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4

Kaum zwei Mannesfäuste groß war die rundliche Öffnung, zu der das helle Morgenlicht eines Sommertages hereindrang. Auch war das Loch so dicht unter der Decke angebracht, daß ein Gefangener unmöglich den Blick auf die Außenwelt werfen konnte, obgleich die Zelle nur wenig höher war als ein hochgewachsener Mann.

Ferner hatte die List des Baumeisters die Öffnung so angelegt, daß sie mehr einem in der dicken Wand schräg abwärts geneigten Luftkanal glich. Selbst wenn der Gefangene bis an die gegenüberliegende Kerkertür zurücktrat, sich dort auf die Zehen erhob, sah er nicht den Himmel draußen, irgendeine Erhöhung, auf die er sich hätte stellen können, gab es in dem engen, länglichen Vierecke nicht. Denn das Lager, eine dürftige Strohschütte, breitete sich auf den Fliesen. Auch wurden die unseligen Bewohner des mamertinischen Kerkers von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang an einen in den Steinboden eingelassenen Ring gekettet.

Fast immer herrschte Grabesruhe in dem Gebäude, an dessen gewaltigen Mauern jedes Geräusch verhallte. Vor der Tür aus schweren, über und über mit Eisenbändern beschlagenen Bohlen klang fast nie ein Schritt. Nur dann, wenn der schweigsame Wächter am Morgen die schmale Kost brachte und den Gefangenen, nachdem er das traurige Mahl verzehrt, in Ketten schlug. Nur dann, wenn ein neuer Gefangener zu seinem Kerker geführt wurde. Menschenstimmen erschollen kaum jemals. Wurden sie doch einmal laut, dann glichen sie nicht menschlichen Lauten. Dann war es das Schmerzgebrüll der Gefolterten oder Gezüchtigten, oder der tierische Verzweiflungsschrei eines Eingekerkerten, der in der furchtbaren Einsamkeit der Haft den Verstand verloren hatte.

Das sommerliche Frühlicht, das zu dem Luftschachte hereindrang, malte einen rundlichen, hellen Fleck, dessen oberer Rand sich dort einzeichnete, wo die Decke an die Wand stieß. Später rückte die freundliche Helle nach und nach fort, bis der Sonnenschein wohl durch ein anderes Bauwerk draußen abgeblendet wurde. Dann ward der helle Fleck – wie bei trübem Himmel – ein bleicher Schimmer, der mit dem Sinken des Tageslichtes mählich verstarb, bis nichts mehr blieb als die Düsternis, die wie eine trostlose Hoffnungslosigkeit die Zelle erfüllte.

Dieser Lichtfleck war das Sinnbild der Gemütsverfassung des Menschen, der hier gefangen saß. Des Morgens ein helles Hoffen auf Befreiung, das sich steigernd vorwärts wagte, um am Abend immer wieder unerfüllt zu verbleichen und wieder zu erwachen, wenn ein neuer Morgen anbrach.

Durch Freundlichkeit und durch Geduld im Ertragen seiner Haft hatte der Gefangene erwirkt, daß der menschlich gesinnte Wächter die schwere Verantwortung auf sich nahm, auch tagsüber den rätselhaften Mann nicht mehr zu fesseln. Es kümmerte sich ohnehin niemand um diesen geheimnisvollen Gast des Tullianums. Ihn hatte eines Abends ein prätorianischer Centurio gebracht, der auf die Frage nach dem Vergehen des Mannes die Achseln gezuckt und erwidert hatte: »Ich weiß nur, daß er in sicheren Verwahrsam abzuliefern ist.«

Seitdem hatte keiner je wieder nach dem Gefangenen gefragt.

Abalanda selbst schwieg. Nie beteuerte er seine Unschuld, nie beklagte er sich über die verlorene Freiheit. Nur zweimal hatte der wunderliche Mensch gesprochen. Das eine Mal, als der Wächter nach langen Wochen ihn fragte, ob er zur Sekte jener Juden gehöre, die einen zum Gotte erhobenen Menschen aus dem Hebräerlande anbeteten und oft eingekerkert wurden, weil ihr Glaube an die Göttlichkeit dieses Menschen von geringer Herkunft eine Beleidigung der Götter des Römervolkes war.

