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Dem ersten Menschenpaar wurde ein Sohn geboren, und die Freude der Eltern war groß. Als das Knäblein anfing, den Namen der Mutter zu lallen, schenkte diese einem zweiten Kinde das Leben. Da sprach der Vater zu seinem Weibe: »Möge das Brüderpaar einander so lieben wie wir beide einer den andern!«
Die Knaben wuchsen heran und wurden Gehilfen ihrer Eltern; der Erstgeborene wurde ein Ackersmann, der jüngere ein Schafhirt. Eines Tages, als der Hirte seine Herde heimtrieb, traf er auf dem Felde seinen Bruder. Er blieb stehen und redete ihn also an: »Wenn es dir recht ist, wollen wir uns vor einem großen Wunder anbetend verneigen.«
»Was ist ein Wunder?« fragte der ältere, und sein Bruder griff nach einem Getreidehalm und sprach:
»Siehe hier diesen Halm mit seinen vielen, vollen Ähren! Vor noch nicht zu langer Zeit war er ein winziges Samenkörnlein, eingebettet in den Schoß dieser dunklen Scholle zu unseren Füßen, und nun ist er emporgewachsen mannshoch gleich uns beiden, die wir aus Knaben Männer wurden. Ist das kein großes Wunder? Gesegnet sei dieses tägliche Brot!« Als er solches gesprochen hatte, glänzten seine reinen Augen. In dem Gesicht des älteren aber zuckte ein leiser Spott, und er blickte auf den jüngeren, den er überragte, herab, wie man auf ein unwissendes Kindlein herunterschaut.
Da straffte sich die schlanke Gestalt des jüngeren; er hob die leuchtenden Augen zu dem blauen Himmel, der sich über sie spannte wie ein blaues Seidenzelt, und er sprach weiter: »Komm, laß uns dem Allerhöchsten, der dieses Wunder vollbracht hat, ein Opfer bringen! Es soll zugleich ein Zeichen werden, ob wir ihm wohlgefällig sind.«
Der ältere dachte bei sich, daß es verschwenderisch sei, die Ähren des Feldes zu einem Brandopfer zu verwenden; aber er sprach den Gedanken nicht aus und erwiderte unfreundlich: »Es sei.« Darauf schichteten sie Steine aufeinander und legten darauf ihre Opfergaben, der eine von den Garben des Feldes, der andere von den Lämmern seiner Herde. Und siehe, von dem Opferstein des jüngern stiegen die Rauchwolken geradeaus gegen Himmel, von dem Opferstein des älteren aber krochen sie Schlangen gleich zur Erde.
Da verfinsterten sich die harten Züge des älteren, und als er das leuchtende Antlitz seines Bruders sah, der mit erhobenen Armen und verklärten Blicken die aufsteigenden Rauchwolken seines Opfers verfolgte, griff er zornig nach dem obersten Stein, trat rückwärts hinter seinen Bruder und erschlug ihn. Dann packte ihn Entsetzen über seine jähe Tat, und er entfloh.
Die Stammeltern aber, von den Rauchwolken angelockt, eilten hin und fanden ihren jüngeren Sohn ausgestreckt und regungslos am Boden liegen. Und sahen einen Menschen von dannen eilen, der war ihr Erstgeborener. Sie begriffen, daß etwas Unfaßbares geschehen sei. Als sie sich über den Jüngling niederbeugten, überkam sie eine nie gekannte Betrübnis. Der Vater hob ihn auf und trug ihn mit starken Armen zu dem schattigen Ölbaum, der vor seiner Hütte stand.
Als er ihn zu Füßen des Baumes gebettet hatte, erkannte er, daß das Leben aus dem Körper entwichen sei, und beider Schmerz war groß. Nach einer Weile sprach er zu seinem Weibe: »Was soll mit dem erkalteten Leibe unseres Kindes geschehen, aus dem der Odem des Lebens entflohen ist?«
Seine Gefährtin erwiderte: »Solange ich mein Kind vor mir sehe, werden meine Augen nicht trocken werden.«
Als sie dies gesprochen hatte, fiel aus einem Nest in der Baumkrone ein junger Vogel zur Erde nieder. Er bewegte noch etliche Male die kahlen Flügel, dann rührte er sich nicht mehr. Schon war die Mutter zur Stelle, nahm ihr Junges in den Schnabel und legte es dann behutsam wieder zur Erde. Dann kratzte sie mit Schnabel und Füßen ein Loch in den Erdgrund, legte das tote Tierchen hinein und scharrte die Erdkrumen wieder darauf.
Aufmerksam hatte das erste Menschenpaar dem mütterlich besorgten Vogel zugesehen; dann sprach der Stammvater zu seinem Weibe: »Wohlan, laß uns ein gleiches tun und unser geliebtes Kind der Erde übergeben!«
Und unter Tränen schaufelten sie dem ersten Toten ein Grab.
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