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Helokander

Diese Erzählung erschien zuerst in den »Münchener Künstler-Bilderbüchern« des Verlages Georg W. Dietrich. München.

Es lebte einst ein König, der hatte zwei Söhne. Der ältere war nach dem Recht der Erstgeburt zu seinem Nachfolger bestimmt. Der jüngere, welcher Helokander hieß, grämte sich, weil die Königswürde ihm versagt blieb. Doch redete er zu niemand darüber.

Als der König ein silberhaariger Greis geworden war, faßte er den gleichen Entschluß, den seine Vorfahren ausgeführt hatten: er übergab den Thron seinem ältesten Sohn und entsagte allen Würden. Dann kleidete er sich in ein Büßergewand und zog sich in einen Einsiedlerwald zurück, den schon eine Anzahl frommer Greise bewohnte. In einer Schilfhütte verbrachte er den Rest seines Lebens. Seine Nahrung bestand aus Büffelmilch, wildem Reis sowie aus Beeren und Früchten des Waldes.

Eines Tages suchte Helokander seinen Vater auf. Er beklagte sich über sein tatenloses Leben und sprach zu dem Vater: »Gib mir einen Rat, der unserm Geschlecht zum Ruhme und mir zum Heile gereicht. Das untätige Leben frißt an meiner Jugend wie die Raupe an einem jungen Blatt.«

Da erhob der Greis die Rechte und erwiderte langsam und feierlich: »Die Schönheit einer Blume ist ihr Duft, die Schönheit eines Vogels ist sein Gesang, die Schönheit eines Jünglings ist Mut in allen Dingen.«

»Wohlan,« sprach der Königssohn, »dann will ich hinausziehen in die Welt und eine mutige Tat vollbringen. Sie soll meinen Ahnen und mir zur Ehre gereichen.«

Darauf segnete ihn der Vater, und Helokander zog hinaus in die weite Welt. Er wanderte ostwärts, der aufgehenden Sonne entgegen, und gelangte endlich bis ans Meer. Staunend bewunderte er dessen erhabene Schönheit. An der Küste lag mit geblähten Segeln ein Schiff verankert. Helokander erkundigte sich nach dem Besitzer. Er erfuhr, daß es gerade fertig geworden war und noch keinen Käufer gefunden hatte.

Da kaufte Helokander das Fahrzeug mit dem Goldschatz, den sein Bruder beim Abschied ihm übergeben hatte. Dann warb er einige Männer zur Bedienung des Schiffes und segelte fröhlich hinaus in das tiefblaue Meer.

Wie er am Bug des Schiffes stand, erblickte er einen Delphin mit feuerroten Flossen, der beständig vor dem Schiff einherschwamm, als ob er ihm den Weg weisen wolle.

Helokander befahl den Schiffsknechten, dem Fisch zu folgen. Es begab sich, daß sie nach einer flinken Fahrt, die ein erfrischender Wind beflügelte, an einer waldigen Küste landeten.

»In diesem Lande, wohin der leuchtende Delphin mich geführt hat, will ich mein Glück versuchen«, sprach Helokander zu sich selbst. »Möge es eine mutige Tat sein!«

Am andern Morgen beschenkte er seine Gefährten reichlich, übergab ihnen obendrein das Schiff als ihr gemeinsames Eigentum und entließ sie in ihre Heimat.

* * *

Nachdem der Königssohn von seinen Gefährten Abschied genommen hatte, begab er sich von der menschenleeren Küste in das Innere des Landes. Er bestaunte die Wälder, durch die er schritt, lauschte dem Vogelgezwitscher in den Zweigen, freute sich über die Blumen zur Rechten und Linken, und dazwischen labte er sich an den Früchten und Waldbeeren ringsum.

»Wann werde ich wohl einem Bewohner dieses Landes begegnen?« fragte sich Helokander. Kaum hatte er sich diese Frage gestellt, da erblickte er eine erhöhte Lichtung im Walde. Er wandte sich dorthin und gewahrte nach einer Weile einen kahlköpfigen Greis, der auf einem Stock einherhumpelte.

