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Sonnenschein und Mondschein

Ein Fürstenpaar hatte einen Sohn mit Namen Sonnenschein. Als der Knabe sieben Jahre alt war, starb die Mutter, und der Fürst nahm eine zweite Frau. Diese schenkte ihm ebenfalls einen Sohn, den die Eltern Mondschein nannten.

Die Knaben wuchsen heran und waren einander zugetan. Die Fürstin aber dachte oftmals bei sich: »Wie schön wäre es, wenn mein Sohn Mondschein einst zur Herrschaft gelangen würde!« Und sie sann auf ein Mittel, um ihren Stiefsohn zu beseitigen. Eines Tages hatte sie einen schlimmen Einfall und zögerte nicht, ihn auszuführen.

Sie erhob sich nicht von ihrem Lager, stellte sich krank und heuchelte große Schmerzen. Besorgt fragte der Fürst sie, was ihr fehle. Sie antwortete:

»Es hilft nichts, wenn ich dir verschweige, daß ein ererbtes Leiden mich gleich meiner Mutter überfallen hat.«

»Was ist es?« fragte erschreckt der Gatte. Darauf erzählte die Fürstin ihm folgendes:

»Es handelt sich um eine schmerzhafte Krankheit des Blutes, die zumeist erträglich ist; bei mir aber scheint sie unerträglich zu werden.«

»Können wir denn nichts dagegen tun, meine herrliche Gemahlin?« unterbrach der Fürst sie in wachsender Besorgnis.

Die Fürstin erwiderte: »Ich weiß wohl ein Mittel gegen dieses Leiden; aber mir schaudert es anzuwenden. Damm will ich lieber den Tod erwarten.«

»Das möge nicht geschehen!« rief der Fürst, und er schwor: »Und wenn es mich die Hälfte meines Reiches kosten sollte, werde ich dieses Mittel herbeischaffen. Darum nenne es mir.«

»Das Herz eines deiner beiden Söhne, in Fett geschmort, könnte mich mit einem Schlage für immer von meinem Leiden befreien«, erklärte die Fürstin.

Als sie sah, daß ihr Gemahl vor Bestürzung keine Worte fand, sprach sie weiter:

»Ich weiß wohl, daß du es nicht über dich bringen könntest, mir den Prinzen Sonnenschein, deinen Erstgeborenen, zu opfern. Weil ich aber den Knaben Mondschein selber gebar, vermöchte ich dessen geschmortes Herz nicht zu verspeisen. Darum will ich lieber den baldigen Tod erwarten.«

Da beteuerte ihr der Fürst, daß er seinen Schwur halten werde und seinen Erstgeborenen schon morgen für ihr Leben opfern wolle.

Der Knabe Mondschein, der im Nebenraum spielte, hatte die Unterredung vernommen. Er schlich zu seinem Halbbruder, nahm ihn beiseite und berichtete ihm, was er gehört hatte. Der Jüngling wurde betrübt und sprach:

»Ich ehre wohl Vater und Mutter; doch möchte ich noch nicht sterben. Darum will ich fliehen, bevor das Schreckliche an mir geschieht.«

Als er dann den Knaben Mondschein zum Abschied umarmte, riß dieser sich los mit den Worten:

»Wo du hingehst, da werde auch ich hingehen; denn ohne dich ist dieses Haus für mich freudlos. Darum nimm mich mit!«

Sie umarmten sich ein zweites Mal. In der folgenden Nacht schlichen sie heimlich davon, ein jeder einen Sack mit Nahrung auf dem Rücken. Der Vollmond wies ihnen den Weg, und sie erreichten ungehindert eine Berggegend. Diese durchwanderten sie Tag um Tag und waren frohen Mutes, weil sie keinem Häscher begegneten. Den Leuten auf der Heerstraße erzählten sie, daß sie Schüler eines Einsiedlers werden wollten, der in einem Walde lebte.

Am siebenten Tag hatten sie das Bett eines ausgetrockneten Flusses erreicht. Weil ihre Nahrung inzwischen alle geworden war und der Durst sie peinigte, sank der zarte Knabe Mondschein entkräftet nieder. Eilends suchte der ältere Bruder ringsum nach Wasser. Als er nach einer Weile mit einer gefüllten Schale zurückkehrte, fand er den Knaben verschmachtet. Er küßte ihn weinend und sang den Segen des Wiedersehens.

