baptiste begann und noch 1824 fortsetzte, den versgewandten anonymen Liebesboten gespielt zu haben, wie zwei ihrer Gedichte aus jenem Jahr zeigen.

Die neue Heimat, das Rheinland, war beiden Frauen von ihren mehrfachen Reisen her in schönster Erinnerung; in ihrem 1818 erschienenen Buche »Ausflucht an den Rhein und dessen nächste Umgebung im Sommer des ersten friedlichen Jahres« (1816) hatte Johanna bereits das Rheintal bis hinunter nach Koblenz anmutig geschildert, und mit besonderer Vorliebe hatten Mutter und Tochter in den Taunusbergen, in Wiesbaden, Schlangenbad und Langenschwalbach ihre Sommeraufenthalte verbracht. Schon 1821 nennt einmal Adele den Rhein »das Vaterland eines großen Teils meines Wesens, der Behaglichkeit«. So lenkte sie auch im Frühjahr 1827 ihre Schritte westwärts, um durch längeren Luftwechsel und die nervenerfrischende Ablenkung einer neuen Umgebung körperliche und geistige Erholung zu finden.

Am 10. Mai reiste sie von Weimar ab. Zuerst weilte sie in Frankfurt, wo sie mit dem Bankier von Willemer und dessen Frau Marianne, Goethes Suleika, verkehrte, ohne daß sich die beiden Frauen nähertraten. Der Aufenthalt in Frankfurt scheint sich bis Ende August ausgedehnt zu haben. Noch am 10. August meldet Johanna Schopenhauer, die in Jena auf Sommerfrische war, an Ludwig Tieck, Adele sei in Rödelheim bei einer Freundin und werde nächstens mit einer andern auf einige Monate nach Köln gehen. Der Brief an Goethe vom 10. November ist auch von dort datiert. Der Landaufenthalt hatte Adelens Körperkräfte »in etwas gestärkt«, aber die ersehnte Ruhe des Herzens schien sie erst hier in Köln zu finden. »Bedeutende innere Kämpfe, schmerzlich Entsagen, gewaltsame Trennungen«, so gesteht sie dem »lieben Vater«, »stellten mich der Kunst wie der Natur gleich fern, denn das Herz ist dennoch ein Drittes, eine Welt für sich und muß in sich schaffen und zerstören. Tritt dann die Ebbe der Empfindung, die geistige oder gemütliche Ermüdung ein, dann erst können Genüsse sich nahen, neue Lebenselemente sich bilden – bis wieder der vorhandene Stoff zu neuen Gestaltungen und zu Kriegen zwingt oder veranlaßt. – Seit vielen Monaten habe ich nicht gesprochen noch gedacht wie eben jetzt, denn es ist vieles, sehr vieles anders, einfacher, weiblicher geworden in mir, der Gedanke an Sie wird mich aber stets aufwecken zu unzählig andern.«

Köln behagte ihr bei ihrer »Vorliebe für alles Alter- und Eigentümliche«. Zum erstenmal sah sie den Konflikt verschiedener Religionsformen, »mit kühlem, entschiedenem Kopfe« betrachtete sie die »seltsamen Erscheinungen«, die er hervorbrachte, sie fühlte sich »lebhaft interessiert, erstaunt, aber nicht befangen« von einem ihr ganz fremden Stoff. Als gelehrige Schülerin Goethes lernt sie hier in Köln zeichnen »nach Ihrer Ansicht; ich bin möglichst fleißig, meine Hand ist frei geworden, ich zeichne mit Kohle oder stumpfer Kreide und sehr keck. Musik, Briefschreiben, all dergleichen leidet darunter, aber es muß; sonst fördere ich mich nicht. Mein Lehrer hat in Paris zwölf Jahre lang gemalt, hat Ludwig XVI. und seine Familie gemalt, ist während der Revolution geflohen und hat viel sich in der Welt umher getrieben, hat viel gesehen und unglaublich viel erfahren und geleistet. Es ist ein sehr toller Kopf, der aber in seinem originellen Wesen wohl zu meinem Lehrer sich eignet. Wäre nur immer genug innere Stille in mir, so würde ich viel lernen können.«

Noch ein Ausdruck der Stimmung, die Adele in diesem Winter beherrschte, ist ihr Gedicht »Unter den hellen nickenden Blüthen«, das aus Köln 1828 datiert ist (s. S. 133).

Im Februar 1828 wohnte sie dem Kölner Karneval bei. Sie schilderte seine Lustbarkeiten ausführlich ihrer Mutter, und diese benutzte Adelens Briefe für ihr nächstes Reisewerk. Außerdem zeigte sie sie Goethe, der, angeregt durch den Bonner Naturforscher Nees von Esenbeck, seit 1824 an dem rheinischen Volksfest Anteil nahm, 1825 dem »Kölner Mummenschanz« sogar Verse gewidmet hatte.

In dieser Zeit, und zwar im Januar 1828, machte Adele eine Bekanntschaft, die von entscheidendem Einfluß auf ihr weiteres Leben werden sollte, die der Kölnerin Sibylle Mertens-Schaaffhausen, einer Tochter des angesehenen Kommerzienrats Abraham Schaaffhausen, einer mit reichen Gaben des Geistes und Herzens ausgestatteten Frau, die schon damals als Sammlerin großen Stils auf dem Gebiete der Kunst und Altertumskunde eine auffallende Erscheinung war, später mit Gelehrten wie Mommsen, Rietschl, Gerhard, Stickel und zahlreichen andern in lebhaftem wissenschaftlichen Verkehr stand und als glückliche Finderin des schönsten der Friese des Mausoleums von Harlikarnaß, des sogenannten Genueser Fragments, ihren Namen in der Altertumsgeschichte verewigt hat. Dem Leben dieser in jeder Beziehung ungewöhnlichen Frau ist ein umfangreiches Werk gewidmet, das bald erscheinen und außer Sibyllens reichem literarischem Briefnachlaß Tagebuchaufzeichnungen aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bringen wird, die sich neben dem Besten sehen lassen dürfen, was das deutsche Schrifttum dieser Art aufzuweisen hat. Für dieses Werk muß ich mir auch eine ausführliche Darlegung der engen Freundschaft vorbehalten, die sich bald nach der ersten Bekanntschaft zwischen Adele und der Kölnerin entspann, durch das wetteifernde Dazwischentreten andrer bedeutenden Frauen wohl manchen Wechselfällen und Stimmungslaunen unterworfen war, aber doch in ihrem innersten Kern so fest blieb, daß das Leben der beiden Frauen äußerlich und innerlich ineinander verwuchs und das der einen nicht wohl zu schildern ist, ohne zugleich das der andern zu geben. Hier muß ich mich darauf beschränken, mit wenigen Briefstellen den fruchtbaren Gefühlsgrund anzudeuten, auf dem diese reiche und tiefe Freundschaft erwuchs und aus dem sie zwanzig Jahre lang, bis zum Tode Adelens, unerschöpfliche Nahrung sog.

Die erste Mitteilung enthält Adelens Brief an Ottilie von Goethe vom 30. April; er kommt aus Godesberg, wo Adele in der Pension eines Fräuleins Fuchs Wohnung genommen hatte, in nächster Nähe ihrer neuen Freundin, die auch einen Teil des Winters auf ihrem Landgut im nahen Plittersdorf zubrachte. Die Sibyllen betreffende Briefstelle lautet:

»Ich habe wieder eine menschliche weiche Neigung in meinem von Kummer versteinten Herzen – zu einer Frau, die im Wesen Dir und mir gleicht, doch verschieden von beiden etwa zwischen uns zu stellen ist. Was sie alles getan hat, um mich zu gewinnen, aus welcher reinen Absicht, wie sie mittendrin die Absicht verloren und nur Gefühl geworden, das, meine Ottilie, ist zu groß und wunderlich, um es einem Wisch Papier anzuvertrauen, den Du doch herumliegen läßt. Genug daß ich glaube, der Mertens Bekanntschaft kann einen Einfluß auf mein künftiges Leben gewinnen. Bisher war sie hier in Plittersdorf, eine halbe Stunde von mir, und wir den ganzen Tag beisammen ...