Er hatte damals geantwortet: »Ich bete zu den Göttern meiner nordischen Heimat. Das ist in Rom geduldet und sicherlich nicht mein Vergehen.«

Das andere Mal sprach er, als der Wächter ihm eines Tages bessere Kost brachte und dabei erklärte, es geschehe bloß dieses eine Mal und nur deshalb, weil die Kaiserin einen Sohn geboren hätte. Da hatte der sonst ruhige Mensch zur Verwunderung des Kerkermeisters erregt hervorgestoßen:

»Einen Sohn! Messalina hat einen Sohn?!«

Der Wächter hatte nur den Kopf geschüttelt. Er war überzeugt, sein Gefangener war ein friedlicher Irrer, der sicherlich nicht ins Tullianum gehörte. Nach und nach war er milder gegen den Einsamen geworden. Er nahm ihm das Versprechen ab, sich ruhig zu verhalten, und erließ ihm fortan die Ketten.

Nun hatte der bedauernswerte Mann in der dürftigen Tageshelle die Hände frei und konnte sich beschäftigen. Freilich blieb ihm dazu nur das Stroh der Lagerstatt. Er fing an zu flechten, gewann bald eine gewisse Fertigkeit und schuf allerlei wunderliche Dinge, Körbchen, Teller, Schuhwerk, doch als Spielereien auch Ketten, Ringe und ähnliches. Auch einen dicken Deckel brachte er zuwege, mit dem er die Kloakenöffnung in der Zelle fest zu verschließen verstand. Vieles schenkte er dem Wärter, manches benützte er, Ordnung und Sauberkeit an seinem Körper und in dem feucht öden Räume zu wahren.

Wortkarg aber blieb er immer, als bedrücke ihn ein unablässig quälender Gedanke. Doch die stolze Haltung verlor er nie. Haare und Bart wuchsen ihm lang in rötlichem Blond. Er glich jetzt den germanischen Kriegsgefangenen, die der Wärter vor langer Zeit im Triumphzuge eines Feldherrn hatte schreiten sehen.

Heute, nach unzähligen Tagen der Gefangenschaft, brachte der Wärter eine trüb leuchtende Steinlampe, trotzdem der helle Sommerfrühmorgen draußen den wandernden Fleck schon an die Wand gemalt hatte. Eine reinliche Tunika übergab der Alte dem Gefangenen und eine Handvoll Kupfermünzen.

»Die sind ein Geschenk von mir,« sagte er. »Du hast mir nie mein Amt erschwert, und ich bemitleide dich. Nun höre, was ich dir sage. Der Kaiser zieht heute im Triumphe in Rom ein, nachdem er gewaltige Siegesehren in dem britannischen Kriege errungen hat.«

»Ich hörte den Kaiser am Abend meiner Gefangennahme von diesem Kriege zum Volke sprechen,« erklärte der Gefangene. Dann, lebhafter als sonst, fragte er: »Wie lange hat der Krieg gedauert?«

Der Wärter rechnete an den Fingern nach, »Im März waren es zwölf Monate – jetzt ist Julius – ein Jahr und vier Monde.«

Der Gefangene schüttelte den Kopf und seufzte nur.

Da fuhr der Wärter fort:

»Zur Feier des kaiserlichen Triumphes dürfen heute viele Begnadigte den Kerker verlassen. Alle, die sich gut geführt haben und wegen geringer Delikte hier sitzen. Du stehst nicht auf der Liste. Doch ich nehme an, man hat dich vergessen, wie man dich überhaupt vergessen zu haben scheint. So wird niemand nach dir fragen. Ich nehme es auf meine Kappe und lasse dich frei. Hast du wirklich nichts Schlimmes getan – keinen Mord – keinen Diebstahl?«

Der Gefangene wies auf den hellen Fleck an der Wand. »Mein Gewissen und meine Hände sind rein wie der Sonnenschimmer dort.«

»Dann geh in Frieden von dannen,« sagte der Alte nach einem letzten Bedenken. Sein gutmütiges Gesicht verklärte sich im hellen Lichte der Menschengüte.

