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Die abgebissene Nase

Ein Kaufmann hatte eine Tochter, die war seit sieben Jahren verheiratet; aber ihr Mann weilte schon sechs Jahre wegen Handelsgeschäften in fremden Ländern. Seine Frau wohnte inzwischen im Hause ihrer Eltern. Mit der Zeit begann sie sich zu langweilen, und sie beschwerte sich eines Tages bei einer Freundin über ihr Alleinsein. Dabei blickte sie durch das Balkongitter und gewahrte einen schöngekleideten Jüngling, der im Vorbeigehen hinaufschaute. Dieser Mensch war der Bruder jener Freundin.

Die Augen der jungen Frau und des Jünglings begegneten sich, und eine plötzliche Lebensfreude überfiel die Frau, so daß sie zu der Freundin sprach: »Ich trage Verlangen, mit einem Mann zu sprechen. Laß mich mit deinem Bruder zusammenkommen.« Die Freundin versprach es.

Es traf sich, daß der Ehemann am nächsten Tage unerwartet heimkehrte. Aber die Gedanken der treulosen Frau waren bei dem Jüngling. Wohl entging dem Heimgekehrten nicht der kühle Empfang, der ihm von seinem Weibe bereitet wurde; aber er war von den Anstrengungen der Reise zu sehr ermüdet, um lange darüber nachzudenken, und er begab sich alsbald zur Ruhe.

Kaum war er eingeschlafen, da entwich das törichte Weib aus dem Hause. Ein nächtlicher Einbrecher begegnete ihr draußen und folgte ihr neugierig. Als sie um eine Straßenecke bogen, vernahmen sie ein Geschrei: der Jüngling, den die Frau zu treffen hoffte, war soeben von den Stadtwächtern, die ihn für einen Einbrecher hielten, niedergeschlagen worden. Als die Frau seiner ansichtig wurde und ihn erkannte, da warf sie sich voll Schmerz über den Daliegenden. Und im Todeskampf biß der Mensch ihr die Nase ab.

Da schnellte die Frau empor und rannte verzweifelt nach dem Haus ihrer Freundin. Diese riet ihr unter Tränen der Reue: »Eile sogleich nach Hause, rufe alle Inwohner zusammen und beschuldige deinen Gatten, daß er bei seiner Heimkehr dich aus unbegründeter Eifersucht verstümmelt habe.«

Die Frau tat, wie jene ihr geraten hatte, und zwar, bevor die Sonne aufgegangen war und ehe ihr Mann von seinem Schlaf erwacht war. Auf das Geschrei der jungen Frau eilten ihre Eltern sowie die Nachbarn herbei, und als sie die Anschuldigungen der Verstümmelten erfuhren, verprügelten alle den Ehemann und schleppten ihn vor den Richter.

Dieser verurteilte ihn zum Pfahl. Und ein Mann aus der Menge schrie nach Gerechtigkeit. Der Richter ließ ihn vortreten und fragte ihn, wer er sei. Der Mensch erwiderte: »Ich bin allerdings ein gemeiner Dieb, jener Mann aber ist unschuldig.« Darauf erzählte er, was in der vergangenen Nacht, von den Stadtwächtern unbemerkt, der Frau des Verurteilten von dem sterbenden Jüngling widerfahren war.

Zwei Boten, die der Richter alsbald aussandte, um die Wahrheit dieser Aussage festzustellen, kamen zurück und brachten die abgebissene Nase, die sie in dem Mund des Toten gefunden hatten. Darauf ließ der Richter der ungetreuen und lügenhaften Frau die Ohren abschneiden, ihr Gesicht schwärzen und ihr Haupt bis auf zwei Locken kahlscheren. Dann befahl er, sie auf einen Esel zu setzen und unter Trommelschlag in der Stadt umherzuführen. Der Dieb aber wurde gleichzeitig zum Oberaufseher der Stadtwächter ernannt.

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