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Die umstrittene Börse

Vier Kaufleute hatten zusammen die Summe von tausend Goldstücken gewonnen. Sie steckten sie in eine Börse und gingen hin, um Waren zu kaufen. Da erblickten sie auf der Straße einen schönen Garten, traten ein und ließen die Börse in Obhut der Hüterin des Gartens. Und sie durchwanderten den Garten, aßen und tranken und waren fröhlich, und einer von ihnen hub an zu sprechen: »Ich habe wohlriechende Stoffe bei mir; kommt, laßt uns das Haupt waschen dort in dem fließenden Wasser und es salben mit kostbaren Spezereien.« Und der andere sagte: »Wir benötigen ein Linnen, um uns abzutrocknen.« »Verlangen wir es von der Hüterin des Gartens,« sagte der dritte, »sie wird vielleicht eins haben.«

Und nachdem er dies gesagt hatte, erhob er sich, ging zur Hüterin des Gartens und sagte: »Gib mir die Börse!« Jene aber antwortete: »Ich werde sie dir geben, wenn ihr alle vier zugegen seid und deine anderen Genossen mir auftragen, sie dir zu geben.«

Die anderen waren an einer Stelle, wo die Wärterin sie sehen und hören konnte. Und der Kaufmann rief seinen Begleitern zu: »Sie will mir nicht geben, was ich von ihr verlange!« Jene riefen zu dem Weib hinüber: »Gib es ihm!« Und als sie diese Worte gehört hatte, gab sie ihm die Börse, und der Kaufmann schlich davon.

Als seine Genossen müde waren, auf ihn zu warten, kamen sie zur Wärterin und sagten: »Weshalb wolltest du ihm nicht das Linnen geben?« Das Weib antwortete: »Er hat nicht ein Linnen von mir verlangt, wohl aber die Börse; und ich wollte sie ihm nicht geben ohne eure Einwilligung. Ihr habt gerufen: Gib sie ihm! und ich gab sie ihm. Darauf ging er hurtig von dannen.«

Als die Kaufleute die Worte der Wärterin gehört hatten, rauften sie sich die Haare, ergriffen das Weib bei den Händen und sagten: »Wir haben dir nur die Erlaubnis gegeben, ihm das Linnen zu geben.« Das Weib antwortete: »Er sprach kein Wort von einem Linnen.«

Und die Kaufleute ergriffen sie und führten sie zum Richter, und diesem setzten sie den Fall auseinander. Der aber befahl dem Weib, die Börse zurückzuerstatten und erlaubte den Gläubigern, sich ihrer Sachen als Pfand zu bemächtigen. Solches hörte das Weib in tiefer Bestürzung und kehrte weinend nach Hause zurück.

Da begrüßte sie ihr Kindlein von fünf Jahren und fragte: »Was fehlt dir, Mutter?« Sie aber antwortete nicht und weinte weiter. Da wiederholte das Kindlein ein zweites und drittes Mal die Frage, und das Weib erzählte ihm alles, was sich ereignet hatte. Und das Kindlein sprach: »Gib mir ein Geldstück, um mir Süßigkeiten zu kaufen, und ich werde dir ein sicheres Mittel angeben, deine Sache zu gewinnen.« Die Wärterin gab ihm das Geld und sagte: »Und nun, mein Liebling, sprich.« Und das Kind sprach: »Kehre zurück zum Richter und sage ihm, daß du mit den Kaufleuten vereinbart hast, die Börse nur dann zurückzugeben, wenn alle vier zugegen seien.«

Und die Wärterin kehrte zurück zum Richter und sagte ihm, was das Kindlein ihr geraten hatte. Dieser ließ die drei Händler kommen und fragte sie, ob sie solches mit dem Weib vereinbart hätten. Sie antworteten: »Ja.« Darauf sprach der Richter zu ihnen: Kehret also alle vier zurück, und ihr werdet die Börse haben.« So blieb die Wärterin ohne jeglichen Schaden.

*

 


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