Da trat ein Greis hinzu, angelockt durch die Trauerklage. In letzter Minute rief er mit wundersamen Heilmitteln den Knaben ins Leben zurück. Darauf erzählten ihm die Brüder, wie sie hierhergekommen seien. Der Greis tröstete sie und sprach:

»Ich will euch Vater und Mutter ersetzen. Bleibet bei mir als meine Söhne.« Sie taten es, und er unterwies sie in vielen Dingen.

Es begab sich aber, als die Jahreszeit nahte, da die Äcker des Landes gewässert werden mußten, daß der ausgetrocknete Fluß sich nicht füllen wollte. Da erhob sich ein großes Wehklagen im Lande; denn ein jeglicher wußte, daß die Krokodile an den Flußquellen das Wasser nicht eher strömen lassen würden, bevor ihnen nicht ein Jüngling geopfert werde.

Deshalb traten Abgesandte des Volkes vor den Landesfürsten und sprachen: »Herr, befiehl dem Einsiedler in dem Flußwalde, daß er einen seiner beiden Söhne den Krokodilen opfere, damit nicht eine Zeit der Dürre kommt und wir nicht Hungers sterben.«

Der Fürst entgegnete: »Willig würde ich eine meiner beiden Töchter opfern, deren ältere eine Jungfrau und deren jüngere noch ein Kind ist; aber die Krokodile verschmähen die niederen Wesen.«

Darum entsandte der Fürst Boten zu dem Einsiedler und ließ ihm sagen: »Meine Untergebenen verlangen deinen Erstgeborenen als Opfer für die Krokodile, damit wir nicht alle Hungers sterben.«

Da begann der Greis laut zu jammern. Der Jüngling Sonnenschein aber trat vor und sprach: »Dank der weisen Lehren dieses Greises fürchte ich den Tod nicht mehr.«

Darauf umarmte er den Einsiedler und den weinenden Bruder und stellte sich dem Fürsten. Dieser lobte ihn und gebot den Dienern: »Führt ihn zu dem Quellensee des Flusses und werft ihn hinein!«

Da eilte seine älteste Tochter hinzu, schlang ihre Arme um den Hals des Jünglings und rief: »Wenn dieser Jüngling geopfert werden soll, dann werft auch mich in den Quellensee.«

Der Landesfürst geriet darüber in heftigen Zorn und befahl:

»Werft die Unwürdige mit ihm ins Wasser!«

Da man sie am Quellensee zusammenband, rief der Jüngling: »Mich heimatlosen Fremdling möge man den Krokodilen vorwerfen; warum aber soll dieses schöne Mädchen sterben?« Die Fürstentochter aber rief: »Mich niederes Wesen möge man den Krokodilen vorwerfen; warum aber soll dieser schöne Jüngling sterben?«

Diese Worte erregten das Mitleid der Krokodile, und als die beiden in das Wasser geworfen wurden, setzten die Krokodile sie unversehrt ans Ufer aus. In demselben Augenblick ergossen die Fluten sich ungehindert in das Flußbett. Dies wurde dem Landesfürsten gemeldet. Dieser lud den Jüngling zu sich und sprach:

»Ich höre, ein Wunder ist geschehen, und du hast meinem Lande eine große Wohltat erwiesen. Deshalb schenke ich dir meine Tochter zur Frau, obwohl du nicht aus fürstlichem Geblüt bist.«

»Ich bin eines Fürsten Sohn«, erwiderte der Jüngling und erzählte auf Befragen seine Geschichte. Darüber waren alle sehr bewegt. Die jüngere Königstochter aber rief dazwischen: »Wer wird statt meiner Schwester nun mein Spielgenosse sein?«

Da ließ der Jüngling den Knaben Mondschein herbeiholen und führte ihn dem Mägdlein zu.

Dann sandte der Prinz Sonnenschein seinem Vater ein Schreiben des Inhalts: »Mache dich bereit, deine heimkehrenden Söhne zu empfangen.« Der Fürst las es, aber sein Antlitz blieb verfinstert.

Da hörte er draußen die freudigen Menschen rufen: »Die Söhne unseres Fürsten kehren zurück mit großem Gefolge.« Er eilte ihnen entgegen; die Fürstin aber wurde so erregt, daß sie Blut spuckte und starb.

*

 


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