»Sie erinnert mich unaufhörlich an Dich, sie hat ungemein viel von Dir, nur ist sie gescheiter, und Du hast mehr Geist; sie ist gründlicher, Du vielseitiger gebildet – sonst ist vieles so ähnlich, daß mir die Augen übergehen. Doch paßt sie ins wirkliche Leben, sie ist von ihrem Vater erzogen. Sie hat sechs Kinder und ist außerordentlich reich. Wenn ich nicht mit Dir leben soll, Ottilie ... so möchte ich da leben, wo die Mertens lebt, denn sie befriedigt mir Herz und Geist, obschon sie mich nicht entzückt, wie Du früher oft getan durch das, was nur Du bist und ich nicht nennen kann, und was kein Mensch zu mir sein wird.«

Von nun ab enthalten die zahlreichen Briefe Adelens an Ottilie mehr oder weniger ausführliche Angaben über Sibylle. Am 19. und 20. Mai widmet sie ihr folgende glänzende Charakteristik:

»Die Mertens hat nie ein Liebesverhältnis gehabt, im neunzehnten Jahre hat man sie verheiratet, ihr Verhältnis zu Mertens gleicht dem Deinen zu August. Du begreifst, daß die Mertens eine Tiefe und Reinheit der Gefühle der Freundschaft hat, die selten sind. Ich bin außer von Julien [Kleefeld] nicht so geliebt worden, es sei denn von Dir! Und anders als Julie quält mich die Mertens nicht, im Gegenteil, sie ist noch nie eine Minute kleinlich mir erschienen. Auch schwärmt sie nicht, menschlich und natürlich liebt sie mich mit meinen Fehlern, tadelt und lobt mich; aber ich sah sie die fürchterlichsten Schmerzen im Kopf bekommen, ich sah eine Todeskälte über ihren ganzen Körper sich ausbreiten – weil ich sehr heftige Herzweh hatte, die nicht krampfhaft waren und ihr gefährlich scheinen. Sie lag die ganze Nacht auf meiner Bettdecke und tat kein Auge zu, denn sie bewachte mich, ob ich kränker würde; die zarte, vornehm erzogene Frau stand in der Küche und kochte für mich, damit ich nichts Schädliches oder nicht nach meinem Sinn bereitet bekäme; sie kam in Hitze und Sturm, bei Tag und Nacht – sie würde ebenso auf der Diele liegen und Wasser und Brot essen, wenn mir ein Gefallen damit geschehe. Dabei ist sie nicht im mindesten exaltiert, sie liebt außer mir noch zwei Frauen – oder vielmehr zwei Mädchen und eine Frau ... Dabei ist sie sehr liebenswürdig und voller Verstand, sie treibt am liebsten Mythologie und Geschichte, liest am liebsten die alten lateinischen Autoren in der Übersetzung, treibt viel Spanisch, spielt meisterhaft Klavier, interessiert sich für Kunst, Altertum, Gemälde, Poesie – für alles Schöne und Große; sie dichtet sehr kühn, fast männlich, denn sie hat zuweilen Humor und Ironie, wie ein sehr reiner junger Mann sie haben kann. Sie hat die Gabe des Auffassens, des leisen Verstehens, die Zartheit der feinsten Erziehung und die höhere des allerreinsten Gefühls. Ihre Fehler sind Stolz, Eigensinn, Heftigkeit – mitunter Laune, deren sie nur teilweise Herr ist. Ein zweiter Fehler ist Nichtbeachten einzelner kleiner Gesellschaftsformen und ein oft zu sehr hervortretendes Ungewöhnlichsein des Geistes. Ich tadle sie oft sehr streng, ja sehr hart. Und nun ich so viel über sie geschrieben, laß mich sagen: sie ist so gut, so wohltätig, so himmlisch mitleidig – wie Du. – Die Mertens steht mir gleich (im Alter). Sie verschönt mein verkümmertes Dasein, sie erleichtert die Kette, die mich drückt, darum liebe ich sie dankbar, denn sie ist meine Wohltäterin: sie hat die Eisrinde meines Herzens gelöst.«

Adele knüpfte auch bald Verbindungsfäden zwischen Sibylle und Goethe an, und in ihren Briefen an den Dichter wird die Charakteristik der Freundin noch weiter und vielseitiger ausgeführt. Ein Jahr später, als sich Adele mit ihrer Mutter endgültig in der Nähe Plittersdorfs niedergelassen hatte, gibt sie in einem Briefe an Goethe vom 18. Juli 1829 den außergewöhnlichen Geistesgaben Sibyllens folgendes prächtige Zeugnis:

».... Dies wunderbare Wesen entfaltet jetzt sich auf zweifache Weise so überreich, daß ich es nicht wohl zu vergleichen weiß, wenigstens nicht schriftlich. Während sie am Tage mit Schreiner, Schlosser, Wein- und Landbebauer, Vergolder, Tapezierer, kurz mit allen Handwerkern als tüchtiger Sachkenner und Berater um die Wette arbeitet, mit den feinen Händen ungeheure Lasten hebt und immer im Denken und Tun als Praktiker den Nagel auf den Kopf trifft, liest sie abends mit der Mutter mythologische Schriften oder Übersetzungen der Alten oder auch mit mir Ihre Werke. Mich freut bei letzteren das frische Auffassen und genaue Durchschauen, bei dem Lesen des Horaz aber oder geschichtlicher Lateiner überkommt mich ein ganz besonderes Vergnügen. Wie sich Ihre Iphigenie zu den alten Tragikern verhält, so möchte ich sagen, verhält sich Sibyllens Geist zu den alten Autoren und den neuen Gelehrten. Die Art, wie sie die Schönheit ergründet und auffindet, wo nur ihre Spur zu sehen, die Weise, mit welcher sie sie zurückgibt, ja sie eigentlich lebendig zurückstrahlt, sind weder antik noch dem Lesen und Auffassen unsrer Philologen oder Geschichtskundigen vergleichbar, aber ihnen doch analog. Ihr Geist steht ›zwischen beiden zu zart, ein Mittelglied von eigner holder Art‹. Sibylle liest anders als alle Frauen, die ich bisher dergleichen Sachen habe lesen sehen; man fühlt, daß sie von Jugend auf im Umgang geistreicher Männer deren Anschauungsweise gesehen und eben genug davon angenommen hat, um nicht ihrer Eigentümlichkeit zu schaden. Dabei ist sie so ganz ohne Eitelkeit, hat ein so reines Vergnügen an diesem ernsten Treiben, als sonst Frauen zu haben nicht gegeben ist, denn unser Geschlecht wird sich etwas schwer selbst los. Geht es mir doch selbst so! Dann, damit ich Sibyllen treuer Ihnen zeichne, dann ist die Frau doch auch weder gelehrt noch pedantisch, auch nicht einmal an das Sprechen über ihre Lieblinge gewöhnt, sie lebt zum erstenmal mit mir und der Mutter mit Menschen, welche ihre Interessen teilen und ihr ihre Vorzüge nicht verdenken. Natürlich gibt das den Worten eine Jugendfrische, die mich fortreißt. Allein lese ich nicht, mit ihr aber vieles, was mir ehemals ungenießbar war oder wovon mich Vossens schwerfälliges Deutsch verjagt hatte ...«

So war die Frau, die Adele Schopenhauer hier am Rhein als Begleiterin auf der weiteren Strecke ihres Lebensweges gewann, die ihr Halt und Stütze wurde, als sie die Leere ihres Daseins kaum mehr ertragen wollte, ihr die liebende Sorge des grollend sich fernhaltenden Bruders zu ersetzen sich bemühte, nach dem Tode der Mutter den Kampf um die Notdurft des Tages von ihr fernhielt, ihr in ihrem eignen Hause eine Zuflucht einräumte und sie obendrein in den Wirkungskreis drängte, der die sich zersplitternden künstlerischen Kräfte Adelens auf einen Mittelpunkt vereinigte und ihr wenigstens einen Teil der ruhigen Befriedigung gewährte, um die sie bis dahin vergeblich gerungen hatte. In Augenblicken überströmender Dankbarkeit pflegte Adele die neue Freundin als ihre Retterin zu preisen, und dem wohligen Gefühl der Anlehnung an einen festen Charakter und eine die Lebenszufälle entschlossen beherrschende Energie gab sie schon in den »Weimar 1829« an Sibylle gerichteten Versen Ausdruck, die S. 134 abgedruckt sind.

Im Sommer 1829 siedelten sich die beiden Damen Schopenhauer in Unkel am Rhein, oberhalb des Siebengebirges, an; Sibylle Mertens hatte ihnen dort ein kleines Häuschen eingeräumt, das ihr Eigentum war. Bis 1833 verlebten hier Johanna Schopenhauer und ihre Tochter Adele die Sommermonate; mit Beginn des Winters zogen sie nach Bonn, wo sich 1832 auch Sibylle mit ihrer Familie ständig niederließ; und von 1833 an war die rheinische Universitätsstadt, wo Johanna durch ihre Weimarer Beziehungen und ihre eignen literarischen Arbeiten zahlreiche Anknüpfungspunkte hatte und von der ihr unentbehrlichen Geselligkeit so viel genießen konnte, als ihr Alter ihr noch erlaubte, ihr ständiger Wohnort. Im Herbst 1837 aber kehrte die Frau Hofrätin, durch die Aufforderung des weimarischen Großherzogs bewogen, nach Thüringen zurück; schon am 17. April des nächsten Jahres starb sie in Jena. In der Pflege der kranken Mutter, der sich Adele mit einer von allen ihren Freunden bewunderten Selbstlosigkeit hingab, war der Rest des Vermögens, den der Zusammenbruch von 1819 verschont hatte, aufgezehrt worden, und die bescheidenen Einkünfte, die ihr blieben, verwiesen sie auf irgendeine nutzbringende Tätigkeit. Dieser Notwendigkeit hatte sie seit Jahren mit Schrecken entgegengesehen, und schon in dem Briefwechsel, den sie mit Sibylle führte, als diese ihrer Gesundheit wegen von Juni 1835 ab ein Jahr in Italien verlebte, spielt die rätselvolle Frage nach der Zukunft eine große Rolle.