»Das saubere Gewand hier leg an, denn du bist zerlumpt. Heute läuft ein jeder in Rom festlich gekleidet einher. Die Lampe brachte ich, damit du Licht zum Ankleiden hast und auch damit du mit dem Öle deine Haare salben kannst.«

Mit einem dankbaren Lächeln drückte der Gefangene die Hand seines Wohltäters.

Er kleidete sich in Gegenwart des Wärters mit der ärmlichen, sauberen Tunika und tat einen tiefen Trunk aus dem Kruge, als brauche er nun nicht länger mit dem Wasser zu sparen. Dann reckte er sich an der Wand empor und griff mit der Hand in den Lichtfleck unter der Decke.

»Lebe wohl, du Freund,« flüsterte er, sich einer Sprache bedienend, die der Wärter noch nie vernommen hatte.

Dann kehrte er sich dem alten Manne zu und bat: »Nenne mir deinen Namen.«

»Er würde dir nichts nützen, du armer Mensch,« erwiderte der Wächter mit geneigter Stirn. »Es ist der Name eines Lebendigtoten. Du bist glücklicher als ich, ich bin geringer als du. Du gehst von hinnen. Mich aber bindet für immer mein Amt in dieses finstere Haus. Mein Dienst hier ist die Begnadigung eines zum Tode Verurteilten.«

Ein seltsames Lächeln verschönte seine rauhen Züge, als er hinzufügte: »Vielleicht bringt dem Lebensmüden Erlösung, was er an dir tut.«

Dann fragte er schüchtern: »Aber du – willst du mir sagen, wer du bist?«

Der Fremde antwortete wehmütig. »Du befreist einen Menschen, den dein Cäsar einmal als seinen Gast ehrte. Die Kaiserin hat mich zum Gefangenen erniedrigt und die Gastfreundschaft Roms geschändet. Doch – ? in den langen Tagen hier ? habe ich verzeihen gelernt.«

Nichts in der Welt noch in Rom hatte sich wesentlich verändert, als Abalanda nach sechzehn Monaten der Gefangenschaft den mamertinischen Kerker am Forum verließ. Auch er selbst war innerlich der gleiche geblieben. Äußerlich schien er durch den wallenden Bart und die bis auf die Schultern fallenden Haare gealtert.

Abalanda suchte zunächst eines der öffentlichen Bäder auf. Dort faulenzten nur die Thermendiener. Denn ganz Rom war zu dem Marsfelds hinausgewandert, rechts und links der Via Flaminia, da Kaiser Claudius auf dieser Straße, von Norden kommend, seinen Einzug unter der Glorie des Triumphes feiern wollte.

Am Portikus der Therme saß ein Mann mürrisch neben zwei Kästen. Er machte ein verdrießliches Gesicht, als Abalanda herzutrat und eine Kupfermünze in den einen Kasten warf.

»Du bist der erste, der heute zum Bade kommt,« brummte der Aufseher und überreichte Abalanda ein dem anderen Kasten entnommenes Nummerplättchen aus Blei, das ihn zum Eintritt in die Bäder berechtigte. Dabei schalt er grimmig.

»Immer muß man hier hocken und euch Gesindel bedienen. Wo man auch gern nach dem Marsfelde hinaus wäre, um den Triumph des Cäsars zu sehen!«

Freundlich erwiderte Abalanda: »Ich werde mich beeilen. Nur rasch das Apoditerium und ein warmes Bad zum Reinigen benützen. An mir soll's nicht liegen, wenn du nebst deinen Kameraden in der Therme zurückgehalten wirst.«

Der Aufseher schüttelte brummig den Kopf und knurrte: »Was nützt uns deine Eile! Wir müssen doch hierbleiben. Denn gleich nach dem Triumphzuge rennt natürlich alle Welt in die Bäder, um das Ereignis zu besprechen. Ich erwähne das, weil ich dir ansehe, daß du ein Ausländer bist. Im übrigen tust du recht, dich mit dem Bade kurz zu fassen. Laß dir den Triumphzug nicht entgehen! So bald wird man nicht wieder sehen, daß ein Frauenzimmer die Ehren des Siegers teilt.«

»Wer wäre das?« fragte Abalanda, weniger aus Neugier als aus dem Wunsche heraus, sich wieder an die Unterhaltung mit Menschen zu gewöhnen.