Der Königssohn verneigte sich voll Ehrfurcht vor dem schier hundertjährigen Alten. Das dürftige Gewand, das die knöcherne Gestalt bedeckte, erregte Helokanders Mitleid. Er entnahm seinem Gürtel ein Goldstück und reichte es dem Greise. Dieser wies die Gabe mit mildem Lächeln zurück. Die Hand des Jünglings hielt er in der seinen und sprach freundlich zu ihm: »Sei bedankt, du freigebiger Jüngling; aber behalte das Almosen, weil ich dessen nicht bedarf. Was ich an Nahrung brauche, gibt mir der Wald. Ich bin kein Armer. Nur jene, die mehr bedürfen, als sie besitzen, sind arm.«

»Ich danke dir für diese Weisheit«, sprach der Königssohn. Der Greis fuhr fort: »Ich möchte dich nicht weiterziehen lassen, ohne dir für diese Wohltat gedankt zu haben, die du mir zugedacht hast. So höre denn: Vor einiger Zeit erblickte mich an dieser Stelle ein anderes junges Menschenkind. Es war eines Königs Tochter. Ihr Vater hatte sie mit auf die Jagd genommen. Sie betrat durstig meine Waldhütte, verschmähte aber den Labetrunk aus der Rindenschale, weil ich sie täglich an meinen zahnlosen Mund führe. Dabei belustigte sie sich über meine Häßlichkeit und insbesondere über meinen Kahlkopf. Alsbald traf sie die verdiente Strafe. Ein Zauberer erschien und entführte sie nach einem unbekannten Versteck.«

»Fürwahr, eine harte Strafe!« sprach mitleidig Helokander. Der Greis aber fuhr fort: »Wohl haben einige beherzte Jünglinge das ganze Land nach der verschwundenen Königstochter durchforscht; aber keinem ist es bisher gelungen, ihren Aufenthalt ausfindig zu machen, obwohl ihr Vater dem Retter reichen Lohn verheißt. Jeder weiß, daß er bei dem mächtigen Zauberer sein Leben verwirkt hat, sobald der Befreiungsversuch mißglückt.«

Als Helokander solches vernommen hatte, leuchteten seine Augen wie blinkende Sterne, und er rief aus: »Jetzt gilt es, eine mutige Tat zu vollbringen! Ich werde nicht rasten noch ruhen, bis ich die unglückliche Königstochter befreit habe. Sollte ich mein Vorhaben mit meinem Leben bezahlen, dann habe ich es für eine gewollte schöne Tat hingegeben.«

Nach diesen Worten verließ er den Greis, und seit diesem Tage durchstreifte Helokander das Land nach allen Richtungen. Er gelangte in Städte und Dörfer, kam in die entlegensten Gegenden, wo die Ansiedlungen fehlten, und suchte auf Bergen und in Tälern. Er fragte die Menschen, wo immer er mit ihnen zusammentraf, ob jemand ihm eine Spur von dem Zauberer angeben könne. Alles Suchen und Nachforschen aber blieb ohne Erfolg.

Schon überkam den Jüngling eine leise Verzagtheit. Er fragte sich, ob der Zauberer wohl die Königstochter über das Meer in ein jenseitiges Land entführt habe.