Adelens starke künstlerische Begabung hatte in Bonn so gut wie brachgelegen: auch hatte sie immer nur als Dilettantin gelernt, und so groß war ihr schöpferisches Genie nicht, um aus eigner Kraft die Spuren des Autodidaktentums zu überwinden. Sie wußte selbst, wieviel ihrer Ausbildung fehlte: zu einem regelrechten Unterricht, wie sie ihn 1828 in Köln begonnen hatte, war sie zu alt geworden; dazu konnte sich ihr Selbstbewußtsein nicht mehr bequemen. Andauernde Kränklichkeit verdarb obendrein ihre Mußestunden, und schließlich fehlte es in Bonn an der fördernden Anregung, die sie ehemals in Weimar durch Goethes Interesse erfahren hatte. Sibylle schmiedete daher andre Pläne für Adelens Zukunft. Während sie sich sonst mit der literarischen Tätigkeit der Frauen schwer befreunden konnte – diese Abneigung hatte sie mit andern Freundinnen wie Annette von Droste und Henriette Paalzow entzweit –, drang sie bei Adelen immer wieder darauf, sich ganz auf die Schriftstellerei zu werfen und hier eine Lebensaufgabe zu suchen. Gewiß überschätzte sie die schriftstellerischen Fähigkeiten der Freundin, getäuscht durch deren Versgewandtheit, die sich in schon zahlreich vorliegenden Gedichten kundgab, durch ihr feines Nachempfinden dichterischer Schönheit und durch die überlegene Sicherheit ihrer Urteile, eine bei Adele stark entwickelte Eigenschaft. Darin aber täuschte sie sich nicht, daß sie in solcher Tätigkeit auch bei nur geringem Erfolg die einzige Glücksmöglichkeit sah, die der Freundin noch beschieden war. Adele jedoch sträubte sich zunächst mit Heftigkeit gegen den Gedanken, dem Beispiel ihrer Mutter folgen zu sollen, mit der sie gerade zu dieser Zeit die Tragödie des abnehmenden Erfolges durchlebte. »Es ist mir über alle Beschreibung schmerzlich, Dich unter dem Drucke so widriger Verhältnisse zu wissen,« schreibt ihr Sibylle am 11. August 1835 bei Erörterung der häuslichen Lage, die durch Johanna Schopenhauers Leichtsinn in Geldsachen einer Katastrophe zueilte, »besonders da die Hilfe, die Dein Geist und Dein Talent Dir gegen pekuniäre Gêne bieten, Dir widersteht.«

Zugleich suchte sie Adelen den Gedanken einer Übersiedlung nach Genua durch das rege literarische Interesse der ihr dort bekannten Kreise reizvoll zu machen. Der Vorschlag wurde brüsk abgelehnt. Aber Sibylle ließ sich durch die Unzugänglichkeit Adelens nicht abschrecken. Am 29. November kommt sie eindringlicher auf diese Zukunftspläne zurück. »Mich jammert, daß Du, bei Deinem sehr bedeutenden Talent, die ausgesprochene Abneigung ... gegen literarische Arbeiten nicht überwinden kannst und anderseits jetzt jede Gelegenheit Dir fehlt, die Poesie der Plastik, Malerei auf den Punkt auszubilden, der in dem Bereiche der Kunst mit Deinem Namen bezeichnet war. Es gehen in Dir diese beiden Sterne unter, ohne jemals wolkenlosen Äthers sich gefreut zu haben, oder vielmehr sie werden zersplittert an den winzigen Riffen einer Brandung, die zu hoch geht, um gefahrlos zu bleiben, und doch der gewaltigen Stürme ermangelt, an denen der Menschengeist erstarkt, wie an dem Hochgefühl reinen Glückes. Ich hätte mich heimlich gefreut, Dich die ersten Versuche einer literarischen Bahn wagen zu sehen, weil ich für die Zukunft (und ich halte fest die Überzeugung, mit Recht) Bedeutendes von dem Aufschwunge Deiner Phantasie, von der angeborenen Grazie Deiner Empfindungen, von der geordneten Klarheit Deiner Gedanken und von der Reflexionsübung, oder richtiger -geübtheit, Deines Geistes erwartete. Dazu kam die reiche Sprachkenntnis und Deine vielseitige Ausbildung – aber ich mochte nicht viel darüber reden, weil die Erfahrung mich auf den Punkt fast abergläubisch machte; viel Beredetes gelingt nicht.«

Im festen Glauben an Adelens Schriftstellerberuf sammelt Sibylle Anregungen und Stoffe für sie und skizziert gleich selbst die Entwürfe zu novellistischer Bearbeitung in ihrem Tagebuch. Oder sie sendet ihr neu erschienene italienische Gedichte, deren Übersetzung Adele ausführen soll. Allen Anregungen dieser Art gegenüber verhielt sich Adele zunächst noch ablehnend. Aber der Freundin festes Zutrauen auf ihr Können blieb nicht ohne Wirkung, und als ihr fünf Jahre später der Arzt, der ein unheilbares Leiden bei ihr festgestellt hatte, jede körperliche Anstrengung, auch die Arbeit mit Pinsel und Zeichenstift untersagte, war die Schriftstellerin schon in ihr herangereift, und der Übergang von der einen zur andern Kunst vollzog sich als eine längst vorbereitete Entwicklung.

Dieser Umschwung erfolgte im Jahre 1840. Nach dem Tode der Mutter war Adele zunächst in Jena geblieben, wo sie sich mit ihren bescheidenen Mitteln häuslich eingerichtet hatte und ihre ganze Muße nochmals ihren künstlerischen Neigungen widmete. Allwine Frommann und Ottilie von Goethe im nahen Weimar lösten die rheinische Freundin für einige Zeit ab, und das Adelen nun einmal anhaftende Gouvernantenwesen, das ein selbständiger und entschiedener Charakter wie Sibylle Mertens niederzuhalten verstanden hatte, fand zwei weichherzig ergebene Opfer in den beiden Enkeln Goethes, die damals als Studenten schon ihr trübes Epigonenleben und – Walther als Komponist, Wolf als Dichter und Schriftsteller – ihren vergeblichen Kampf um die Anerkennung ihrer eignen Persönlichkeit begannen. Im Jahre 1838 gab Adele die Erinnerungen ihrer Mutter heraus; bald nachher schrieb sie für Walther von Goethe einen Operntext, »Der Gefangene von Bologna«, der 1845 unter dem Namen »A. von der Venne« gedruckt wurde. Des Pseudonyms »Adrian von der Venne« hatte sich 1835 auch die Mutter bedient, als sie in der Frankfurter Zeitschrift »Phönix« eine ihrer letzten Novellen »Die lothringischen Geschwister« veröffentlichte. Vielleicht aber handelt es sich, eben jenes Pseudonyms wegen, um eine Erstlingsarbeit der Tochter, die die Mutter wenigstens der Redaktion oder dem Buchhändler J. D. Sauerländer, dem Verleger jener Zeitschrift und mehrerer ihrer eigenen Schriften, gegenüber mit ihrem Namen deckte. Die schöne Gewohnheit poetischen Daseins, alles, was sie bewegte, in Versen festzuhalten, hatte Adele von ihrer Weimarer Jugend beibehalten; von der Sammlung ihrer Gedichte, die sich als Handschrift aus dem Besitz Sibyllens gefunden hat und hier zum erstenmal gedruckt wird, scheinen die reifsten und besten aus diesen Jahren zu stamme.

Im Frühjahr 1840 sehen wir sie zu kurzem Besuch am Rhein, ohne daß sie sich in der altvertrauten Umgebung wohlgefühlt hätte, wie ihr Tagebuch verrät. Auf der Rückreise kehrte sie bei Annette von Droste in Hülshoff ein, die zwei Jahre vorher ihre ersten poetischen Gaben in die Welt geschickt hatte, und gleich nach ihrer Heimkehr in Jena mußte sie sich in die Behandlung des dortigen Arztes Dr. Kieser begeben, dessen Urteil den Vorhang vor der Zukunft zerriß und den traurigen Ausblick auf ein schmerzhaftes Lebensende eröffnete, das nur durch sorgfältigste Schonung und Pflege hinauszuschieben war. Auf das Zureden ihrer Freunde, besonders Sibyllens, raffte nun das tapfere alte Mädchen den Rest ihrer Tatkraft zusammen und begann eine literarische Wirksamkeit, deren mannigfaltige, zum Teil ganz unbekannte Ergebnisse hier auch nur kurz zu verzeichnen in trockene Literaturgeschichte hineinführen würde.