»Nun natürlich die Messalina,« entgegnete der Aufseher höhnisch. »Bei den Ewigen – man muß sich fragen, welche Siege sie dabei feiern will außer jenen, die sie über Männer oder die Männer über sie errangen während der vielen Monate, die der Kaiser fern war.«

»Du sprichst mit wenig Ehrerbietung von der höchsten Frau in Rom,« versetzte Abalanda ernst.

»Soll man von der auch noch ehrerbietig sprechen!« spottete der Mann. »Du scheinst hier noch völlig fremd, sonst würdest du dich nicht über meine Worte wundern. Sie treibt es arg, kann ich dir sagen. Daß sie Männer in Massen braucht, ist schließlich ihre Privatsache, sozusagen. Aber daß ihre wilde Brunst das Staatswesen beeinflußt, geht uns alle an. Man hatte auf den Kaiser Claudius große Hoffnungen gesetzt und sieht sich nun arg enttäuscht. Denn seit er sich auf den Weg zur Eroberung Britanniens machte, kommt immer deutlicher zum Vorschein, wer im Palatium gebietet. Ein paar griechische Freigelassene, Günstlinge der Kaiserin. Ich sage ›Günstlinge‹ – aus Ehrerbietung,« – er lachte ironisch – »könnte aber was ganz anderes sagen. Doch du hast anscheinend sehr zarte Ohren.«

»Pöbelgeschwätz,« murrte Abalanda.

Der Aufseher grinste. »Ja, so heißt es stets, wenn das Volk die Wahrheit zu sagen wagt!« polterte er. »Es ist aber schon so. Kannst mir glauben. Anfangs sah man in dem alten, närrischen Claudius einen zweiten Augustus und in dieser Messalina eine zweite Livia. Übelste Täuschung! Sie scheint es vielmehr der Tochter des guten Augustus gleichtun zu wollen, jener verruchten Julia, die der eigene Vater in die Verbannung jagen mußte, weil sie aus Rom ein großes Dirnenhaus machte.«

Unwillig wollte Abalanda das peinliche Gespräch abbrechen. Doch der geschwätzige Aufseher, dem es offenbar wohltat, diesen einfältigen Barbaren aufzuklären, hielt ihn an der Tunika zurück.

»Heute kommt es zu einem öffentlichen Skandale. Das sage ich dir. Diese Frechheit wird das Volk nicht hinnehmen. Man behauptet nämlich, die Messalina werde sich im Triumphzuge des Wagens der Vestalinnen bedienen.«

»Und das Recht dazu bestreitet man ihr?« fragte Abalanda scharf.

»Allerdings. Wenn man von einer Frau in Rom behaupten kann, sie lebe wahrhaftig nicht wie eine Vestalin, dann ist's die Kaiserin. Erst war der Freigelassene Narzissus ihr erklärter Liebster. Daneben hatte sie freilich noch allerhand geheime. Die Frau muß einen bewundernswerten Appetit haben! Beim Jupiter! Nun aber ist Narzissus abgedankt und der Freigelassene Polybius in die Stelle seines Freundes eingerückt. Wie lange der die kaiserlichen Freuden genießen wird, weiß kein Mensch. Vielleicht geht es ihm wie einst dem armen Mimen Paris. Der mußte ins Gras beißen, weil – –«

»Schweige!« wetterte Abalanda den Geschwätzigen an. Seine blauen Augen hatten sich dunkel gefärbt vor Zorn, sein bärtiges Gesicht glühte. »Ihr Römer habt den gemeinen Drang, Menschen zu erniedrigen, die euch an Stellung und Macht überlegen sind. Daß ihr auch Frauen nicht verschont mit euerm Geifer, kennzeichnet eure elende Gesinnung. In meiner Heimat achtet man das Weib. Jeder ehrenhafte Mann würde den züchtigen, der Übles schwatzt ohne bündige Beweise.«

»O weh!« machte der Aufseher mit geheuchelter Angstmiene. »Dann will ich lieber den Mund halten.«

