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Die Hexe

Ein reicher Jüngling sprach einst zu seinen Eltern: »Keine der Jungfrauen dieser Stadt erregt mein Gefallen, so daß ich eine zur Frau begehre; darum erlaubt mir, in die Fremde hinauszugehen, um dort die euch passende Schwiegertochter zu suchen.« Seine Mutter erwiderte: »Wenn du draußen so wählerisch bist, als du es in deiner Vaterstadt gewesen bist, dann magst du wohl ohne die gesuchte Braut heimkehren.« Und sein Vater fügte hinzu: »Ich fürchte, daß die Rede deiner Mutter dem Regen gleicht, der auf eine Sandwüste fällt, und ich bedauere, dich nicht in deiner Kindheit der Landessitte gemäß einem Mädchen anverlobt zu haben.« Diese Worte schmerzten den Jüngling, und er senkte die Augen. Der Vater sprach weiter: »Willig lassen wir dich ziehen, wenn du mir gelobst, bei deiner Heimkehr eine Jungfrau dieser Stadt, die mir eine zweite Heimat geworden ist, alsbald zur Frau zu nehmen, wofern du draußen in der Fremde die gesuchte würdige Braut nicht findest.« Darauf gelobte der Jüngling seinen Eltern feierlich: »Die erste Jungfrau, die mich draußen mit wahrer Zuneigung beseelt, werde ich zur Gattin begehren, wer immer sie auch sei, falls sie wert ist, eure Tochter zu werden.«

Hierauf ritt er von dannen, begleitet von einem treuen Diener und mit reichen Geldmitteln versehen. Auf seiner Wanderung kam er in eine fremde Stadt, in der ein Vollmondfest gefeiert wurde. Er stellte sich auf dem Marktplatz unter die Menge und betrachtete das Tanzspiel, das von sieben Männern und sieben Frauen vor dem Statthalter aufgeführt wurde. Seine Augen erfreuten sich an den glitzernden, gleitenden Gestalten, die aus behender Geschmeidigkeit blitzschnell zu feierlicher Ruhe erstarrten.

Dann erstaunte er über zweierlei: unter den Frauen war eine rehäugige Jungfrau, die tanzte so lieblich, wie er es niemals von einem Menschen beobachtet hatte, und zudem war sie die schönste der sieben Frauen. Über die Anmut ihrer Züge und ihres Tanzes staunte der Jüngling. Der Statthalter aber auf seinem erhöhten Sitz hatte so strenge Züge, wie er sie noch niemals bei einem Menschen beobachtet hatte, und weder das Tanzspiel noch die Begleitmusik schien ihn zu erfreuen. Darüber mußte der Jüngling ebenfalls staunen.

Jene Tänzerin, die der Fremdling vornehmlich bewunderte, trug einen Schleier, darin waren ungezählte Goldsterne eingewebt. Ein Nebenstehender erklärte ihm auf Befragen: »Diese Tänzerin ist die Tochter eines berühmten Sterndeuters aus dieser Stadt; darum trägt sie bei dieser Feier ihren vielbewunderten Sternenschleier.« Und der Jüngling, von einer heftigen Neigung erfaßt, begehrte das schöne Mädchen zum Weibe.

Als die Tochter des Sterndeuters am nächsten Tage in dem ausgedehnten Garten ihres Vaters allein umherwandelte, hielt der Jüngling sich hinter einem Busch verborgen wie eine Eule in ihrem Versteck. Dann trat er kühn hervor und bewarb sich um die Jungfrau. Weil er aber seine Werbung in ungeschickte Worte kleidete, reizte er ihre Lachlust, und da sie zudem kein Gefallen an ihm fand, wandte sie sich ab. Als der Werber dann anhub, auf seinen Reichtum zu pochen, wurde sie unwillig; denn ihr Vater war durch seine Künste selber ein vermögender Mann geworden. Im Übermaß der Leidenschaft war der Jüngling entschlossen, das Mädchen mit Gewalt zu entführen, eingedenk des Gelöbnisses, das er seinen Eltern abgelegt hatte. Aber sie entwand sich seinen Händen wie eine Antilope und ließ den Sternenschleier, der ihre Schultern bedeckte, in seiner Hand zurück. Der Jüngling entwich ebenfalls, aus Besorgnis, bestraft zu werden.

Scham und verletzter Stolz kämpften gegen seine Leidenschaft und durchglühten ihn wie brennendes Feuer. Ein verwegener Plan reifte während der schlaflosen Nacht in seinem erregten Herzen. Am andern Morgen erschien er vor dem Statthalter und sprach: »Herr, erweise mir, einem Fremdling, die Gnade, dich warnen zu dürfen. Vernimm dies: Vergangene Nacht habe ich vier Hexen bei ihrer Zusammenkunft belauscht. Als ich die gefährlichste unter ihnen ergreifen wollte, entwand sie sich meinen Händen und ließ diesen Schleier zurück. Außerdem habe ich drei Nägeleindrücke vorn an ihrer Brust hinterlassen; daran wird sie überführt werden.« Da verfinsterten sich die strengen Züge des Statthalters. Er ließ den Hauptmann der Leibwache kommen und sprach: »Seit altersher werden die Hexen, sobald man ihrer habhaft wird, in die Höhle vor dem Stadttor geworfen. Wenn die Besitzerin dieses Schleiers auch jung und schön sein sollte, möge sie die gleiche Strafe erleiden.«

Der Hauptmann entgegnete: »Herr, in dieser Stadt trägt nur eine Frau einen solchen Schleier, und zwar die Tochter des Sterndeuters.« Und der Statthalter entschied: »Dann soll sie die Strafe der Hexen treffen, wenn die Nägeleindrücke an ihrem Hals sie überführen.« Das Mädchen wurde dem Richter überliefert und der Schleier als ihr Eigentum festgestellt. Zudem fanden sich drei Nägeleindrücke an ihrem Halse vor. Alsbald wurde sie hinausgeführt auf die Anhöhe vor dem Stadttor und dort in die Höhle geworfen.

Da geschah etwas Seltsames: während die Menschen droben wähnten, die jugendliche Hexe liege tödlich verletzt im Höhleninnern, war drinnen ein Jüngling gestanden, der hatte die Bewußtlose geschickt in seinen starken Armen aufgefangen. Als es Nacht geworden war, kletterte dieser Mann an einer Strickleiter wieder hinauf, und in den Armen hielt er die, welche er liebte. Droben harrte mit den Reittieren sein treuer Diener, und beim Morgengrauen langten die beiden windschnellen Reiter in der Heimat des reichen Jünglings an.

Das geraubte Mädchen vermochte die Neigung des verwegenen Jünglings nicht zu erwidern. Er flehte sie an, ihm die gewaltsame Entführung zu vergeben und erzählte ihr von dem Schwur, den er geleistet hatte, daß er die erste Jungfrau, die ihn mit Liebe beseele, als seine Gattin heimführen werde. Seine Eltern bestätigten das Geständnis, rühmten ihren Liebreiz und führten sie durch die schönen Gemächer, die sie für die Schwiegertochter hergerichtet hatten. Da hörten ihre Tränen auf zu fließen. Sie hielten Hochzeit und wurden später eins wie Fleisch und Nagel an demselben Finger.

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