Eines Tages durchwanderte er ein einsames Felsental. Dort traf er mit einem Ziegenhirten zusammen, dessen Tiere die kümmerlichen Sträucher und dürren Gräser benagten. Als Helokander auch diesen nach dem Zauberer fragte, rief der Ziegenhirt: »Wärest du nur früher zu mir gekommen! Du hättest dir viele Umwege ersparen können.«

Dann wies er mit dem Stecken nach einer Felskuppe, die im Abendrot erglühte, und sprach: »Siehe droben auf dem Berge die niedrige Felsenburg aus grauem Gestein wie die Felsen ringsum. Dies ist die Behausung eines Zauberers. Wir Hirten hier drunten im Tal haben von ihm nichts zu befürchten; denn wir sind die Ärmsten der Armen. Darum tut der Zauberer droben uns nichts zuleibe. Wenn aber ein Fremdling in diesem Felsgelände erscheint, und seine Neugier verleitet ihn, die geheimnisvolle Felsenburg aus nächster Nähe zu sehen, dann warnen wir allemal; denn noch keinen sahen wir von der Bergeshöhe in dieses Tal zurückkehren.« »Ich werde trotzdem mein Leben wagen,« sprach Helokander, »denn ich glaube bestimmt, daß der Zauberer droben derselbe ist, der die Königstochter geraubt hat.«

* * *

Entschlossen machte Helokander sich auf den Weg. Inzwischen war es Nacht geworden. Ungezählte Sterne funkelten am Himmel, als er auf der Höhe anlangte. Hinter einem schützenden Strauch versteckt, überlegte er, was zu tun sei. Er wurde doch ein wenig beklommen, als er bedachte, daß der Zauberer jeden Augenblick erscheinen und ihn für seine Neugier mit dem Tode bestrafen könne. Er redete sich selbst Mut zu, indem er sich sagte, daß es nicht bloße Neugier, sondern Mitleid sei, das ihn zu diesem Wagnis antreibe. Mitten in diesen Betrachtungen vernahmen seine geschärften Ohren eine zarte Mädchenstimme. Kaum vernehmbar sang eine Unsichtbare diese klagenden Worte:

Wieder naht die eine Stunde,
Wo gelöst der Zauberbann,
Und es kommt kein kühner Mann
In des Monats langer Runde!

Diese Worte ergriffen Helokander mächtig. Mit einer raschen Entschlossenheit schwang er sich über die hohe Mauer und drang unverzagt in das Innere der dunklen Burg. Er fand den Weg nach dem matterleuchteten Gemach, wo die Jungfrau weilte, deren Klagelied er soeben vernommen hatte. Er fand sie allein, auf einem Teppich kauernd, und begrüßte sie als ihren Befreier. Da flog sie aufjauchzend ihm entgegen. Helokander hob sie empor und trug sie mit starken Armen hinaus. Sie aber flehte zitternd: »Beeile dich, du kühner Mann; denn die einzige Stunde im Kreislauf des Mondes, da der böse Zauberer keine Gewalt über die Menschen hat, wird bald verstrichen sein.«

Da holte Helokander auf ihren Rat das feurigste Roß aus dem Stall, schwang sich mit der befreiten Königstochter hinauf und galoppierte hinaus über Stock und Stein in die sternklare Nacht. Es schien, als ob dem edlen Pferd gleichfalls Zauberkräfte verliehen seien; denn es langte mit den beiden, die sein Rücken trug, unversehrt im Tale an. Dort begann ein nächtlicher Ritt, als ob blutgierige Raubtiere hinter ihnen her wären.

Wenn Helokander nicht so ein vorzüglicher Reiter gewesen wäre, dann hätte das feurige Roß ihn wohl abgeworfen oder der Zauberer hätte unterwegs die Flüchtlinge erreicht. So langten sie in der Frühe des folgenden Tages – sie wußten selber nicht, wie alles so rasch vorgegangen war – in der Heimat der Königstochter an.

Als sie den Königshof erreicht hatten, brach das brave Tier erschöpft zusammen. Die Höflinge aber eilten zum König und meldeten: »Deine Tochter ist zurückgekehrt zugleich mit einem Fremdling, der sie aus den Händen des Zauberers befreit hat.« Da eilte der König hinaus, erkannte sein wiedergefundenes Kind und schloß es in seine Arme. Dem Jüngling dankte er gerührt, hieß ihn die vollbrachte Tat erzählen und stellte ihm reichen Lohn in Aussicht.