Er maß Abalanda verächtlich mit den Augen. »Ich dachte mir gleich, daß du ein Germane bist. Ihr tragt das Haar lang, um darzutun, wie lang eure Keuschheit ist. Na, dann lauf hin und sieh dir die keusche Messalina an. Aber sieh dir auch unsere Soldaten an und lerne Respekt vor der Größe Roms. Die fehlt dir sichtlich. Fünf der besten Legionen haben Britannien erobert und damit uns den letzten Rest der Barbarenwelt unterjocht.«

Er warf sich in die Brust mit dem Hochmut des Mannes, der sagen darf: civis Romanus sum – ich bin Römer! –

»Trinobantische Kriegsgefangene und zwei ihrer Fürsten werden in Ketten hinter dem Wagen des Kaisers schreiten, da der Sieg über diese Rebellen unter den Augen des Cäsars erfochten wurde.« Da packte ihn wieder die Wut. »Und da sitzt man hier als alter Soldat und muß irgendeinen hergelaufenen Nordländer bedienen.«

»Hüte deine Zunge!« fuhr Abalanda jetzt heftig den Invaliden an. »Wenn man dir einen Ruheposten anvertraut, so tat man es gewiß nicht, damit du harmlose Besucher der Therme beleidigst.« Er wandte sich ab und schritt dem Eingange der Bäder zu.

Verbissen lachte der ausgediente Legionär hinter ihm drein.

Wenn Abalanda geglaubt hatte, nur die Geschwätzigkeit des Invaliden beschäftigte sich mit Messalina, so mußte er sich zu seiner Bestürzung überzeugen, daß der Aufseher nur eine Stimme aus Tausenden war. Denn als Abalanda sich nach Beendigung des Bades unter die Menge mischte, die alle Treppenvorsprünge und Portiken der Via Flaminia vom Forum Romanum bis zum Norden des Marsfeldes hinauf besetzt hielt, vernahm er in dem Summen der Menge nur allzu oft den Namen der Kaiserin. Hier sprach man von ihr in gemeinem Scherze, dort in niedrigem Hasse, da in ehrlichem Zorne und hier wieder in spottender Verachtung. Nirgends erstand ihr ein Fürsprecher, nur Verurteilung ward laut.

Abalanda erstarrte. Es schien ihm unfaßbar, daß Messalina sich in den sechzehn Monaten seiner Haft so schmerzlich gewandelt hatte. Und dennoch – – war er nicht selbst ein Opfer ihrer Sinnesänderung? Er grübelte, wie er in seiner düstern Zelle so oft gegrübelt hatte. Weder Kaiser Claudius noch dessen Schergen hatten den leisesten Grund, ihn, den mit Genehmigung des Stadtpräfekten ruhig und ohne die geringste politische Betätigung in Rom lebenden Fürstensohn, gefangen zu setzen. Nur Messalina konnte die Ursache seiner Verhaftung gewesen sein ...

Immer wieder sah er das Bild jener Märznacht vor Augen. Die im Fackelschein tanzenden Salii – die kaiserliche Tribüne, deren pomphaften Hintergrund: die gewaltige Treppe des Dioskurentempels, sah, wie plötzlich der Blick Messalinas ihn traf, wie ihr Antlitz sich veränderte, wie sie den Kaiser auf ihn aufmerksam machte, wenige Minuten später war der Centurio bei ihm, forderte ihn auf, ihm zu folgen – der Weg durch abgelegene Gassen, inmitten vier schweigsamer Prätorianer, der vor dem Tor des mamertinischen Kerkers endete – die ausweichenden freundlichen Antworten des Centurio, der behauptete, nur einen Befehl auszuführen ...

Abalanda sann und grübelte und fand keine Erleuchtung, wie er sie lange Monate hindurch nicht gefunden hatte. Eingekeilt in ein Gedränge von Menschen, trieb er in dem Strome der Menge dahin, die sich langsam gleitend dem marmornen Triumphbogen zuschob, den man dem Kaiser Claudius errichtet hatte. Droben auf der Höhe des figurenreichen Bauwerks mit dem weit gähnenden Durchgange, Symbol des weiten Rachens der völkerfressenden Löwin Roms, hoch auf dem Flachgiebel des Arcus leuchteten im Sonnenglanze des Vormittages acht goldene Siegesgöttinnen. Sie breiteten die Flügel, als schwebten sie dem Manne entgegen, der heimkehrte – Abalanda dachte es mit wühlendem Schmerze – heimkehrte, nachdem abermals ein Volk germanischen Blutes zertreten worden war.

