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Der kluge Kerim

Im Lande des Ostens liegt zwischen der Stadt Ispahan und dem Städtchen Aspahan das Tal der Riesen. Dieses Tal ist der kürzeste Verbindungsweg zwischen den beiden Orten; aber niemand benützt ihn. Wollen die Aspahaner zu den Ispahanern – die Leute von Ispahan lockt es wenig nach dem kleinen Aspahan –, dann machen sie lieber einen Umweg über die offene Heerstraße; denn dort haben sie nicht die Unholde zu befürchten, die das schaurige Tal bewohnen sollen.

Wenn man die dortigen Bewohner ausforscht, hat zwar noch niemand einen dieser Riesen mit eigenen Augen gesehen; aber ihre Väter und deren Väter wußten schon von ihnen zu erzählen. Sie sollen im Aussterben begriffen sein, weil sie in jeder Familie alle Mädchen bis auf eines nach der Geburt töten, um nicht Hunger zu leiden; aber die letzten dieses Riesengeschlechtes sollen an Körperkraft und Blutgier ihre Vorfahren weit übertreffen.

Nun lebte in Ispahan ein Mensch namens Kerim, der war als klug und furchtlos bekannt. Als er eines Tages mit seinen Freunden sich über die Riesen unterhielt, entfuhr ihm der Ausruf:

»Ich getraute mir schon, durch das gefürchtete Tal nach Aspahan zu wandern, und wenn es sein muß, mitten in der Nacht.«

Da lachten ihn die Freunde aus und erwiderten:

»Wenn du das fertig bringst, wärst du mit einem Schlag der berühmteste Mann in Ispahan.« Zugleich versprachen sie ihm tausend Silberlinge, wenn er das Wagnis ausführe und mit heiler Haut zurückkehre.

In einer Vollmondnacht machte Kerim sich wohlgemut auf den Weg. Als Mundvorrat hatte er ein Ei und einen Klumpen Salz eingesteckt. Rüstig schritt er aus und war nach wenigen Stunden zwischen den beleuchteten Felsen angelangt. Nichts war zu sehen und zu hören. Mit einem Male vernahm er eine Stimme:

»Salem aleikum, Kerim von Ispahan! Du wirst dich in der Dunkelheit verirren. Laß dir von mir den Weg weisen.«

Kerim blieb stehen und rief mit frischer Stimme in die Felsen hinein: »Wer bist du?«

Die Stimme antwortete:

»Ich bin Emin von Aspahan, und bin dein Freund, weil ich ein Freund deines Vaters Kerbela bin und die Straße kenne, in der du geboren bist.«

Dann trat ein Riese mit struppigem Haar und Bart auf ihn zu und maß ihn mit lüsternen Blicken. Kerim wußte, daß es nun um sein Leben ginge. Er nahm allen Mut zusammen und rief so grob, als er vermochte:

»Du bist niemals Emin von Aspahan, dagegen ein Lügner und noch Schlimmeres. Aber das paßt mir gerade; denn solch einen Unhold suche ich schon lange, der ich in ganz Ispahan bekannt bin, daß ich es mit den wildesten Tieren und den stärksten Riesen aufnehme. Tust du mir daher das Geringste an, dann muß ich auch dich erschlagen, so leid es mir tut; denn es sollen ja aus deinem aussterbenden Geschlecht nur noch zwei am Leben sein.«

»Sieben«, berichtigte der Riese barsch.

»Ihr seid aber nicht alle sieben in diesem Tal«, erklärte Kerim aufs Geratewohl.

»Vier Riesen sind mit der letzten Riesin ausgewandert, weil wir hier nicht satt wurden«, plauderte der Riese aus.

