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Der König Haritschandra war einst auf der Jagd, als er im Dickicht Hilferufe vernahm. Wie er hinzueilte, sah er, daß böse Dämone kreischend auseinanderstoben, und er erblickte einen Einsiedler, der zürnend nähertrat. Der Greis schalt den fremden Jäger, weil er ihn in seiner Bußübung gestört hatte, und er verlangte von ihm ein entsühnendes Opfer. Der König entgegnete: »Ich opfere dir willig Land und Habe, Leib, Weib und Kind, wenn ich mich dadurch entsühnen kann.« Denn er hatte eine fromme Scheu vor dem zornigen Fluch eines heiligen Büßers. Allein seine unbegrenzte Bereitwilligkeit mußte den Verdacht erwecken, als ob sie nicht aufrichtig gemeint sei. Darum erwiderte der heiligmäßige Greis: »Wohlan, du versprichst viel, geradezu alles, was dir gehört. So wisse: ich nehme dich beim Wort und nehme dir dein Land und deine Habe und lasse dir Leib, Weib und Kind, wenn du durch Bettel die Opfergabe aufbringst, die ich von dir verlange.«
Der Fürst beugte das Haupt und murmelte: »Ich habe mein Königswort verpfändet. Es sei.« Darauf schritt er heim, ließ drei Büßergewänder holen, legte das eine selber an und befahl seinem Weib, für sich und ihr Söhnchen das gleiche zu tun. Sie tat nach seinem Befehl, und sie verließen beim sinkenden Tag den Palast und begaben sich unerkannt auf den Bettelgang außerhalb der Stadt. Es traf sich aber, daß die Menschen in einigen Orten erfuhren, wer die Bettlerfamilie sei und daß dann die Gaben für sie reichlicher flossen. Darauf erschien der heilige Büßer wiederum vor dem König und sprach in strengem Ton: »Ich befehle dir, außer Landes betteln zu gehen; denn ich fürchte, daß deine ehemaligen Untertanen, wo sie dich erkennen, gegen mich, ihren nunmehrigen Gebieter, sich auflehnen werden.« In frommer Scheu vor dem zornigen Fluch des heiligmäßigen Mannes folgte der König dem Befehl.
Dann nahte der Tag, an dem der König sich verpflichtet hatte, die verlangte Opferspende zu entrichten. Da nahm der König seine Gattin beiseite und sprach zu ihr leise, damit das Kind es nicht hören sollte: »Der Fluch des heiligen Büßers wird uns wohl vor Sonnenuntergang treffen; denn ich muß ihm eingestehen, daß ich das verlangte Lösegeld nicht aufbringen konnte.« Und sein Weib entgegnete ihm: »Sei guten Mutes; verkaufe mich als Sklavin; denn siehe, ich habe meine Pflicht als Gattin erfüllt, du aber hast dein Manneswort noch einzulösen.« Der König war nicht dazu zu bewegen; als sie aber weiter in ihn drang, fügte er sich ihrem Willen und verkaufte sie auf dem Marktplatz an einen alten Brahmanen, dessen Frau die häuslichen Arbeiten nicht mehr verrichten konnte, um siebzig Goldmünzen.
Als das Söhnchen sah, wie seine Mutter weggeführt wurde, lief es ihr schreiend nach, und der König bat den Alten: »Kaufe mir auch noch den Knaben ab; denn er wird ohne seine Mutter sterben.« Da gab der Alte ihm noch dreißig Goldmünzen dazu und ging mit Mutter und Kind davon. Während der König in einem Winkel kauerte und das gesammelte Geld seinem Bastgürtel entnahm, um es zu zählen, stand der heilige Büßer vor ihm, und demütig reichte der König ihm alles, was er bisher zusammengebracht hatte. Der Greis zählte es und sprach dann nur dies: »Dein Sühnegeld beträgt das Zehnfache dieser Summe, und bis Sonnenuntergang bist du es schuldig.«
Da stellte der König sich entschlossen auf den Marktplatz inmitten der Käufer und Verkäufer und rief: »Wer wünscht einen kräftigen Sklaven zu kaufen? Hier steht er.« Und es trat der Henker der Stadt, mit den Abzeichen seines Gewerbes behangen, auf ihn zu, betrachtete ihn prüfend und sprach: »Ich zahle tausend Goldstücke für dich, weil ich erkenne, daß du ein brauchbarer Sklave bist.« Da entsetzte der König sich, daß er der Knecht eines Ausgestoßenen werden sollte. Wiederum stand der heilige Greis vor ihm und redete ihn an: »Warum weisest du das Geld zurück?« Der König aber bat ihn: »Laß mich lieber dein Sklave sein und dadurch meine Schuld abtragen.« Darauf wandte der Greis sich an den Henker mit den Worten: »Nimm diesen Menschen, der sich mir verschrieben hat; ich verkaufe ihn dir um tausend Goldstücke.« Und der König zauderte nicht länger und folgte dem neuen Herrn als Henkersknecht, und er litt schweigend Hunger und harte Behandlung.
Eines Tages bei sinkender Sonne sprach der Henker zu ihm: »Gehe auf den Begräbnisplatz und errichte den Holzstoß für den nächsten Verstorbenen« (denn jener Mensch war zugleich der Totengräber). Als der König hinausging, um die Arbeit zu verrichten, sah er eine Frau näherkommen, die trug ihr totes Söhnchen im Arm, das hatte eine Schlange beim Spiel gebissen. Sie erkannte den Mann, der müde auf einem Grabhügel saß und reichte ihm das tote Kind hin. Wie der Mann das Kind sanft neben sich bettete, da erkannte auch er das Knäblein und seine Mutter, und weinend sanken die Eltern sich in die Arme.
Dann sprach der König zu seinem Weibe: »Ich will mich mit meinem Kind verbrennen lassen; du aber diene treu deinem Herrn weiter, bis die Gottheit uns wieder vereint.« Wer seine Gattin erwiderte: »Ich will mit dir zusammen sterben, wie ich mit dir zusammen gelebt habe.« Hierauf errichteten sie den Holzstoß für das Kind, betteten seine Leiche darauf und neigten das Haupt zu einem letzten Gebet.
In diesem Augenblick wurde die Nacht hell wie lichter Tag. Geführt von dem Heiligen, der die Opfergabe von dem König verlangt hatte, erschien aus der Höhe der mächtige Herr des Himmels und sprach zu dem König: »Sei gesegnet, du starker Dulder! Ich will, daß du mit deinem Weib lebendigen Leibes zu mir eingehest in die Herrlichkeit des Himmels.«
Da sank der König in die Knie und entgegnete: »Herr, ein Henker ist Herr meines Lebens, und mein Weib hier ist die Sklavin eines Brahmanen.« Und der Gott der Gerechtigkeit trat vor und sprach zu dem König: »Ich war jener Henker und zugleich jener Brahmane, denen ihr verkauft wurdet. Ihr habt beide die auferlegte Prüfung bestanden.« Weiter fragte der fromme König: »Was soll aus meinem Lande werden, wenn es ohne den vorgesetzten Herrscher ist?« Da schüttete die Gottheit einige Tropfen von dem Trank des Lebens auf den toten Knaben, und sogleich stand dieser auf den Füßen und umarmte seine beglückten Eltern. »Siehe hier deinen würdigen Nachfolger, der mit deinem Thron deine hohen Tugenden erben soll.«
Und wiederum folgte ein gewaltiges Schauspiel: ein goldener Wagen schwebte auf einer Wolke hernieder, nahm den starken Dulder und sein Weib auf und trug sie beide nach den Gefilden der Seligen.
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