Er blickte sich um, sah die frohen, von Begeisterung leuchtenden, fremden Gesichter von Menschen, die Feinde seines Stammes waren. Er zürnte gegen sich. Warum war er nicht heimgekehrt? Was hatte ihn in Rom gehalten? Warum war er damals geblieben? Erbittert gedachte er, daß es ihm heilige Pflicht erschienen war, den guten Ruf der Gefährtin glücklicher Tage zu schützen, indem er den Mörder des unglücklichen Schauspielers aufspürte. Und als es ihm nach unendlichen Mühen und Gefahren gelungen war, als er im Begriffe stand, der Kaiserin seine Entdeckung zu berichten, da – ?

Wie ein Dolchstoß durchzuckte es ihn. Wieder tönte der Name Messalina aus der Masse. Doch ein Schimpfwort, so drastisch, wie es nur lebhafte Südländer über die Lippen bringen, begleitete den kaiserlichen Namen. Derbes Gelächter der Umstehenden folgte den robusten Worten. Abalanda suchte das Lästermaul. Dann sank er wieder in sich zusammen. Was vermochte er, der einzelne, gegen die Menge? Und dann! Sprach ein ganzes Volk wirklich ohne triftige Gründe so erbarmungslos unehrbietig von der höchsten Frau im Lande? Heiß siedete ihm das Blut zu Kopf, als fege eine Flamme an ihm vorüber. Ein Gedanke, den er in den langen Monaten der Gefangenschaft niemals gedacht, rannte jählings auf ihn ein.

Jetzt wußte er plötzlich, warum Messalina ihn hatte einkerkern lassen. Einen Zeugen ihrer Lasterhaftigkeit zu beseitigen. Einen Menschen zu vertilgen, vor dem sie sich schämte. Der einzige Mann, der sie wahrhaft geliebt hatte, sollte ihren tiefen Fall nicht sehen!

Ja, war das denn logisch? Wollte sie diesen Mann lieber im Kerker verschmachten lassen als vor ihm als Dirne stehen?! War das möglich?! War das weiblich? Abalanda empfand, daß seine Gedanken in der Irre gingen.

Da wurde er vom Jauchzen des Volkes aus seinem flatternden Sinnen herausgerissen. Der Jubel wälzte sich die flaminische Straße herab, brach aus dem Durchgang des Triumphbogens hervor. Der Zug nahte. Jeder kämpfte um einen Platz, der bessere Sicht ermöglichte. Ein Mann hinter dem hochgewachsenen Nordländer versuchte keck, auf Abalandas Schultern zu klettern. Unter diesem Gewichte wankte der von Hunger, Durst und Bewegungslosigkeit entkräftete Körper des Chatten.

Er taumelte, hatte aber noch die Kraft, sich rückwärts zu drängen, weil er wußte, es ging um das Leben, wenn er unter die Füße der flutenden Menge geriet. Endlich fühlte er hinter sich den Sockel eines Hauses. Der schmale Sims bot ihm gerade Raum genug, sich niederzulassen. Er war völlig erschöpft. So sah er nichts von dem Triumphzuge. Nur die erregten Schreie und Rufe kündeten ihm, was sich zutrug auf der Straße jenseits der Menschenmauer.

Plötzlich entstand ein Schweigen, das allmählich zu einem dumpf brausenden Murren der Volksmasse aufbrandete. Wieder erscholl der Name Messalinas. Abalanda erhob sich. Vielleicht gelang ihm, einen Blick auf die zu werfen, die er – trotz allem – trotz allem – noch immer liebte. Er vernahm die schmählichen Lästerungen aus den Schmutzmäulern vor ihm. Dann hörte er eine Männerstimme grölen: »Da naht sie, die erlauchte Hure Messalina!«

Die Worte stießen Abalanda nach vorn, den Schänder der geliebten Frau niederzuschlagen. In den plötzlich zurückkehrenden Riesenkräften teutonischen Zornes bahnte er sich mit Ellbogen und Fußtritten einen Pfad. Man hieb von allen Seiten auf ihn ein, aber gerade dadurch kam er vorwärts. Da packten ihn zwanzig Fäuste, hoben ihn empor, schleuderten ihn. Plötzlich war er außerhalb der Menge, mitten auf der Straße. Gerade rollte ein mit Pracht überladener Wagen daher, den vier milchweiße, nebeneinandergeschirrte Rosse zogen. Die beiden äußeren Pferde wurden an goldbeschlagenen Zäumen von Sklaven in der rotleuchtenden Gewandung der Palastdienerschaft geführt.