Wie es um diese Zeit in Adelens Innerem aussah, welche seelischen Kämpfe sie überwand, enthüllt mit vertraulichster Deutlichkeit ihr Briefwechsel mit Sibylle. Wurzellos, wie sie im Leben stand, und doch eifersüchtig auf ihre Selbständigkeit, hielt sie sich eine Zeitlang von Sibylle fern. Dafür hatte sie in diesen Jahren wieder eine Freundschaft mit einem Manne geschlossen, dem Bergrat Professor Gustav Schueler in Jena, der auch als Politiker hervortrat – als Abgeordneter zum Frankfurter Parlament 1848 dozierte er einen »sanften Republikanismus nach Heften« –, und es bestand zwischen beiden die Absicht, diese Beziehung in eine dauernde Gemeinschaft zu verwandeln, die nur den Zweck hatte, beiden Teilen den Anhalt einer behaglichen Häuslichkeit zu verschaffen, sich zu gemeinsamen Reisen zusammenzuschließen und sich zur gegenseitigen Anlehnung in den nahenden Alterstagen zu werden. Schueler war vermögend, aber die Verwirklichung jenes Planes hing von dem Verkauf seiner großen Sammlungen ab, für deren Unterbringung er nicht weniger als sechzehn Zimmer brauchte. Der Verkauf so kostbarer Schätze erforderte aber Zeit, während Adele in Gewißheit dauernden Krankseins befürchtete, nur noch eine kurze Lebensfrist vor sich zu haben, und nicht ins ungewisse hinein warten wollte. Seit dem Sommer 1842 begann sie hin und wieder leise Zweifel zu hegen, ob sich ihre gemeinsamen Pläne überhaupt je würden verwirklichen lassen – Anlaß genug zu ernsten Betrachtungen über ihre Lage. In den Briefen an Sibylle gibt sie sich und der Freundin darüber ausführliche Rechenschaft. So schreibt sie am 22./25. Juli 1842:

»Mein Verhältnis zu Schueler ist im Grunde sich gleich. Er hofft fortwährend seine Sammlungen anzubringen, sieht mich wie seinen Lebensgefährten an, trödelt aber, teils mit, teils ohne Schuld. In mir ist aber allmählich die Überzeugung gewachsen, daß erstlich Jena nicht, zweitens Allwina (Frommann) nicht, drittens die Art Lebens durchaus nicht länger für mich paßt, die ich Schueler erwartend von Tag zu Tag so hinführe. Ich werde matt, einseitig, gewöhnlich; meine Freunde genügen mir nicht, und daran ist nur dies tote, wartende, nichtsergreifende, von Körperleiden zerstückelte Dasein schuld.

»Es ist unglaublich, welche Veränderung es hervorbringt, wenn man immer Körperpflege, Schonung und Hilfe des Ausruhens bedarf. Ich muß mich selbst in eine Lage stellen, wo ich das Leben mehr fühle, mehr achte. Wolf Goethe trotz seines Geistes steht neben mir wie ein Kind, niemand von all meinen Freunden flößt mir eine lebhafte Neigung, reges Anerkennen ein – und leider selbst Ottilien entbehre ich nicht schwer. Jetzt oder nie muß mich eine Arbeit an die Welt ketten oder eine Neigung oder eine Pflicht, denn ich lebe ein übermenschliches Leben. Schuelers Ansichten haben mir geschadet; aber glaube mir, wenn ich nicht selbst wieder eintrete in die Reihe der andern, wenn diese Neigung, allein, immer allein zu sein, wächst, so wird mich ein Übel, ein Unglück fassen, denn ich bin so frei, daß ich außer der Reihe stehe – und das ist gegen die Ordnung des Lebens. Du hast den stärksten Geist unter meinen Freunden – hilf, wenn Du irgend kannst! Poetische Naturen gelten mir unendlich wenig, wenn kein bedeutender Charakter und andre Eigenschaften sie mir nahebringen. Alles Phantastische ist aus meinem Wesen heraus, und eine sonderbare Verstandeskraft nimmt überhand in mir. Unter allen Männern hier außer Schueler fühle ich mich zu dem klaren, ganz Verstand scheinenden Dahlmann hingezogen, alle die neueren Poeten und Belletristiker machen keinen Eindruck auf mich. Ich kann mir gar nicht leugnen, daß ich ein andres Wesen bin, als ich war! Die langsame, mehr redende, einwendende, denkende als handelnde Revolution unsrer Zeit, die in Licht und Tinte statt Blut ihre Fortschritte bezeichnet, gibt mir das Gefühl, daß jetzt durchaus gar keine Individualität Eindruck auf ihre Mitwelt machen kann; das drückt mich, weil ich so individuell bin, und weil ich etwas sein möchte, etwas tun – und anderseits trete ich nun ruhig als Schriftstellerin auf, weil ja gar nicht die Rede von Effektmachen ist, und man eben gar nichts Besonderes mehr tun kann. Hilf, Sibylle! Jetzt kann was sehr Gutes oder was sehr Albernes aus mir werden. Hilf! ... Von Wolfgang lerne ich, wie man von jedem Schüler lernt, ich lerne logisch denken, logisch ordnen im Schaffen, und ich fühle, wie ich wachse. Schueler sieht und fühlt es, aber nun vernichtet mir der kleine Ort, die Notwendigkeit, alles zu verschweigen, alles! Welcher Frau kann ich sagen, daß ich mir stundenlang Staatsrecht vorerzählen lasse, mit welcher von Agassiz und seinen Gletschern reden? Ich muß unter viele gescheite Leute, damit ich leichter, hörend schweige.« –

»Auch verteuert sich alles, und ich habe weniger Neigung, Menschen zu sehen bei mir. Meine Wohnung ist auch teurer geworden, im Lande fürchtet man fast Hungersnot. Alles dies macht mir Jena nicht lieber ...«

Seit Ostern 1842 hielt sich Wolf von Goethe in Jena auf; Adele arbeitete mit ihm gemeinsam an seiner Dichtung »Erlinde«. Seit dem letzten Winter hatte sie ihren Roman »Anna« begonnen, in den sie ihre Jugenderinnerungen verwebte, und im Laufe des Jahres 1842 wurden außerdem ihre drei »Haus-, Wald- und Feldmärchen« fertig, mit denen sie 1844 zuerst als Schriftstellerin auftrat. Eins davon war schon 1841 in einer Zeitschrift erschienen. Der »Erlinde« wegen begleitete Wolf Goethe seine Mitarbeiterin im August 1842 nach Karlsbad. Am 8. Oktober meldet Adele, daß sie nun nach Jena zurückkehren und dann Sibyllens Einladung folgen werde. Sibyllens Gatte, mit dem sich Adele nicht zu stellen wußte, war im August 1842 gestorben. »Ich werde Dich bitten,« heißt es in dem Briefe, »mir, wenn es irgend geht, eine heizbare Schlafstube und zum Tag ein Sitzeplätzchen allein anzuweisen, wohin ich mich täglich drei bis vier Stunden zurückziehen und an meinem Roman arbeiten kann. Ich rechne gar nicht auf Gesellschaft, ich komme wegen Dir. Kann ich im Hauswesen etwas übernehmen, so stehe ich gern zu Dienst. Arbeiten will ich, schon damit ich mit Dir über mein Buch rede, aber es bleibt doch viel Zeit. Ich habe eine Menge stiller Gewöhnungen, seit ich krank bin, und bitte deshalb um Vergebung! Du mußt mich nämlich viel ruhiger lassen, ich werde im Tag müde! Auch werde ich Dich bitten, mich allein frühstücken zu lassen, damit ich recht erholt zu Dir komme; dagegen wirst Du mich geistig vorgeschritten finden und viel mehr von mir haben, denn ich kann Deine Interessen besser teilen. Denke nur nicht an Amüsements, erlaube mir bloß, für Dich und Wolff dazusein. Ich bedarf bloß alle Tage entweder zu fahren oder zu gehen, und da kannst Du mich sehr beglücken, wenn Du mich ausfährst, das ist mir hier so selten und das allerliebste. Eure Bonner Gesellschaft ekelt mich an! Die Einzelnen werde ich sehen, die Interessanten oder mir nötigen Leute öfters, so Schlegel, Welcker, weil ich sie brauche.« Auch hatte Adele zu Sibyllens Hausarzt, dem Bonner Professor Heinrich Wolff, das größte Zutrauen; nur von seiner Behandlung erhoffte sie Heilung, wenn die überhaupt noch möglich sein sollte. »Annette von Droste hat mir einen lieben langen Brief geschrieben nach fast einem Jahr,« heißt es am 1. November. »Sie denkt, daß ich hinkomme! Ich muß aber wohl zurück und muß durchaus an meinen Roman. Wie ich mich freue auf die Stille bei Dir und auf das tägliche stille Arbeiten, kannst Du kaum ahnen!«

In der zweiten Hälfte des Novembers 1842 kam Adele in Plittersdorf an. Die erhoffte Ruhe und Arbeitsstimmung scheint sie aber dort nicht gefunden zu haben; im Januar 1843 ist sie wieder in Jena. Sibyllens Einladung, mit ihr auf längere Zeit nach Italien zu gehen, hatte sie zunächst abgeschlagen. Denn mittlerweile hatte ihr Freund Schueler seinen Vater verloren, und die Verwirklichung ihrer gemeinsamen Zukunftspläne schien näherzurücken. Diese Hoffnung stellte sich aber bald als Täuschung heraus; daher erklärte sie alle früheren Versprechungen als ungeschehen, und daß sie mit ihm oder ohne ihn auf alle Fälle übers Jahr nach Italien gehe werde. Sie war während ihres letzten Besuches in Plittersdorf zu der Erkenntnis gekommen, daß Sibylle sie »am besten und am meisten liebe«, und wenn sich auch das Verhältnis zu Schueler noch eine Weile hinzog und zwischen neuen Hoffnungen und Enttäuschungen hin und her schwankte, so war doch der Augenblick nicht fern, wo sie unter Verzicht auf eigne Lebenspläne in die Arme Sibyllens zurückkehrte.