»Es ist also nicht wahr, daß du deinen leiblichen Bruder aufgefressen hast, wie die Ispahaner behaupten?«

»Die Ispahaner sind dumme Lügner,« brummte der Riese, »mein Bruder bewacht den Taleingang bei Aspahan.«

»Das trifft sich gut«, erklärte Kerim. »Komme ich nachher mit ihm zusammen und es stellt sich heraus, daß er ein Menschenfresser ist, dann werde ich ihm alle Knochen zermalmen, weil ich mir vorgenommen habe, diese Unmenschen auszurotten.«

Der Riese blickte ihn einen Augenblick betroffen an und sprach dann lächelnd: »Sohn Adams, ich sehe nichts von deiner besondern Körperkraft.«

»Laß dir einen Beweis geben«, erwiderte Kerim, und schon hatte er einen faustgroßen Stein ergriffen. »Siehe hier: dieser Stein enthält eine besondere Flüssigkeit, von der du großer Tölpel natürlich keine Ahnung hast. Versuche, sie herauszupressen.«

Der Riese versuchte es und erklärte, dies sei unmöglich. Kerim nahm den Stein wieder in die Hand, in der er das Ei versteckt hielt, und sprach: »Gib Obacht!«

Der Riese hörte den Stein knirschen und sah im gelblichen Mondlicht, wie eine Flüssigkeit zwischen den Fingern Kerims hervorquoll.

»Wenn dir das nicht genügt, dann sieh dir diesen Stein an«, sagte Kerim und hob einen zweiten Kiesel vom Boden. »Er enthält die köstlichste Gabe, nämlich Salz. Auch davon wußtest du in deiner grenzenlosen Unwissenheit nichts. Zerbröckle den Stein zwischen den Fingern, dann wirst du es finden.«

Der Riese versuchte es, aber ohne Erfolg. Wieder nahm Kerim den Stein in die Hand, in der er den Salzklumpen versteckt hielt, zerbröckelte das Salz und ließ den Riesen kosten. Dessen Erstaunen war deutlich auf seinem Gesicht zu lesen. Kerim aber, noch dreister geworden, fuhr fort:

»Deine Unwissenheit beweist, daß du ein Menschenfresser bist.«

»Wieso?« fragte der Riese erstaunt.

»Weil alle Menschenfresser dumm sind.«

»Warum sind sie dumm?« fragte der Riese weiter.

»Weil jedes Kind in Ispahan weiß, daß ein fetter Hammel und ein gemästetes Kalb zarteres Fleisch haben als ein Mensch, der selber Tierleichen ißt.«

Da der Riese nicht minder schwerfällig an Geist wie an Körper war, beendete er das Zwiegespräch mit den kurzen Worten: »Folge mir, und sei mein Gast.«

»Ich schlage deine Gastfreundschaft nur deshalb nicht aus, weil ich dich nicht kränken will«, erklärte Kerim und folgte dem Riesen in seine Höhle. Diese war mit Lebensmitteln und Waren angefüllt, die der Riese seinen Opfern geraubt hatte.

Jener holte einen großen Sack Reis hervor, entleerte ihn in einem Kessel mit Wasser und stellte diesen auf den glimmenden Herd.

»Ich esse ihn sonst roh, ebenso wie das Fleisch, das mir leider ausgegangen ist«, erklärte der Riese und legte dabei seine breite Hand auf Kerims Arm, um unauffällig dessen Fleisch zu betasten. »Nun aber lange tüchtig zu.«

»Ich muß gestehen,« erwiderte Kerim, »daß ich kurz vor meinem Weggehen einen Hammel und dazu einen Sack Reis von dem Inhalt des deinigen zur Nacht verspeist habe und daher nicht hungrig bin.«

»Dann erlaubt, daß ich den Reis allein als Vorspeise meines nächsten Fleischgerichtes aufesse.« Und der Riese machte sich über den Reis her.

»Du wirst diese Nacht mein Gast sein«, erklärte er nach der Mahlzeit. Es klang eher wie eine Aufforderung und nicht wie eine Einladung.

»Wie du willst«, entgegnete Kerim, und der Riese machte ihm in einer Ecke aus den Kissen und Decken der geplünderten Waren ein Lager zurecht. Dann löschte er den Kienspan aus und bezog selber sein gewohntes Lager in der andern Ecke der Höhle.

