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Der Stern des Einsiedlers

In einer Stadt wohnte ein Mann mit seinem kinderlosen Weibe, die waren beide bekannt als Wohltäter der Armen. Als sie schon zu hohen Jahren vorgerückt waren, starb die Frau. Der Mann beweinte sie, und dann sprach er zu sich selbst: »Ich weiß, was ich tue, damit auch bei meinem Tod Tränen der Liebe vergossen werden: mein ganzes Vermögen will ich den Armen hinterlassen.«

Er ließ seinen Verwalter kommen und redete zu ihm: »Ich möchte mein Leben gleich manchen tugendhaften Greisen in einem Büßerwalde beschließen; darum verkaufe mein Haus mit allem, was dazu gehört, und verwalte den Erlös, bis ich sterbe. Dann magst du ihn unter den Armen der Stadt verteilen. Mir genügt, wenn du alle Male, so oft der Mond sich rundet, mir in meine Waldeinsamkeit einen Laib Brot sowie ein Säcklein mit Reis hinausbringst. Mit den Beeren und Früchten, den Wurzeln, Kräutern und dem wilden Honig, den der gütige Wald seinen menschlichen Bewohnern reichlich spendet, mag das mir künftig genügen.«

Und es geschah, wie jener fromme Mensch bestimmt hatte. Er bezog eine Schilfhütte im Walde und lebte darin. So oft der Mond sich rundete, erschien sein alter Verwalter und brachte ihm einen Laib Brot sowie ein Säcklein voll Reis zugleich mit den Segenswünschen seiner ehemaligen Nachbarn und Freunde.

Eines Nachts betrat ein fremder Mensch die Einsiedlerhütte und weckte den Greis auf. Dieser fragte: »Wer bist du und was wünschest du von mir?«

Der nächtliche Besucher erwiderte: »Ich bin ein Räuber und will dein Geld.«

Der Greis, der sich von seinem Lager erhoben hatte, sah, wie der andere ein Messer in der Hand hielt. Er sprach: »Freund, was du hier suchst, wirst du nicht finden. Ich besitze nichts als eine Handvoll Reiskörner. Wärest du eine Nacht später gekommen, würdest du wohl ein vollgefülltes Säcklein mit Reis vorgefunden haben.«

Da zerrte der Räuber den Einsiedler ins Freie und fuhr ihn an: »Leugne es nicht; denn ich weiß nicht nur, daß du ein wohlhabender Mann warst, der sein ganzes Hab und Gut verkauft hat, sondern ich weiß auch, daß du den gesamten Erlös hier versteckt hast. Verweigerst du ihn mir, dann kostet es dich dein Leben.«

Der Greis entgegnete: »Wohl habe ich mein Haus verkauft; aber der Erlös ist für die Armen bestimmt, nicht für einen Räuber.«

Da zückte der Räuber zornig sein Messer. Der Greis aber sprach: »Tue, wie du willst, doch gewähre mir eine letzte Bitte: Siehe droben den Stern über meine Hütte: laß mich noch so lange beten, bis er erloschen ist; dann magst du mich töten.«

Der Räuber sprach: »Es sei!« Und der Einsiedler verhüllte sein Haupt.

So verging eine geraume Weile. Der Räuber stand abseits und blickte aufmerksam zu dem Stern hinauf, der über der Hütte stand. Aber das Dunkel über der Hütte wollte sich nicht lichten, und der Stern begann nicht zu erbleichen.

Der Mensch, der das Messer gezückt hatte, wurde ungeduldig. Immer wieder blickte er zu dem Stern empor, der als einziger über ihm flimmerte. So vergingen Stunde um Stunde, wohl gar ein ganzer Tag oder noch längere Zeit – niemand weiß es zu sagen.

Als aber der Stern über der Hütte gar nicht erbleichen wollte, befiel den Übeltäter eine große Furcht, und er sprach zu sich selber: »Fürwahr, ein Wunder vollzieht sich vor meinen Augen. Der es vollbringt, möge mir gnädig sein!«

Alsdann begann das nächtliche Dunkel, das die Hütte überschattete, sich zu lichten, und der Stern erlosch. Der Greis hob die Augen gen Himmel, kreuzte die Hände über der Brust und erwartete den tödlichen Streich. Aber niemand rührte sich. Da wandte er sich um und war allein. Der Räuber war unhörbar davongeschlichen.

*

 


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