Anfang 1843 mußte sie eine Winterkur in Karlsbad gebrauchen, die sie so schwächte, daß ein nochmaliger deutscher Winter ihr Gefahr drohte. Ein längerer Aufenthalt im Süden erschien als einzige Rettung, und am 11. August erklärte sie der Freundin, daß sie keinesfalls im Vaterlande sterben, sondern, einmal in Italien, dort bleiben wolle. Das stete Alleinsein war ihr unerträglich geworden. Daher wolle sie so bald wie möglich Sibyllen nach Italien folgen. Die Wohnung in Jena gab sie auf; alles irgendwie Entbehrliche wurde verkauft; mit der Vergangenheit schloß sie endgültig ab, und das einzige, was sie noch an die Heimat fesselte, war das Bestreben, ihr erstes Auftreten als Schriftstellerin mit Sorgfalt vorzubereiten. Ostern 1844 erschien bei dem Verleger ihrer Mutter, F. A. Brockhaus, ihr Erstlingswerk »Haus-, Wald- und Feldmärchen«, und als sie Anfang September dieses Jahres nach Genua aufbrach, nachdem sie den Sommer im Goethehaus zu Weimar verlebt hatte, war auch die abgeschlossene Niederschrift ihres zweibändigen Romans »Anna« in des Verlegers Händen; das Ottilie von Goethe gewidmete Buch erschien im November dieses Jahres, zur selben Zeit, als die Verfasserin mit Sibylle Mertens auf dem Wege nach Rom war.

Von 1844 bis 1846 blieb Adele Schopenhauer in Italien, im engsten Zusammenleben mit Sibylle Mertens, zeitweise auch mit Ottilie von Goethe und deren Söhnen, und inmitten einer Gesellschaft, deren nähere Schilderung ein lebendiges Bild der deutschen Kolonie Roms und Neapels jener Jahre zu zeichnen geeignet ist. Im Sommer 1846 mußte aber Sibylle häuslicher Verhältnisse wegen nach Deutschland zurückkehren, und die Hoffnung, schon nach wenigen Monaten wieder zu Adele zu stoßen, wurde durch widrige Verhältnisse vereitelt und ins ungewisse hinausgeschoben. Im Frühjahr 1847 ging auch Adele für einige Monate nach Deutschland zurück, um für ihren neuen Roman »Eine dänische Geschichte« einen Verleger zu suchen, den sie dann in George Westermann fand. Das 1848 erschienene Buch sollte Sibylle Mertens zugeeignet sein; die Widmung wurde aber vom Drucker vergessen. Im Herbst war sie wieder auf dem Wege nach dem Süden, wohin ihr Sibylle noch immer nicht folgen konnte. Den Winter 1847/48 verbrachte sie daher einsam in Florenz, ganz ihren Kunststudien hingegeben, die sie in einem beschreibenden Werk über die Blumenstadt am Arno niederlegte. Das nach Sibyllens Angabe vollendete Manuskript hat sich in ihrem Nachlaß nicht gefunden.

So lange schon hatte sie vor dem Schrecklichsten gezittert, allein, von aller Welt verlassen, in irgendeiner Fremde sterben zu müssen. Hier in Florenz schien dies Schicksal sie ereilen zu wollen. Das Leiden, unter dem sie seit Jahren hinsiechte – sie litt an einem Unterleibspolypen –, brach plötzlich mit furchtbarer Gewalt aus. Wochenlang lag sie hilflos in ihrer dortigen Matratzengruft, ohne den Zuspruch irgendeiner Freundin oder Bekannten, ganz der Willkür roher, geldschneiderischer Wirtsleute ausgeliefert, die ihren pöbelhaften Deutschenhaß an der Wehrlosen ausließen. Die Briefe, die sie in der verzweifelten Todesangst dieser Zeit an Sibylle richtete und in denen sie die Phasen ihrer grauenhaften Krankheit mit der Deutlichkeit eines Arztes beschrieb, sind wahre Höllenbriefe, die noch jetzt die Haare zu Berge treiben. Ihr Hilfe zu bringen war ganz unmöglich; in Norditalien tobte der Krieg, und an ein ungefährdetes Vordringen bis Florenz war auch für eine mit den besten Empfehlungen ausgerüstete Frau nicht zu denken. So mußte Sibylle die Ärmste ihrem Schicksal überlassen und mit ohnmächtigem Entsetzen aus ihren Hilferufen noch erfahren, daß sie nicht einmal den Trost der Briefe erhielt, die an sie abgeschickt, aber nebst den dringend nötigen Geldmitteln wochenlang von der italienischen Post zurückgehalten wurden.

Noch einmal erholte sich Adele, und in kurzen Tagereisen schleppte sie sich heimwärts nach Bonn, denn eine andre Heimat gab es für sie ja nicht, zu Sibylle. Was sie so oft als eine schöne Zukunft erhofft, was sie ebenso oft in Stunden des Unmuts mit schroffen Worten von sich gewiesen hatte, ein Zusammenleben mit dieser Freundin, die sich über alle Augenblicksverstimmungen hinweg doch als die treueste und zuverlässigste erwiesen hatte – jetzt, wenige Schritte vor Adelens Grab, ging es endlich ganz in Erfüllung.

Sibylle auch ist es, der wir ausführliche Nachrichten über Adelens letzte Lebensjahre verdanken. Nach dem Hingang der Freundin war es ihr sehnlichster Wunsch, der Entschlafenen durch eine Gesamtausgabe ihrer Schriften mit voraufgehender Lebensbeschreibung das Denkmal zu setzen, auf das die Lebende stolz gewesen wäre. Sibylle allein war aber dieser Aufgabe nicht gewachsen, sondern auf die Unterstützung der übrigen Freundinnen Adelens angewiesen. Durch allerlei widrige Umstände kam aber diese gemeinsame Arbeit nicht zustande; es haben sich nur zwei Bruchstücke in Sibyllens Nachlaß gefunden, die in den Einzelheiten, besonders in der genauen Angabe der Daten, mancher – durch eckige Klammern angedeuteter – Ergänzung offengelassener Lücken bedurften, im übrigen aber aufs lebhafteste bedauern lassen, daß Sibylle nicht zur Vollendung dieser Skizze gekommen ist.

»Im August 1846«, schreibt sie, »ging Adele zum zweitenmal mit mehreren Freunden von Rom nach Neapel. Sie sagt in ihrem Tagebuch: ›Ich kam mit schwerem Herzen, und so schön und heiter Neapel war, blieb ich, vielleicht weil ich von der Hitze litt, trüb und schwer im Inneren. Vor zwei Jahren war ich um zehn Jahre jünger!‹ ... In jedem Worte begegnet man jener klaren, ungetrübten Anschauungsweise, jenem festen, sicheren Urteil, jener feinen Unterscheidungsgabe, welche Gabe der Natur und Folge gediegener Ausbildung in dem theoretischen Gebiete der Kunst waren. Da sie selbst ausübende Künstlerin, so galten und wogen in ihren Beurteilungen alle überwundenen Schwierigkeiten der Technik an betreffender Stelle mit, und sie blieb davor bewahrt, Unmöglichkeiten zu fordern sowohl, als Erreichtes nicht zu begreifen. In jene Zeit gehört das schöne Gedicht, betitelt ›Das sanfte Wort‹ [s. S. 157], welches ein Abbild uns gibt von ihrer stillen, trüben Stimmung und von der weichen, resignierten Forderung, die sie an das Leben machte. Das Tagebuch führt den Beweis, wie sie sorgsam emsig jedes Schöne genoß, welches Natur und Kunst ihr bot: neben begeisterter Beschreibung herrlicher Ansichten finden sich Blumen, Pflanzen skizziert mit allen ihren Details, Insekten und Käfer beschrieben, Eigentümlichkeiten der Luft, des Lichtes, der Strahlenbrechung notiert; nichts entging ihrem Blick: alles Schöne oder Ungewöhnliche weckte ihr Interesse.

»Im Dezember [1846] bereitete sie sich zur Abreise von Neapel; die rauhere Witterung, Stürme, sogar Schnee, in jenen Breiten so ungewöhnlich, dazu traurige Nachrichten aus Deutschland stimmten sie nur trüber: nach einem Spaziergang in der Villa Reale am 27. Dezember schrieb sie das Gedicht ›Welle! spüle fort meinen Kummer!‹ [Vgl. S. 159.]

»Am 13. Januar 1847 ging sie nach Rom zurück, wo sie wieder unausgesetzt die Museen und Galerien besuchte und darüber interessante Notizen niedergeschrieben hat. Sie sagt darüber: ›Fortwährend habe ich mich bemüht, jeden Tag etwas zu sehen, was einen Eindruck in mir hinterläßt‹. Sie faßte schon damals den Entschluß, späterhin nach Rom zurückzukehren und dort zu bleiben. Körperlich fühlte sie sich wohl. Einige neue Bekanntschaften erhöhten das gesellige Interesse: außer Frau von Goethe war nun auch noch Mrs. Jameson in Rom, mit welcher zusammen Adele manches sah und besprechen konnte.