Kerim hörte schon nach wenigen Minuten sein tiefes Schnarchen. Zuerst hielt er es für eine List; aber es war wirklich so. Darauf erhob Kerim sich geräuschlos. Er überlegte, ob er den günstigen Augenblick ausnützen und den gefährlichen Schlafgenossen umbringen solle. Während er noch grübelte, welche Todesart die rascheste und sicherste sei, erwachte der Riese.

Kerim hatte gerade noch Zeit, hinter dessen Lager zu schlüpfen. Er hörte, wie der Riese unter sein Kopfkissen griff, nach seinem Lager schlich und einen wuchtigen Hieb nach der Stelle führte, wo er den Kopf seines Gastes vermutete. Als kein Laut hörbar wurde, ließ der Riese ein befriedigtes Grunzen vernehmen. Um seiner Sache gewiß zu sein, teilte er noch sechs weitere Schläge aus. Dann streckte er sich wieder auf sein Lager hin. Nun schlich auch Kerim wieder auf sein Lager zurück und rief:

»Lieber Gastgeber, warum surren denn die Fliegen noch nachts in deiner Höhle umher?«

Der Riese traute seinen Ohren nicht; Kerim aber fuhr fort:

»Siebenmal schlug solch ein Ruhestörer seine Flügel an mein Gesicht.«

Der Riese wußte, daß einer seiner Keulenschläge genügt hätte, um einen Stier zu töten. Jetzt wurde ihm wirklich Angst vor diesem Menschen, der Steine zwischen den Fingern zerbröckelte und seine Keulenhiebe wie die Berührung einer Fliege empfand. Wenn dieser unheimliche Gast frühmorgens die menschlichen Knochenreste entdeckte, würde er ihm zweifellos alle Knochen im Leibe zermalmen, wie er den Stein zerbröckelt hatte.

»Ich will mich aus dem Staube machen«, murmelte er, »und meinen stärkeren Bruder aufsuchen. Er soll mir helfen, diesen gefährlichen Menschen umzubringen.« Mit diesen Worten schlich er mitten in der Nacht davon.

Kerim rechnete aus, daß die Riesen vor sechs Stunden nicht zurück sein könnten. Darum getraute er sich, einige Stunden zu schlafen. Dann erhob er sich und hielt in der Höhle Umschau. Als er die aufgehäuften Schätze erblickte, freute er sich sehr. Eilends kehrte er nach Ispahan zurück, weckte den Statthalter auf und sprach zu ihm:

»Übergib mir sogleich zwölf deiner besten Häscher mit den schnellsten Reittieren, und ich verspreche dir, die beiden letzten Riesen aus dem gefürchteten Tal der Menschenfresser tot oder lebendig auszuliefern.«

Der Statthalter lächelte ungläubig, willfahrte aber seiner Bitte. Bevor noch der Morgen graute, ritt Kerim mit den Häschern in das Felsental und versteckte die Reiter mit den Tieren in der Riesenhöhle. Er selber streckte sich wohlig auf dem Lager des Riesen aus und erwartete die kommenden Geschehnisse.

Wie zu erwarten war, erschien in den ersten Morgenstunden der Riese mit seinem stärkeren Bruder, der ihn um mehr als Haupteslänge überragte. Die beiden waren mit mächtigen Keulen bewaffnet. Als sie Kerim auf dem Lager erblickten, rief der größere mit grausamem Grinsen:

»Warte nur, du armseliges Menschlein, dich wollen wir gemeinsam um die Wette zerbröckeln!« Und sie stürzten sich wie reißende Wölfe auf Kerim. Aber schon hatten zwölf Paar Fäuste sie von rückwärts gepackt und niedergeworfen. Im Nu waren sie an Händen und Füßen mit Kugeln und Ketten gefesselt, die selbst Elefanten nicht zu sprengen vermocht hätten.

Sie wurden samt den geraubten Waren nach Ispahan gebracht. Der Statthalter ließ sie sofort enthaupten. Der kluge Kerim erhielt von seinen Freunden die versprochenen tausend Denare, und der Statthalter überließ ihm die Hälfte der von den Riesen erbeuteten Waren. Zeitlebens wurde Kerim von den Ispahanern und Aspahanern als kluger und kühner Mann gefeiert.

*

 


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