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Die Geschichte eines Dichters

Ein heimatloser Büßer zog vom Süden nach dem Norden des Landes, um nach seinem verschollenen Vater zu forschen. Unterwegs begegnete ihm ein Mädchen aus dem Volke, die war von ungewöhnlicher Schönheit. Zuerst wurden seine Sinne verwirrt, dann erinnerte er sich rechtzeitig der Worte Buddhas, daß die Frauen die ärgsten Fallstricke sind, die der Versucher den Menschen gelegt hat. Nach einigen Worten, die er mit ihr gewechselt hatte, entwich er wie ein Dieb. Die Jungfrau, die gleichfalls Gefallen an ihm gefunden hatte, folgte ihm. Da geriet er in Zorn, erhob einen Stein und traf sie damit an die Stirn. Weinend blieb sie zurück.

Jener besuchte hierauf alle heiligen Stätten an den Ufern des Ganges, aber seinen Vater fand er nirgends. Enttäuscht kehrte er in seine Heimat zurück. Als er eines Abends müde ein öffentliches Ruhehaus betrat, um dort zu übernachten, traf er mit einem Mädchen zusammen, die ebenfalls auf der Suche nach einem Menschen herumirrte, und dieser Mensch war er selber. Sie erblickte ihn und fiel ihm zu Füßen. Da gewahrte er die Narbe an ihrer Stirn und erkannte sie wieder. Er fragte: »Was willst du von mir?« Sie bat: »Laß mich deine Sklavin sein.« Er aber verwies es ihr und entgegnete: »Ich bin ein heimatloser Büßer; wenn du dich stark genug fühlst, die Kinder, die du mir schenkst, als Findlinge an ihrem Geburtsort zurückzulassen, dann magst du mir folgen als mein Weib.« Sie gelobte es. Sie wurde die Mutter von etlichen Kindern, die hier und dort geboren wurden. Es waren Mädchen, die sie starken Herzens aussetzte, wo sie wohlhabende und gütige Menschen vermutete. Als sie dann einem Knaben das Leben schenkte, setzte sie diesen in einen Olivenhain aus, der einen kleinen Tempel umschloß.

Die kinderlose Frau eines Brahmanen schritt um diese Zeit zu dem Tempel, um zu beten. Sie fand das Knäblein und nahm es in ihr Haus. Sie gedachte den Findling als ihr eigenes Kind aufzuziehen. Nach einigen Monaten hatten mißgünstige Verwandte ihr den Plan verleidet, und sie übergab das Kind dem Gesinde zur weiteren Pflege. So wurde der Knabe zusammen mit Lämmern und Kälbern aufgezogen. Als er herangewachsen war, trat er eines Tages vor die schöne Frau hin, die ihn in dem Olivenhain aufgelesen hatte, dankte ihr, daß sie ihn in ihr Haus aufgenommen, und brach auf nach dem Gebirge, um der Schüler eines bußfertigen Einsiedlers zu werden. Er wuchs zu einem tugendhaften Jüngling heran. Ein Spukgeist verwüstete um jene Zeit nächtlich die Felder ringsum und erwürgte das Vieh in der ganzen Gegend.

Die Bewohner des Tales baten die Einsiedler auf dem Büßerberg, ihnen beizustehen, und jene verwiesen sie an den Jüngling als den würdigsten unter ihnen. Der Jüngling zögerte nicht, schritt hinab in das Tal und bannte den Spukgeist aus der Gegend. Dankbar sprach der Dorfälteste zu ihm: »Erweise mir die Gnade, meine einzige Tochter zum Weibe zu nehmen.« Der Jüngling überlegte: Es möchte verdienstvoll sein, den frommen Männern droben und anderswo an meiner Ehe die häuslichen Tugenden zu offenbaren. Somit nahm er die Hand des Mädchens an, blieb im Tal und erlernte das Handwerk eines Leinenwebers.

Seine Frau achtete ihn und begann ihn zärtlich zu lieben. Er war inzwischen ein nachdenklicher Dichter geworden, der an jeden in dem Ort Worte der Weisheit richtete. Für die anderen, die er nicht erreichen konnte, stellte er ein Büchlein mit Lebensregeln auf. So kam es, daß ein kleiner Kreis von Jüngern sich um den armen Leinenweber sammelte. Einst saß ein solcher bei ihm und fragte: »Sage mir, was ist besser, eine Frau nehmen und einen Hausstand gründen oder Einsiedler werden?« Da entglitt dem Gefragten das Schifflein aus der Hand, und er sprach zu seiner Frau: »Bringe mir doch ein Licht, damit ich das Webschifflein finde.« Die Frau brachte sogleich das gewünschte Licht, obgleich es heller Tag war. Der Jünger begriff und sprach: »Wohlan, sollte ich eine Frau finden, die sich stets so gehorsam fügt wie die deinige, dann wäre mein häusliches Glück süßer als der Nektar des Lotus.« Der dichtende Weber erwiderte: »Süßer als Nektar schmeckt der von Kinderhändchen zubereitete Reis.«

Am andern Tag kam ein zweiter Jünger zu dem Weber und stellte dieselbe Frage. Da rief der Dichter seine Frau herein, die soeben nach dem Brunnen gegangen war, um Wasser zu schöpfen. Sogleich ließ sie den Eimer auf halbem Wege im Brunnen hängen und eilte ins Haus, um ihren Mann nach den Wünschen zu fragen. Der Jünger begriff die Lehre, der Dichter aber sprach: »Fällt dir keine Frau zu wie die meinige, dann magst du Einsiedler werden.« Seitdem stellte niemand von allen, die den Hang zur Waldeinsamkeit hatten, diese Frage an den weisen Dichter.

Das häusliche Glück des alternden Weisen hielt an, bis seine Hausfrau sich niederlegte und starb. In der Todesstunde brachte sie eine Frage über die Lippen, die ein ungelöstes Rätsel ihres häuslichen Lebens in sich schloß. Sie sprach zu ihrem Mann: »Geliebter Herr, als ich vor vielen Jahren als Euer Weib zum erstenmal den Reis zurichtete, habt Ihr mir geboten, stets einen kleinen Napf mit Wasser und Nadel daneben zu setzen. Warum doch gebotet Ihr mir solches?« Der Dichter antwortete: »Geliebte Frau, dies geschah, um etwa vom Tisch fallenden Reis aufzuheben und zu reinigen.« Da starb sie befriedigt; denn nie hatte sie in ihrer langen Ehe ein Körnlein Reis verschüttet.

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