»Sie blieb bis nach Fastnacht: während der Fasten wohnte sie an einem Sonntag im Kloster Sacré Coeur den viertägigen Betrachtungen bei, welche der berühmte Jesuitenprediger Ferrari dort hielt und welche sie später [in der »Europa« 1847, Nr. 24] dem deutschen Publikum auf anziehende Weise beschrieb.

»Über Siena reiste sie nach Florenz, wo sie am 6. März ankam. Hier begann sie nun jenes ernste, planmäßige Studium, welches tief eindrang in die politische und Kunstgeschichte dieser herrlichen, reichgeschmückten Stadt, und welches den Grund legte zu dem erzählend beschreibenden Werke, das, im Jahre 1849 zwar vollendet, erst nach ihrem Tode dem Publikum sollte gegeben werden. Tag um Tag besuchte sie, nach strenger Vorbereitung, Galerien, Sammlungen, Kirchen, Paläste; verglich das eigne Urteil mit demjenigen früherer Kunstforscher, las dazwischen die besten Werke über die Stadt und ihre Geschichte und benutzte ihre Bekanntschaft mit manchen Eingeborenen, um sich sogar die Einzelheiten des örtlichen Sagenkreises anzueignen. Bedeutende, interessante Menschen traten ihr nahe oder zogen sie in ihre Kreise: das Haus des preußischen Gesandten Grafen Schaaffgotsch war ihr gastlich und freundschaftlich geöffnet; mit Frau von Ungher-Sabatier war sie von früher her schon befreundet. Ihre Briefe aus jener Zeit sprechen das befriedigte Entzücken aus, mit welchem sie den Kunstschätzen, in deren Mitte sie sich wirklich heimisch fühlte, stets inniger vertraut wurde; die Bemerkungen ihres reichen Tagebuches gingen in das obenerwähnte Werk ›Florenz‹ über.

»So ging ihr der Frühling vorüber in der Blumenstadt am Arno: im [April] schied sie und kam nach Bonn, wo sie einen Teil des Sommers blieb; dann ging sie nach Jena und Weimar, kam im Oktober wieder nach Bonn und kehrte von dort aus nach Florenz zurück, da ihre gesteigerte Kränklichkeit ihr den Winteraufenthalt in einem wärmeren Klima notwendig zu machen schien. Die unausgesetzte Beschäftigung mit dem Edelsten und Schönsten, was die Kunst aller Zeiten schuf, hatte ihre Einwirkung über Adelens ganzes Wesen verbreitet. Die Unruhe und der Anflug von Herbheit, mit denen ein in manchen billigen Anforderungen nicht glückliches Leben Adelens von der Natur mit graziöser Heiterkeit begabten Charakter gefärbt hatte, waren abgestreift wie Staub des zurückgelegten Weges, und die reine Milde ihrer Natur umfloß mit wohltuendem Ernste gepaart ihr ganzes Wesen. Dabei trat jene eigentümliche Heiterkeit stets wieder hervor, ihre Ausdrucksweise hatte an Bestimmtheit und Klarheit gewonnen, und an Weichheit zugleich; ihr festes Urteil war nirgend verletzend, ihre Weltansichten hatten sich geweitet an dem großen Maßstab der Geschichte, und man fühlte es im Umgange mit ihr, daß die Kunst ihr die geheimnisvolle Weihe des Wissens gegeben hatte. Ihr Auge hatte in Neapel, Rom und Florenz durch das Anschauen der Antike die feinste Ausbildung erhalten, und das Verständnis der Antike ihr jedwedes Kunstverstehen erschlossen. In Rom 1846 hatte sie den Plan zu einer Novelle gefaßt, die sie vor ihrer Abreise von Bonn vollendete und die unter dem Namen ›Eine dänische Geschichte‹ während des Winters 1847 und 1848 im Druck erschien.

»Von Florenz aus sandte sie Bogen nach Bogen Manuskript des Buches über jene Stadt; da kam plötzlich in wenigen, mühsam geschriebenen Zeilen die Kunde, daß sie schwer erkrankt sei. – Tage, Wochen gingen vorüber; sie war dem Krankheitsanfall nicht erlegen; aber das Gefühl hilflosen Alleinseins, auch wohl nachlässige Pflege, bis die Kunde ihrer Erkrankung zu den dortigen Freunden drang und diese ihr jede Sorgsamkeit widmeten, hatten wohl die Folgen des schlimmen Übels gesteigert, und als nun dort, wie überall im Frühling 1848, die Revolution ausbrach, als zuletzt auch die Gesandten ihre Posten verließen, da zog auch sie hinweg, und leider in noch zu ungünstiger Jahreszeit über die schneebedeckten Alpen! Am 18. Mai 1848 kam sie wieder in Bonn an.«

Damit bricht das eine Bruchstück der Biographie ab, und aus dem nunmehr mit Sibylle in der wohltuenden Ruhe des einsamen großen Hauses in Bonn gemeinsam verlebten Jahre liegen nur einige Briefe an Ottilie von Goethe vor, in denen Adele die feste Absicht ausspricht, Sibylle nicht mehr zu verlassen und keinesfalls ohne sie wieder nach Italien zu gehen. Unter der Pflege der Freundin war sie noch einmal aufgelebt; neue Reisepläne wurden erwogen, und ihr Bedürfnis nach Anregung flackerte wieder empor. »Ich habe geglaubt hier leben zu können«, heißt es noch am 18. Januar 1849 in ihrem Tagebuch, »durch die unglückliche Lage Sibyllens, durch ihre Zurückgezogenheit komme auch ich von fast allem Umgang ab«.

Im März 1849 begleitet sie Sibylle nach Frankfurt und sieht dort zum letztenmal – zum erstenmal seit 1820! ihren Bruder, dessen Bekanntschaft jetzt auch die Freundin macht, und während diese plötzlich nach Italien abreisen muß, kehrt sie nach Bonn zurück, bewohnt das zum Fürchten stille Haus in der Wilhelmstraße, das eines versuchten Einbruchs wegen nachts von eigens dazu angestellten Polizisten bewacht wird, versieht Sibyllens Geschäfte, die deshalb besonders verwickelt sind, weil schwebender Prozeßverhandlungen wegen die plötzliche Reise nach Rom auch für die nächsten Angehörigen ein Geheimnis bleiben muß, übergibt schließlich einem alten Hausfreund die Schlüssel des mit Tür- und Fenstersicherungen wohlverwahrten Hauses und reist am 15. April nach Berlin, um die Freunde dort und in Weimar und Jena noch einmal zu begrüßen, ehe sie mit Sibylle für immer nach dem Süden geht, was beider Frauen sehnlichster Wunsch war. Von dieser leichtsinnig unternommenen Reise kehrt sie als Todkranke nach Bonn zurück. Damit beginnt nun das zweite Fragment der von Sibylle entworfenen Biographie Adelens, die ergreifende Schilderung ihres Sterbens und Begrabenwerdens:

»Am 14. März [1849] war ich genötigt, nach Rom zu reisen; denselben Tag ging Adele nach Bonn zurück. Wir hatten früher eine Reise nach Holland verabredet gehabt: Frankfurt war durch zufällige Umstände dazwischengetreten. Nun sollte sie meine Rückkehr in Bonn abwarten: ich glaubte Ende April wieder dort zu sein und dann mit ihr über Leiden, Amsterdam, den Haag nach Brüssel zu gehen. Im Juni wollte sie nach Berlin, Weimar, Jena, alle ihre dortigen Freunde sehen und später mit mir hier in Bonn, dann in Italien leben.

»Ein Brief vom [22. März] meldete mir nach Rom, daß ein schwerer Krankheitsanfall sie getroffen habe, eine Wiederholung ihrer Erkrankung in Florenz; wenn sie wiederhergestellt sei, wolle sie gleich nach Berlin. Ich bat sie flehentlich, nicht von Bonn wegzureisen, solange die Jahreszeit nicht weiter vorgerückt sei; in Berlin war es um so viel kälter als am Rhein, und für sie, der ein mildes Klima so notwendig, die Reise nordwärts im April jedenfalls nachteilig, bei jüngst überstandener Krankheit doppelt verderblich. Die Antwort auf meinen Brief war leider aus Berlin [20. April] datiert. Zwei Briefe von dort aus erhielt ich noch, dann hörten alle Nachrichten auf.

»In Rom war ich, nachdem meine Geschäfte dort beendet, momentan selbst erkrankt: meine Abreise dadurch um acht Tage verzögert. In diesen acht Tagen landete die französische Armee in Civitavecchia. Von Norden zogen österreichische, von Süden neapolitanische Heere heran; in Fiumicino landeten Spanier: die Tore der Stadt wurden geschlossen, Barrikaden errichtet, von allen Seiten strömten Freischaren herzu; es war schwierig, Pässe zu erlangen, und mir hatte eine nahbefreundete Familie in Genua den einzigen Sohn, der in St. Paulo vor der Stadt bei den dortigen Benediktinern erzogen wurde, zur Hut empfohlen: allein nur im äußersten Falle solle ich ihn dem Institute entnehmen.