Als der Körper Abalandas jählings den Tieren in den Weg flog, scheuten sie und stiegen erschreckt auf den Hinterbeinen. Der Wagen hielt. Da bot sich der Kaiserin Messalina ein seltsamer Anblick.

Vor den vergoldeten Vorderhufen der aufgeregten Rosse erhob sich ein Mensch, dem die ärmliche Tunika in Fetzen vom Leibe hing. Die Schimmel bäumten sich vor der Gestalt, um deren Haupt ein wirrer Wust blondroter Haare flatterte. Ein langer Bart von gleicher Farbe floß auf die nackte Brust des Mannes nieder. Die weiße Haut des Körpers leuchtete aus dem zerrissenen Gewande. So stand dicht vor dem Wagen der Kaiserin der Fremdling, den die erboste Menge übel zugerichtet hatte.

Schon wollten sich die Läufer der Kaiserin auf ihn stürzen, ihn mit Stockschlägen aus dem Wege zu treiben, als er seine blauen Augen verklärt auf Messalina heftete. Beide Arme wie zu einem Gruße erhebend, öffnete er den Mund. Doch da brach er zusammen in den Staub der Straße. Sein geschwächter Leib war den Anstrengungen und Nöten dieser ersten Stunden der Freiheit nicht gewachsen.

Die Läufer entzogen den Gestürzten rasch den Blicken der Kaiserin. Sie hoben ihn empor und schleppten ihn in die Menschenmenge hinein, die jetzt bereitwillig eine Gasse öffnete. Auf einer Treppe warfen die Sklaven den Besinnungslosen nieder und eilten dem Wagen der Herrin nach.

An der Straßenkrümmung zwischen dem mamertinischen Kerker und dem Janustempel hielt der Zug. Messalina benutzte die Stockung, den Aufseher der Läufer heranzuwinken. Sie befahl ihm umzukehren und den Namen des Mannes zu erkunden, der sich vor den Wagen geworfen hatte.

Eine Viertelstunde später kam der Oberläufer zurück. Während Kaiser Claudius eine lange Ansprache an den auf dem Forum versammelten Senat richtete, gab der Sklave Auskunft. Der zerlumpte Mann sei nach der Meinung der Umstehenden germanischer Herkunft. Er habe sich frech vordrängen wollen und sei von der Menge gebührend gezüchtigt worden. Vorgefunden habe er ihn nicht mehr. Offenbar habe er sich entfernt, nachdem ihm die Besinnung zurückgekehrt sei. Weiter habe er nichts über ihn erfahren können.

In Grübeln gebeugt, stand die Kaiserin auf dem Wagen der Vestalinnen. Sie hatte nicht teil an den Vorgängen um sie her. Während Senat und Volk dem siegreich heimgekehrten Cäsar huldigten, irrten Messalinas Gedanken zurück in eine ferne Sommerzeit.

Waren es wirklich erst zwei Jahre her, daß im Hause der Eltern der blonde Gast sie scheu und verehrend geliebt hatte?! War dieser zerlumpte Mensch, der sich vor den Hufen der Rosse und den Rädern ihres Wagens mühsam aus dem Staube erhoben hatte, Abalanda ...? War es ein Spuk ihrer Sinne gewesen? Eine Mahnung? Eine Warnung? Nein, nein, es war nicht möglich, daß dieser stolze Fürstensohn leibhaft in dieser armseligen Bettlergestalt vor ihr gestanden hatte! Er hatte Rom ja längst verlassen.

Denn als sie nach jener Märznacht, in der sie ihn auf dem Forum erkannte, von leichter Erkrankung genesen war und Narzissus beauftragt hatte, den Freund ihrer Mädchentage in den Palast zu bringen, war ihr der Bescheid geworden, der nordische Prinz sei in seine Heimat zurückgekehrt. –


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