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Die ungleichen Brüder

In einer Stadt lebten zwei Brüder, die waren beide hochbetagt. Da sie weder Weib noch Kind hatten, verbrachten sie ihren Lebensabend viel beisammen. Man hätte daraus schließen können, sie seien in ihrer Wesensart wohl einander ähnlich. Dies traf aber nicht zu; denn obgleich sie als tüchtige Kaufleute beide ein ansehnliches Vermögen erworben hatten, war der ältere bekannt als Wohltäter der Armen, der jüngere dagegen als ein Geizhals. Dieser hoffte sogar in seiner Habsucht, er werde seinen Bruder, der etliche Jahre älter war, überleben und dann dessen ganzes Vermögen erben. Daher rührte auch seine zunehmende Anhänglichkeit an jenen, wie die Nachbarn behaupteten.

Der ältere Bruder schenkte in seiner gütigen Gesinnung diesem Gerede kein Gehör. Dagegen ließ er sich nicht bewegen, seine Wohltätigkeit einzuschränken, obschon der jüngere Bruder ihm oftmals vorhielt, daß er seine Gaben vielen Unwürdigen zuwende.

»Almosen sind unsere Fürsprecher, wenn der Todesengel kommt, uns abzuholen«, sprach er eines Abends daheim zu dem jüngeren Bruder.

»Möge er uns beide einst ins Paradies geleiten!« erwiderte der jüngere.

»Der Allerbarmer lasse ihn als Freund zu mir kommen!« fuhr der ältere fort.

In diesem Augenblick zeigte sich ein Fremdling auf der Türschwelle. Er entbot dem Hausherrn den Friedensgruß und starrte dann den jüngeren Bruder mit einem Blick an, daß dieser erschauerte. Eilends und verstört entfernte er sich.

Der Hausherr wandte sich an den Ankömmling.

»Wer bist du, und was wünschest du zu so später Stunde?«

Jener antwortete: »Ich bin der, dessen Namen du soeben ausgesprochen hast.«

»Der Engel des Todes?« fragte der Greis.

Der Fremdling bestätigte es und sprach weiter:

»Ich bin beauftragt, dir mitzuteilen, daß deine Tage gezählt sind. Für sieben Monate stelle ich auf den Tafeln des Schicksals meine Namensliste im voraus zusammen. Weil du zeitlebens ein rechtschaffener Mensch warst und als vermögender Mann bis auf den heutigen Tag ein großer Wohltäter der Armen gewesen bist, erfährst du den Tag deines Todes sieben Monate voraus. Ich werde an jedem künftigen Vollmond um diese Zeit bei dir anklopfen, damit du dich an mein letztes Erscheinen gewöhnst.«

»Ich werde meine siebzig Jahre in Zufriedenheit beschließen«, sprach der Hausherr. Er kreuzte die Arme auf der Brust und verneigte sich voll Ehrfurcht vor dem Boten Gottes, der sich grüßend entfernte.

Am nächsten Tag fragte der jüngere Bruder, wer der späte Gast gewesen sei.

»Es war der Engel des Todes«, entgegnete der ältere.

Da stieß der andere einen Schreckensruf aus und sprach:

»Weh mir; auf mich hatte er es abgesehen; denn ich werde niemals den Blick vergessen, mit dem er bei seinem Eintreten mich durchbohrt hat. Aber er soll mich nicht finden! Ich werde noch in dieser Stunde nach dem Mohrenland entfliehen.«

Ehe sein Bruder ihn zurückhalten konnte, war er hinausgestürzt. Der ältere suchte ihn seitdem vergebens. Nirgendwo war er zu finden. Er hatte rasch sein ganzes Geld zusammengerafft und war noch in derselben Stunde auf einem flinken Maultier eilends zur Stadt hinausgeritten gegen Süden zu, wo der Wüstenweg nach dem Mohrenlande führt.

Am nächsten Vollmond erschien bei dem älteren Bruder wiederum der Engel des Todes. Der Hausherr begrüßte diesmal den Gast als einen Bekannten. Dies gefiel dem Boten Gottes, und sie verbrachten einige Stunden mit ernsten Gesprächen.

Als der Engel sich dann verabschiedete, sprach der Hausherr:

»Habe ich Gnade gefunden in deinen Augen, dann sage mir, warum du bei deinem ersten Besuch in diesem Gemach jenen Menschen, der damals bei mir weilte, mit deinem Blick durchbohrt hast.«

Der Engel antwortete:

»Um die damalige Zeit war jener Mensch auf den Tafeln des Schicksals vorgemerkt, doch nicht hier, sondern im Mohrenland. Ich wunderte mich daher, ihn in deinem Hause anzutreffen. Da mir aber aufgetragen ist, die Geister der Verstorbenen nur an jenem Ort zu übernehmen, der auf den Tafeln angegeben ist, so hinderte ich ihn nicht, als er sich eilends entfernte. Ich suchte alsdann im Mohrenland den Mann, der auf der Schicksalstafel aufgeschrieben war. Dort fand ich jenen und tat, wie mir geheißen ward.«

Der Greis entgegnete nichts.

Dann unterhielten sich beide über erbauliche Dinge.

Im siebenten Monat erschien der Engel des Todes zum letztenmal und geleitete den Greis zu den Geistern der Gerechten.

*

 


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