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Der Statthalter und der Dieb

In einer Stadt wurden nachts fortgesetzt Diebstähle begangen. Namentlich die Basare wurden von den verwegenen Einbrechern heimgesucht. Deshalb erschienen die Kaufleute der Stadt, geführt von den angesehensten unter ihnen, vor dem Statthalter und sprachen: »Verdopple die Nachtwachen, weil wir durch die ständigen Diebereien geschädigt werden. Andernfalls erlaube uns, die Stadt zu verlassen und uns anderwärts anzusiedeln, wo unsere Basare vor Dieben gesichert werden.« Der Statthalter fügte sich ihrem Willen, aber die Diebstähle ließen nicht nach.

Ein zweites Mal erschien die Abordnung der Kaufleute und erhob eindringlicher als zuvor Beschwerde wegen der nächtlichen Unsicherheit. Über diese Mißstände erzürnte nun auch der Statthalter heftig, und er versprach den Kaufleuten bei allem, was ihm heilig war, Abhilfe. Als es Nacht wurde, ergriff der Statthalter Schwert und Schild und machte sich verkleidet und unbemerkt zu Fuß auf den Weg in das Basarviertel der Stadt.

Als er das Viertel erreicht hatte, stieß er an einer Straßenecke mit einem Menschen zusammen, der gleich ihm mit einem Schwert umgürtet war. Er redete ihn an mit den Worten: »Wer bist du?« Der andere erwiderte: »Ich bin ein Dieb, und wer bist du?« Der Statthalter antwortete: »Ich bin ebenfalls ein Dieb.« Dies belustigte den andern, welcher der unfindbare Einbrecher war, und er lud den vermeintlichen Diebsgenossen ein, mit ihm gemeinsam zu stehlen.

Darauf sprach der Statthalter zu ihm: »Wisse, ich kenne mich in dem bessern Viertel der Vornehmen aus, das dir wohl nicht bekannt ist. Zu zweien getraue ich mich dorthin, und wir werden drüben bessere Diebesbeute finden als hier bei den Kaufleuten. Willst du, so führe ich dich hin.« Der Dieb war damit einverstanden, und der Statthalter führte ihn auf Umwegen durch viele Straßen und Seitengassen bis zur rückwärtigen Gartenmauer seines Palastes.

Als sie dort angelangt waren, sprach der Statthalter zu seinem Begleiter: »Erklettern wir diese Mauer. Dahinter sind Berge von Kostbarkeiten, zu denen ich den Weg weiß.« Der Dieb begann hinaufzuklettern, aber der Statthalter packte ihn, hatte ihn rasch überwunden und band ihm die Hände auf dem Rücken. Dann schlug er laut mit dem Schwert auf den Schild und übergab den Dieb den herbeieilenden Wächtern.

Am andern Morgen ließ der Statthalter den Verbrecher baden, mit prächtigen Gewändern bekleiden und auf einem Reitkamel unter Trommelschlag in den Straßen umherführen, nach jenem Platz, wo ein Richtpfahl für ihn aufgerichtet war. Da begab sich etwas Seltsames: vor dem Hause, wo der Kaufmann wohnte, der als der angesehenste von allen vor dem Statthalter Beschwerde geführt hatte, hielt auf Geheiß des Statthalters der Zug eine geraume Weile. Die Tochter des Kaufmanns vernahm drinnen den Lärm auf der Straße, hörte die Stimme eines Ausrufers und fragte ihre Dienerin nach der Ursache. Diese eilte hinaus, kam zurück und meldete: »Der Statthalter hat heute nacht mit eigener Hand den Dieb ergriffen, der in letzter Zeit die nächtlichen Einbrüche verübt hat. Er läßt ihn herumführen; alsdann soll er gespießt werden.«

Darauf eilte die Kaufmannstochter ebenfalls vor die Tür des Hauses, um jenen Menschen zu betrachten. Bei seinem Anblick war sie wie verzaubert von seiner männlichen Schönheit. Sie eilte zu ihrem Vater und sprach: »Dieser Mensch hat mich verzaubert mit seiner Verwegenheit, Jugend und Schönheit; wenn ich ihm nicht angehören darf, dann werde ich weder essen noch trinken, bis mein Leben zu Ende ist.« Über diese Rede entsetzte sich der Vater, weil er darin das Walten eines bösen Dämons erblickte, und fragte: »Was kann ich tun?« Das Mädchen antwortete: »Biete dem Statthalter dein ganzes Vermögen an zugunsten derer, die jener Dieb bestohlen hat, und er wird ihm das Leben schenken.«

Weil sie sein einziges Kind war, das er liebhatte, ging der Kaufmann zu dem Statthalter und sprach: »Herr, nimm mein Vermögen zugunsten derer, die jener Mensch geschädigt hat, ihn aber gib frei!« Der Statthalter war nicht zu bewegen, den Menschen zu begnadigen, und der Kaufmann berichtete dies seiner Tochter. Darauf versank diese in ein tiefes Meer des Erleidens und sprach: »Ich will hinauf zum Richtplatz gehen, einen Scheiterhaufen errichten lassen und mich in dessen Flammen opfern.«

Sie holte ihren Schleier und schritt hinaus. Auf der Schwelle des Hauses verweilte sie, und ihre Lider wurden starr wie die einer Bildsäule. Sie kauerte nieder, verhüllte das Haupt, und es ereilte sie der Tod.

Inzwischen war der Zug am Richtplatz angelangt. Dort ergriffen die Henker den Verurteilten und schleppten ihn an den Pfahl. Alles Volk, das zugegen war, unterhielt sich über das, was soeben in dem Hause des Kaufmanns und des Statthalters geschehen war. Als die Kunde von den seltsamen Geschehnissen auch zu den Ohren des Verurteilten drang, lachte er und sprach dann zu sich selber: »Unerforschlich sind die Handlungen der Gottheit: in der Stunde des Todes narrt mich die Liebe, die ein tugendhaftes Mädchen plötzlich für mich empfindet.« Dann aber begann der Verbrecher zu weinen, weil er überlegte, daß er sowohl dem Vater als auch seiner Tochter ihre Handlungsweise niemals werde vergelten können. Während dieser Betrachtungen machten die Henker seinem Leben ein Ende.

*

 


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