»Der Moment kam, am 31. April griffen die Franzosen an und wurden zurückgeschlagen, und günstige Konnexionen verschafften mir die Mittel, den jungen Mann in die Stadt zu bringen. Dies mir anvertraute Pfand aber vergrößerte meine Sorge, mit Sicherheit die Rückreise zu wagen. Dazu wartete ich auf Briefe: es mußte ein Brief [Adelens] kommen – er kam nicht. Da hielt ich es nicht länger aus – Mazzini gab mir Pässe nach Civitavecchia, und ich reiste ab.

»Meine Effekten hatte ich schon früher dorthingesendet: widrige Winde verschlugen das Segelschiff, welches sie bringen sollte, nach Korsika: ich mußte in Genua acht Tage warten. Dann reiste ich Tag und Nacht zurück bis Mannheim, wo ich ankam, als die badischen Truppen Ludwigshafen in Brand schossen. Keine Möglichkeit, nach Frankfurt, wo ich schon so nahe war, zu gelangen. Ich mußte nach Heidelberg zurück und über Würzburg gehen. Am 20. Juni war ich in Frankfurt, am 22. in Bonn.

»Da fand ich Adelens Briefe, nicht an mich – jene, die sie nach Rom geschrieben hatte, wurden mir sechs Wochen später von dort gesendet –, aber an einen gemeinschaftlichen Freund, in denen sie sagte, daß sie in Weimar sei, sehr krank, und nur die Nachricht meiner Rückkehr erwarte, um hierher nach Bonn zu kommen! Ich schrieb ihr denselben Abend und bot ihr an, sie abzuholen: von Frankfurt hatte ich ihr meine Ankunft gemeldet. In ihrer Antwort [vom 24. Juni] bat sie mich, nicht selbst zu kommen, sondern ihr meinen Bedienten zu senden; doch möge ich noch weitere Nachricht abwarten. Tags darauf, am 27., kam ein zweiter Brief, der mich bewog, am 28. gleich abzureisen ...

»Am 30. morgens trat ich in ihre Stube. Gott! so hatte ich es mir nicht denken können: abgemagert zum Skelett, kaum fähig, sich aufrechtzuerhalten, wankte sie mir entgegen. Ich rang mit Mühe nach Fassung. ›Ach, ich wußte wohl, daß du kommen würdest,‹ sagte sie mit schwacher Stimme; ›ich hatte dich erwartet!‹ – Es war ein über alle Beschreibung schmerzliches Wiedersehen! Als sie sich von der ersten Erschütterung etwas erholt hatte, sprach sie mit dankbarem Gefühl von der Liebe, womit ihre dortigen Freunde sie pflegten und alles aufböten, ihr das schwere Leiden, was über sie verhängt sei, zu erleichtern. ›Aber ich muß nach Bonn,‹ sagte sie, ›in dein Haus, in meine Stuben‹ (sie wohnte in Weimar in einem kleinen Quartier); ›ich habe von Jena schon alle meine Sachen zu dir gesendet: Ruhe, große Ruhe und Stille, das wird mir helfen. Sprechen und sprechen hören greift mich so an! Mir tut alles, alles weh! Nicht wahr, Sibylle, wir reisen bald!‹

»›Sobald du reisen kannst, liebes Herz!‹ sagte ich, denn mir schien die Reise ein fast unmögliches Wagnis.

»›Oh, ich kann – ich kann gleich in den nächsten Tagen,‹ fuhr sie fort. ›Ich werde können – es wird ja dort mit mir besser werden.‹

»Nun erfuhr ich, daß der Anfall sich in Berlin wiederholt hatte; kaum zu einiger Kraft gelangt, war sie dann nach Weimar gegangen; von dort nach Jena – hatte einpacken, versenden lassen, was sie dort in der Hut ihrer Freunde besaß, hatte sich vermutlich über ihre Kräfte dabei angestrengt und war kränker nach Weimar zurückgekehrt. Schon die Reise nach Berlin war, wie ich es ahnend vorausgesehen, eine Unvorsichtigkeit gewesen. Sie hustete viel und sprach nur mühsam.

»Sie litt unsäglich, und sie war dabei so mild, so hingebend, daß ich glaubte, es würde mir das Herz brechen. Aber als ich glaubte sie zu erheitern durch Nachrichten aus Italien und dem dort Erlebten, wies sie jede Mitteilung zurück. ›Es greift mich nur an‹, sagte sie, ›laß das bis später!‹ Auch über die Kunst – jenes innigste Element ihrer Seele – sprach sie nicht, frug nicht und zeigte kein Interesse mehr für das, was ihrem Leben den Impuls gegeben hatte. Hier erfaßte mich die furchtbare Ahnung, daß ihr Leben sich seinem Ende nahe!

»Ihr Arzt teilte mir nun seine Ansicht mit, daß ein neuer Anfall zu erwarten stehe, und daß er wünsche, wir möchten bald reisen, um ihr in Bonn Zeit zu lassen, sich von der Ermüdung zu erholen, ehe er eintrete. Er hoffte, wenn sie Kräfte hätte, diese Krisis zu überstehen, zwar nicht Heilung, doch momentane Rettung, und dann bei zweckmäßiger Pflege und dauernder Ruhe die Möglichkeit, das Übel in die Schranken eines leidenden Daseins bewältigen zu können. Auch er drängte zur Abreise. Und so verließen wir denn Weimar am 4. Juli und waren am 7. abends in meiner Wohnung in Bonn.

»Die Schwelle der Räume, in denen sie an jenem Abend abgestiegen war, überschritt sie nicht wieder. Vier Tage nach unsrer Ankunft erklärte mir ihr Arzt, daß keine Rettung möglich sei. Ich schrieb an Ottilie von Goethe nach Wien, die gleich abreiste, am [29. Juli] hier eintraf und zehn Tage lang durch ihre liebe Gegenwart die letzten Sonnenblicke, welche Adelens Leben erheitern sollten, in dies dahinschwindende Dasein warf. Und gerade in diesen Tagen von Ottiliens Anwesenheit stieg meine Hoffnung, dies über alles geliebte Wesen noch dem Leben wiedergegeben zu sehen. Die gehoffte Krisis trat zwar nicht ein; aber es war eine Art von scheinbarem Stillstand eingetreten in den Symptomen des Leidens. Als ich Ottilie zum Wagen begleitet hatte und an Adelens Bett trat, sagte sie mir: ›Ach, ich werde sie nie wiedersehen! Nun kann ich mich gehen lassen. Sie würde es nicht ertragen haben, hätte sie gesehen, daß ich sterbend bin. Du mußt es aber ertragen, Sibylle! Du mußt stark sein.‹

»Von da an nahmen ihre Kräfte auf eine reißende Weise ab; das Fieber, was sie nicht verlassen hatte, wurde heftiger. Sie hatte mit fast übermenschlicher Geisteskraft die schwindenden Kräfte des Körpers in diesen zehn Tagen sozusagen konzentriert, um der über alles geliebten Freundin die Ahnung ihres Todes zu ersparen!

»Sie hatte mich wiederholt gedrängt, ihre von Jena hierhergesandten Sachen auszupacken. Ich frug sie, ob sie die kleineren Gegenstände in ihre Stube haben wollte, was sie ablehnte; aber sie bat mich, mir etwas für mich davon zu nehmen. ›Wenn ich genese,‹ sagte sie, ›ja, wenn ich genese, so wollen wir alles recht hübsch aufstellen.‹ Auf ihre wiederholten Bitten brachte ich ihr ein Kästchen mit Spielmarken, welches von ihrer Mutter war: ›Ja, das ist hübsch,‹ sagte sie, ›nimm doch das kleine Glas, was da sein muß, auch!‹ Tags darauf begehrte sie eine Mappe, worin Zeichnungen und Bildnisse lagen; ich reichte ihr eine nach der andern hin: als sie mir Knebels Bildnis zurückgab, sagte sie: ›Behalte das doch gleich und lege es zu deinen Autographen; du hast ja seine Handschrift. Wir wollen das später hübsch ordnen.‹

»Dazwischen überkam sie dann wieder die Ahnung ihres nahen Todes. ›Arme Sibylle,‹ sagte sie, ›daß du mich überleben mußt! Wie wirst du es ertragen können, das Leben ohne deine Adele?‹ – Und ein andermal: ›Sei stark, Sibylle, sei stark! Wir dürfen nicht schwach sein. Wir nicht!‹ – Sie gedachte aller ihrer Freunde. ›Ach, es ist doch schön, daß ich Ottilie noch einmal sehen durfte! Wie dankbar bin ich für dieses letzte Glück!‹ Ein andermal: ›Luise Wolff [in Jena] wird mich schmerzlich vermissen! Sie liebt mich so treu.‹ Und so sprach sie von allen. Es war fast das einzige, was sie sprach, weil das Reden ihr weh tat. Wenn die Schmerzen momentan sich minderten, trat ihre eigentümliche Heiterkeit wieder hervor. Ich hatte ihr irgendeine Speise schon zerschnitten gebracht: ›Das ist ein schöner Gedanke,‹ sagte sie und lachte laut. ›Weißt du noch, Sibylle, wie wir in Unkel waren und du zum Tee die Butterbrote zierlich aufeinandergelegt hattest, und die Frau von (sie nannte die Dame) ausrief: »Das ist ein schöner Gedanke! So was wäre uns nimmer eingefallen!«‹