In diesem Augenblick erfüllte ein gewaltiges Brausen die Luft. In der Ferne wirbelte eine Staubwolke auf, aus der drei Reiter sichtbar wurden. Auf schäumenden Pferden jagten sie heran und riefen der bestürzten Volksmenge zu: »Rettet euch vor dem zürnenden Zauberer, der hinter euch herrast, um die befreite Königstochter zurückzugewinnen!«

Und schon wurde hinter den gehetzten Rossen und Reitern ein ungeheures Wesen sichtbar. Sein Leib war wie ein Felsblock, Arme und Beine waren lang wie ein Palmbaum, und in dem breiten Mund seines mächtigen Kopfes blitzten die schrecklichen Zähne eines Raubtieres.

Als die Menschen ringsum den schnaubenden Unhold sahen, wie er mit rollenden Augen auf Windesflügeln nahe und näher kam, da versteckte sich jedermann in heller Todesangst. Dann beschattete mit einem Male die Staubwolke sekundenlang alles mit einem fahlen Schleier. Und als sie sich verzogen hatte, war die Königstochter verschwunden. Kein Zweifel war möglich: der Zauberer hatte das Mägdlein wiederum entführt.

Da erhob sich allgemeines Wehklagen. Helokander bemerkte, daß der König in seiner Trauer um die verlorene Tochter deren Retter völlig vergaß. Zu seinem Kummer über die mißglückte mutige Tat gesellte sich stilles Herzeleid. Ungesehen ging der vergrämte Jüngling von dannen.

* * *

Als Helokander niedergeschlagen und ziellos einherwanderte, gelangte er, ohne es zu wollen, bis an den Rand der Wüste. Da ihn hungerte, betrat er eine winzige Hütte, die er am Wegrand erblickte. Er bat den Besitzer, einen weißbärtigen Greis, um einige Körner Reis. Der Alte hieß ihn willkommen, teilte seine Reisschüssel mit ihm und lud ihn ein, bei ihm zu übernachten.

Helokander nahm die Einladung dankend an. Auf der Bastmatte, die sein Nachtlager bildete, versank er, müde und traurig zugleich, bald in einen tiefen Schlaf. Der Greis betrachtete den jugendlichen Schläfer mit wohlwollendem Lächeln, breitete seine eigene Decke über ihn und legte sich dann in dem anderen Winkel seiner Hütte ebenfalls zur Ruhe nieder.

Beim Erwachen in der Frühe sah der Greis, daß sein jugendlicher Gast auch schon aufgewacht war. Helokander saß mit hochgezogenen Knien nachdenklich auf der Bastmatte. Die Wolldecke hatte er während der Nacht behutsam genommen und damit seinen Gastgeber zugedeckt.

Diese besorgte Liebe gefiel dem Greis. Es war ihm nicht entgangen, daß ein geheimer Kummer den Jüngling drückte. Als dieser nach einer Weile sich verabschieden wollte, hielt der Alte ihn zurück und sprach: »Ich verlange nicht zu wissen, wer du bist. Ich selber bin ein Lehrer der Weisheit und gebe den Knaben und Jünglingen, wenn sie meine Hütte aufsuchen, guten Rat. Verschmähst auch du meine Ratschläge nicht, dann vertraue dich mir an. Brauchst du sie nicht, dann ziehe deine Straße weiter. Meine Wünsche begleiten dich.«

Da ergriff Helokander die Hand des alten Mannes und erzählte ihm die mißglückte Rettung der Königstochter. Er verschwieg aus Bescheidenheit, daß er selber eines Königs Sohn sei. Aufmerksam hatte der Greis zugehört. Dann strich er nachdenklich den weißen, wallenden Bart. Forschend blickte er dem Jüngling in die Augen und begann mit feierlichem Ernst: »Deine wohlgesetzten Worte, dein gewinnendes Äußere und deine bekundete Kühnheit sagen mir, daß du keines gewöhnlichen Sterblichen Sohn bist. Darum will ich dir ein Geheimnis anvertrauen, das ich für denjenigen meiner Schüler aufbewahrt habe, der durch eine besondere schöne Tat seine Vollkommenheit an Körper und Geist erwiesen hat.«

»Ich danke dir, ehrwürdiger Vater!« sprach leise mit gesenktem Haupte Helokander.

»Glaubst du, daß dein Mut noch härteren Proben gewachsen ist?« fragte streng der Lehrer.

Helokander straffte den Körper und erwiderte: »Um die Königstochter für immer aus den Händen ihres Peinigers zu befreien, schrecke ich vor keiner Gefahr zurück.«

»Dann folge mir!«

Mit diesen Worten führte der Greis den Jüngling auf einen nahen Hügel. Dort angelangt, sprach er: »Sobald die Morgensonne drüben im Osten sichtbar wird, erscheint ein schlankes, schönes Pferd auf dieser Anhöhe, um hier zu grasen. Es ist ein Zauberpferd und gehört dem Zauberer, der die Königstochter gefangenhält. Dieses Wundertier besitzt die Gabe, seinen Reiter alsbald dorthin zu tragen, wo er zu sein wünscht. Es kann dich daher nach dem unbekannten Versteck bringen, wo diejenige weilt, die du suchst.«

Da weiteten Helokanders Augen sich vor lauter Freude. Der Greis aber hob beschwichtigend die Hand und fuhr fort:

»Noch niemand außer dem Zauberer vermochte bisher das feurige Roß zu besteigen. Mißlingt dein Versuch, es zu bändigen, dann wirst du dies mit dem Tode büßen.«

»Ich wage mein Leben für die schöne Tat, die ich vollbringen will!« rief Helokander.

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, da sprengte das geschmeidige Pferd wiehernd heran und begann auf der Anhöhe zu grasen. Helokander staunte über die Schönheit des edlen Tieres. Er eilte hinzu und fuhr mit der Hand sanft über seine Schenkel. Zugleich flüsterte er ihm einige Worte zu. Das Pferd spitzte die Ohren und wandte den schönen Kopf zur Seite.

In demselbigen Augenblick hatte Helokander sich auf seinen Rücken geschwungen und fest die Zügel ergriffen. Da begann das Zauberpferd einen tollen Tanz aufzuführen und versuchte, sich des ungewohnten Reiters zu entledigen. Der aber saß wie angeschmiedet im Sattel.

Als das Pferd merkte, daß es seinem Reiter nichts anhaben konnte, wurde es lammfromm. Der Greis, der staunend zugesehen hatte, beglückwünschte den Jüngling und sprach: »Ziehe denn hin mit meinem Segen und vollbringe die schöne Tat, die du dir vorgenommen hast. Doch wisse, das Schwerste steht dir noch bevor. Darum darfst du nicht unbewaffnet den kommenden Dingen entgegentreten.«

Nach diesen Worten bückte er sich und entnahm einem Strauch zu seinen Füßen ein schimmerndes Schwert. Er reichte es Helokander hinauf. Dieser dankte nochmals dem freundlichen Greise und sprengte sodann mit dem ungeduldigen Roß davon.

* * *

Es war eine menschenleere Gegend, durch die das Zauberpferd seinen Reiter während der nächsten Stunden trug. Bäume und Sträucher, die Roß und Reiter eine Zeitlang begleiteten, wurden immer spärlicher, dann hörten sie völlig auf. Nur kümmerliches Gestrüpp lugte streckenweise aus dem grauen Gestein, und zuletzt war die weite Landschaft ringsum eine endlose und leblose Wüste. Ihr Anblick wäre wohl geeignet gewesen, die frohe Laune eines jeden Wanderers herabzumindern. Helokander aber war von dem guten Ausgang dieses wundersamen Wüstenrittes zuversichtlich beseelt. Er unterhielt sich mit dem ausdauernden Renner wie mit einem guten Freund.