»Am 17. August zeigten sich die ersten Symptome der Wassersucht; die Geschwulst vergrößerte ihr Leiden: die Todesboten stürmten unaufhaltsam heran; einmal sagte sie: ›Ich fürchte mich nicht vor dem Sterben, nein, nicht vor dem Sterben; aber ich bange vor den Schmerzen. Ach, Sibylle, laß mich nicht zu sehr leiden! Ende die Qualen, ehe mich die Verzweiflung faßt. Gib mir etwas dann, was sie endet. Es ist kein Unrecht, es ist Mitleid.‹ – Die Freude an Blumen blieb ihr bis zum letzten Tage ihres entschwindenden Lebens: es war dies der vergeistigte Ausdruck jener Freude an der Natur und an allem Schönen, welches ihrem Leben den edlen Gehalt gegeben hatte. Sie hatte sich noch fortwährend mit Lesen und, wenn sie aufsaß, sogar mit weiblichen Handarbeiten beschäftigt und mit unvertilgbarer Ordnungsliebe für ihre Wäsche und andre kleine Dinge gesorgt, ihre kleinen Ausgaben geregelt usf. Von dem 18. an aber hörte dieses auf. Am Vorabend des 24. aber sagte sie indes zu mir: ›Mein Mädchen wird einiges ausgegeben haben, rechne doch mit ihr und bezahle: in meinem Portefeuille liegt Geld.‹

»Am 20. verlangte sie ihr Testament zu machen; sie diktierte mir einen Brief an ihren Bruder und ein paar Zeilen an Julie Kleefeld wegen einer Summe, die sie von ihrer [am 23. Juni] verstorbenen Tante [Julie Trosiener] in Danzig geerbt hatte. Dann nannte sie mir mehrere Personen, denen sie Andenken hinterlassen wollte, und bestimmte die Gegenstände. Gegen Abend diktierte sie dem Notar mit fester, sonorer Stimme und ruhigster Fassung ihren letzten Willen. Später bat sie mich, die Namen und Sachen, die ich am Morgen mir notiert hatte, ihr vorzulesen: ›Es ist gut,‹ sagte sie; ›sollte ich einige Namen vergessen haben zu nennen, so wirst du schon sorgen; du mußt für mich denken – ich weiß schon, du wirst es, du Arme, wenn ich gestorben bin. Jetzt, geh, liebe Sibylle, ich will schlafen!‹

»Andern Tags, am 22., sagte sie plötzlich: ›Wenn ich sterbe, will ich ganz einfach begraben werden, ohne alles Gepränge und große Reden. Das wäre wohl ein Text: Was man von ihr kannte, war Gutes!‹

»Sie konnte wegen der Geschwulst nur mit großen Schmerzen liegen und mußte stets von einer Stelle zur andern gehoben werden: dabei war sie engelhaft geduldig und mild und dankte jedesmal freundlich, wenn es gelang, ihr momentan eine erträglichere Lage zu verschaffen. Ich nannte ihr mehrere Personen, die sich nach ihrem Befinden hatten erkundigen lassen, und in der Reihenfolge auch den protestantischen Pfarrer Wichelhaus (der indes nicht geschickt hatte) mit dem Zusatz, er ließe zugleich fragen, ob er sie besuchen dürfe. Ich wollte bei bejahender Antwort den Pastor zu ihr bitten lassen. ›Nein!‹ Und als ich zur Tür ging, mich zurückrufend: ›Ich will dir meine Antwort sagen. Bestelle, liebe Freundin, ich ließe ihm gar sehr danken für seine große Güte; ich wäre mit meinem Gewissen in Frieden und müßte fürchten, eine Aufregung werde mir schaden.‹

»Am 25. früh 3¼ Uhr verschied sie. Am 28., dem hundertjährigen Jubiläumstage von Goethes Geburtstag, wurde sie beerdigt auf dem Friedhof in Bonn. Alfred Nicolovius sandte einen Lorbeerkranz, Sulpice Boisserée einen Zypressen- und Immortellenkranz, die auf der Bahre befestigt mit in die Gruft gegeben wurden. Mehrere Damen warfen Blumen und Kränze hinein. Ich hatte sie in den Sarg gelegt.

»Am 29. ließ ich einen großen Wacholderbaum in meinem Garten fällen, und auf dem kleinen Hügel baute ich einen Scheiterhaufen, worauf ich ihre falsche Haarflechte, ihre Öle, Pomaden, Kämme, Schwämme, Essenzen, Räucherwerk, die Rosenbukette, die bei ihrer Leiche gestanden, verbrannte. Zuletzt aus dem Garten Zweige von ihren liebsten Pflanzen und Bäumen, ein paar Trauben, eine Feige und einen Efeuzweig. Die Weinreste aus den Flaschen, woraus man sie in den letzten Tagen gelabt, löschten die Asche, die unter dem Rasen meines Gartens dann begraben wurde. Es war in ihrem Sinne: Wer wird für meine Bestattung Sorge tragen?«

Mit einfachen, schmucklosen Worten ist diese Schilderung vom qualvollen Sterben Adelens, von ihrem Begräbnis und dem Totenopfer, das Sibylle wie eine Frau des Altertums der Heimgegangenen darbringt, ein kleines, in sich geschlossenes Kunstwerk, dessen einheitliche tiefe Wirkung durch keine Einschaltung gestört werden durfte. In meinem Buche über Sibylle werde ich diesen Bericht durch eine Fülle von Briefen und Dokumenten bestätigen und ergänzen, die Sibyllens ganze treue Sorge für die Sterbende zeigen und ihrem Schmerz über den Tod der Geliebten erschütternden Ausdruck geben. Nur eines dieser Blätter sei hier schon mitgeteilt: es ist der letzte Brief Adelens an ihren Bruder Arthur, der letzte auch, den sie geschrieben hat:

Bonn, den 20. August 1849.

Lieber Arthur! Die Verfügungen, die Du Gottlob genau kennst, werden Dir von meinem Vermögen leider nicht soviel zurücklassen, als wünschenswerth. Dieses aber stehet sicher, wird in bestimmten Raten bis zu jedesmaliger Abzahlung gut verzinst Dir ausgezahlt werden. Den noch in meinen Händen befindlichen Theil unseres Familiensilbers wird Frau Sibylle Mertens-Schaaffhausen Dir im Falle meines Unglücks sicher übersenden. Es bleiben mir noch, unbedeutend an Werth, zur Verfügung eine kleine Damenbibliothek, vier Portraits in Oehl, die Miniaturen, die die Mutter gemalt hat, etwas werthloser Modeschmuck, und einzelne Mobiliarstücke, und alte Kupferstiche, die mir niemand hat abkaufen wollen. Erlaube mir, daß auf den Fall meines plötzlichen Todes meine Freundin Sibylle Mertens diese Dir unnützen Dinge nach meinem ihr bekannten Willen unter meine Jugendfreunde vertheilt. Du würdest sehr wenig durch den Verkauf zu Deiner Gunst gewinnen. Um für den angedeuteten traurigen Fall das Versiegeln bei der Mertens zu verhüten, bitte ich Dich an irgend jemand in Bonn Deine Vollmacht zu senden: Du könntest sie, wenn Du niemand näheres weißt, an Dr. Wolff, Profr. Nicolovius oder Herrn Wilhelm Mertens-Dewall senden.

Indem ich Dir von Herzen für alle Freundlichkeit der letzten Monate danke bitte ich mir bald zu antworten.

Deine treue Schwester
Adele.

Die geschäftsmäßige Nüchternheit dieses Briefes greift ans Herz. Mehr hatten sich die Geschwister nicht mehr zu sagen. Dabei zittert in Adelens Zeilen die Angst, daß ihr Bruder schließlich doch noch die der Freundin Sibylle anvertrauten Bestimmungen über Verteilung ihrer kärglichen Habe kraft seines Bruderrechtes umstoßen könne.

Nicht der Bruder, sondern die Freundin Sibylle war es, die der Toten auf dem alten Bonner Friedhof ein Grabmal errichtete, dem sie, in Erinnerung an gemeinsame glückliche Tage unter der Sonne Italiens, folgende Inschrift gab:

Qui riposa
Luise Adelaide Lavinia Schopenhauer
vissuta 52 anni
egregia di cuore d'ingegno di talento
Ottima figlia
Affetuosa e costante agli amici
Sostenne con nobilissima dignità d'anima
Mutamenti di fortuna,
E lunga dolorosa malattia
Con pazienza serena
Ebbe fine de' mali a di' 25 Ag. 1849
Le fece il monumento la sconsolata amica
Sibilla Mertens-Schaaffhausen.

* * *


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