Inzwischen war die Abendsonne als feuerrote Scheibe am gelben Wüstensaum untergegangen. Immer dichter wurden die nächtlichen Schleier. Da tönte auf einmal fernes Raubtiergeheul durch die lautlose Wüstennacht.

Gleichzeitig merkte Helokander, wie das Pferd seine letzten Kräfte zusammennahm, als ob es das Ziel wittere. Noch ein letzter, scharfer Endlauf – dann blieb das Zauberpferd, vor Erregung zitternd, wie angewurzelt stehen. Aber auch seinen jugendlichen Reiter überfiel zum erstenmal Angst.

Vor ihm lag, wiederum von einer schützenden Mauer umgeben, im nächtlichen Dunkel das geheimnisvolle Wüstenschloß des Zauberers; aber seinen Eingang bewachten drei mächtige Löwen. Der gewaltige Zauberer hatte den König der Tiere als Wächter für seine Wüstenburg bestellt. Mit leisem Schaudern erinnerte Helokander sich der Worte, die der freundliche Greis nach Sonnenaufgang beim Abschied am Wüstensaum zu ihm gesprochen hatte, daß das Schwerste ihm noch bevorstand.

Da begab sich etwas ganz Wunderbares: die drei Löwen hatten das Pferd bemerkt und sprangen ihm in großen Sätzen entgegen. Aber – o Staunen! – einen Steinwurf vorher erkannten sie das Zauberpferd, und nun umwedelten sie es wie zutrauliche Hauskatzen.

Beim Herannahen der gefürchteten Raubtiere hatte Helokander sich schützend hinter den Hals des Pferdes geduckt. Durch das überraschende Verhalten der Löwen mutig gemacht, trieb er das Pferd verwegen an, das gezückte Schwert in der Rechten. Nunmehr gewahrten die Löwen auch den fremden Reiter und sprangen brüllend an Helokander empor. Der wußte, daß in diesem Augenblick sein Leben auf dem Spiel stand. Er sprach sich selber Mut zu, holte aus und stieß dem nächsten der Löwen blitzschnell das Schwert tief in den aufgerissenen Rachen. Eine Sekunde später widerfuhr dem zweiten Löwen das gleiche. Helokanders Augen glühten vor Kampfeslust.

Da setzte der letzte der Löwen, einer fauchenden Riesenkatze vergleichbar, zum entscheidenden Sprung an. Aber Helokander riß mit jähem Ruck das Pferd zurück. Der Angreifer hatte sein Ziel verfehlt: sein furchtbares Gebiß vergrub sich in den Hals des sich aufbäumenden Pferdes. Sterbend stürzte das edle Tier in die Knie. Helokander aber holte mit Aufbietung aller Kräfte zu einem wuchtigen Schlage aus und spaltete dem dritten Löwen mit dem scharfgeschliffenen Schwert den Schädel. Röchelnd verendeten dicht vor seinen Füßen die drei Bestien.

Helokander streichelte das brave Pferd, das ihn an das Ziel seiner Wünsche geführt hatte, und gab ihm dann mitleidig den Gnadenstoß. Hierauf betrat er durch die offene Pforte der hohen Mauer erwartungsvoll das Wüstenschloß.

Die bleiche Mondsichel erhellte dürftig die steinernen Stufen, die zu dem schmalen Eingang führten. Auf der letzten Treppenstufe hockte mit verhülltem Haupt eine steinalte Türhüterin. Als sie den bewaffneten Eindringling erblickte, wimmerte sie um Gnade. Helokander beruhigte sie mit freundlichen Worten. Dann fragte er, wo der Besitzer des Hauses sei.

Darauf vertraute die Alte ihm folgendes an: Das weltentlegene Wüstenschloß gehöre einem mächtigen Zauberer. Dieser habe irgendwo eine Jungfrau geraubt und halte sie hier in der Einsamkeit gefangen. Flüsternd erzählte sie dann weiter: »In der zweiten Hälfte des abnehmenden Mondes nimmt der böse Zauberer jedesmal menschliche Gestalt an. Dann erscheint er allnächtlich für die Dauer einer Stunde in dem Gemach, wo die Gefangene eingesperrt ist. Solange sie nicht einwilligt, seine Frau zu werden, peinigt der Zauberer sie auf alle erdenkliche Art.«

Helokander gebot der Alten, ihn in das Innere des Wüstenschlosses zu führen. Sie nahm ein Talglicht und führte ihn durch einen schmalen Gang eine schmale, kurze Stiege hinauf. Droben betraten sie geräuschlos ein Zimmer, in welchem ein unberührtes Ruhelager stand. Die Alte legte den Finger an den Mund und deutete stumm auf den Vorhang, der eine weitere Türöffnung bedeckte. Dann schlich sie mit scheuer Geducktheit hinaus.

Helokander war einen Augenblick unschlüssig, was er tun solle. Er fragte sich, ob die alte Pförtnerin vielleicht falsches Spiel mit ihm treibe. Aber der Gedanke an den ehrlichen Ausdruck ihres welken Gesichtes verscheuchte seine Besorgnisse. Während er noch überlegte, ob er den Vorhang beiseiteziehen solle, ertönte aus dem anschließenden Raum eine zarte Mädchenstimme. Leise und schmerzlich erklang ein Klagelied. Ein tiefes Mitgefühl durchglühte den Königssohn mit einer belebenden Wärme. Sein Blut wallte auf. Ergriffen vernahm er diese Worte, deren Weise er schon einmal gehört hatte:

Wieder naht die Schreckensstunde
Und kein Retter in der Runde!
Hinter diesen hohen Mauern,
Muß mein Leben ich vertrauern.

Die Königstochter lieh dem ermüdeten Jüngling durch ihre Nähe neue Kraft. Er gelobte, um ihretwillen den Kampf mit dem dämonischen Zauberer aufzunehmen und sollte es sein Leben kosten. Drinnen war es still geworden. Draußen aber ertönte bald verworrenes Geräusch. Polternde Schritte auf dem Gang. Dann eine tiefe, rauhe Stimme. Drinnen ein unterdrückter Angstruf. Rasch entschlossen machte Helokander mit der Schwertspitze ein winziges Loch in den Vorhang. Durch dieses sah er, wie drinnen die Tür aufgerissen wurde.

Herein trat ein schwerfälliger Mensch mit einer plumpen Gestalt wie ein Bär und einem roten, dicken Kürbiskopf, an dem ein schwarzer Zopf baumelte. Mit zorniger Stimme begrüßte er höhnisch die Gefangene, die auf einem Teppich kauerte. Er fragte sie mit barschen Worten, ob sie nun endlich gewillt sei, seine Frau zu werden. Der letzte Tag der Bedenkfrist, die er ihr gegeben habe, sei heute verstrichen. Er schwöre, ihre fernere Weigerung werde sie schwer büßen. Dabei stampfte er, die Hände auf dem Rücken verschränkt, in dem Gemach grimmig auf und ab. Zugleich aber weidete er sich an der Angst der Gefangenen. Diese entsetzte sich immer wieder über die scheußlichen Fratzen, die auf seinem Gewand befestigt waren. Bei den angedrohten Strafen hielt sie sich furchtsam die Ohren zu und flehte um Erbarmen.

Da vermochte Helokander sich nicht länger zu beherrschen. Mit gezücktem Schwert stürmte er aus seinem Versteck hervor. Er hatte geschickt den Augenblick gewählt, da der Unhold ihm den Rücken zuwandte. Entschlossen packte er ihn mit der Linken beim Schopf. Gleichzeitig führte er einen wuchtigen Stoß aus, und mit durchbohrtem Herzen sank der Zauberer zu Boden. Es war, als sei ein Felsblock zur Erde gefallen.

Der Königstochter schwanden vor Schreck die Sinne. Da rief Helokander die zitternde Alte herein, die dem Zauberer unbemerkt gefolgt war. Er befahl ihr, der Jungfrau den nötigen Beistand zu leisten. Dann ergriff er den leblosen Körper des Unholds und warf ihn hinab in den Innenhof. Nachdem er die Königstochter in der Obhut der alten Dienerin geborgen wußte, verbrachte Helokander den Rest der Nacht in der blumigen Säulenhalle des Wüstenschlosses, die gegen Sonnenaufgang gelegen war. Er war stolz über die vollbrachte Tat und kam sich wie ein Sieger vor. Lange saß er wachend auf der Steinbank in der Vorhalle und blickte hinaus in die bläuliche Nacht und hinauf zu den Gestirnen über seinem Haupt. Ihm schien, als leuchteten Mond und Sterne so schön wie nie zuvor. Dann befiel ihn eine große Müdigkeit, und er schlief ein.

Im Morgengrauen erschien ehrfürchtig das Schloßgesinde und dankte dem mutigen Fremdling, der die Königstochter und sie alle aus der Gewalt des Zauberers befreit hatte. Sie huldigten ihm als ihren neuen Gebieter. Helokander befahl, alles zum Aufbruch zu rüsten. Nach einiger Zeit erschien auch die Königstochter, um dem kühnen Mann zu danken, der sie von ihrem Peiniger befreit hatte. Mit gesenkten Augen nahte sie dem Fremdling und fragte leise, wie sie ihm ihre Dankbarkeit bekunden könne. Helokander verneigte sich und erwiderte: »Gewähre mir die Gnade, dich ein zweites Mal deinem Vater zuführen zu dürfen. Ich bin derselbe Jüngling, der dich schon einmal den Händen dieses Zauberers entrissen hat.« Da erkannte auch sie ihn wieder. Und die Königstochter umfaßte die starken Arme ihres Retters, blickte bewegt zu ihm empor und sprach: »Führe mich zu meinem Vater!« Helokander bog ihr Köpfchen sanft zurück und sagte feierlich diese Worte: »Siehe, wir stehen inmitten von blühenden Blumen. Möge dein Lebensweg künftig ein Blumenpfad sein!«

So standen sie im leuchtenden Morgenlicht und lächelten sich zu. Dann nahm er sie bei der Hand, und sie schritten hinaus zu den Dienern und Dienerinnen, die mit den Reit- und Lasttieren im Schloßhof standen.

So zogen sie alle fröhlich zum Königshof, mehrere Tagesreisen weit. Unterwegs sandte Helokander Sendboten voraus, die sollten dem König drei prächtige Löwenfelle als Geschenk überbringen und ihm melden: »Deine Tochter naht mit ihrem Befreier und Gefolge!«

Um die Mittagszeit des dritten Tages langten sie an dem Königshof an. Umgeben von seinen höchsten Würdenträgern schritt ihnen der König mit wehenden Fahnen entgegen. Als er seine Tochter erblickte, schloß er sie in seine Arme und küßte sie. Da wies die Königstochter auf Helokander und sprach zu ihrem Vater: »Siehe hier den mutigen Mann, der mich ein zweites Mal für immer aus den Händen des Zauberers befreit hat.« Helokander verneigte sich tief vor dem König und sprach: »Ich heiße Helokander und bin eines Königs Sohn, der hinauszog, um eine schöne Tat zu vollbringen.«

Da umarmte der König den Jüngling vor allem Volke. Dann legte er die Hand seiner Tochter in die Helokanders und sprach mit lauter Stimme: »Ich vertraue dir mein einziges Kind als Gemahlin an und ernenne dich gleichzeitig zu meinem Nachfolger!«

Dann feierten sie Hochzeit, und im ganzen Lande wurden Freudenfeste veranstaltet.

*

 


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