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XXXIII

»... Paris war, mit Ausnahme weniger neuer, von den Finanzmännern gebauter Straßen, eine Ansammlung enger, krummer und schmutziger Gassen ... mit Plätzen, die kaum diesen Namen verdienten und Regelmäßigkeit ebensowenig wie Breite, Licht und Luft kannten. Ungescheut baute man die Häuser in die Straßen hinein, errichtete noch Verkaufsbuden vor den Häusern, sperrte die ohnehin so schmale Passage durch steinerne Treppen. Nach mittelalterlicher Weise sprangen die Stockwerke immer weiter hervor und schnitten der Straße Luft und Licht ab. Holz- und Kohlenhändler, Steinmetzen, Zimmerleute, Wagenbauer pflegten ihre Arbeit bei schönem Wetter vor dem Hause zu verrichten, während Gerber, Färber und Wäscher ihre nassen Zeuge zum Trocknen in die Straßen flattern ließen. Das Pflaster war schlecht und unordentlich, der Weg schmutzig, nicht nur durch die Wasser des Himmels, sondern auch durch die Unreinlichkeiten, welche man aus den Häusern darauf zu gießen pflegte.« Dieser Schilderung von Paris, wie Heinrich es als seine Hauptstadt übernommen hatte, ist noch hinzuzufügen, daß in der Cité und in mehreren Vierteln der inneren Stadt die Mehrzahl der Straßen so eng waren, daß sie für die gewöhnlichen Wagen nicht befahrbar waren. Zudem fehlte es nicht nur an einer ausreichenden Kanalisation, sondern vor allem an gesundem Trinkwasser, welches aus oft verdächtigen Brunnen und, schlimmer noch, aus dem Flusse geholt wurde, dem Unrat und Tierkadaver aus Stadt und Land zur Hinwegschaffung übergeben wurden. Nimmt man dazu, daß Paris ein einziges öffentliches Krankenhaus hatte, das Hôtel-Dieu, in dem unterschiedlos die Kranken aller Art zusammengepfercht lagen und ihre Ansteckungskeime austauschten, so wird des Königs Besorgnis über die nicht nachlassende Verminderung der Bevölkerungszahl verständlich. Heinrichs Zeitgenossen rühmten ihm zu Ende seiner Regierungszeit nach, er habe fünf neue Weltwunder geschaffen, womit sie die herrliche Place Royale (heute Place des Vosges genannt) meinten, dann die Galerien, die Louvre und Tuilerien verbanden (und die Heinrich auch praktisch wichtig waren, weil sie für den Fall einer Gefahr eine Verbindung zu den außerhalb der Stadtmauern gelegenen Tuilerien herstellen sollten), den Pont-Neuf, der die zweite steinerne Brücke von Paris war, und endlich die Bauten in Fontainebleau und die jetzt verschwundenen von Saint-Germain. Aber prächtig, ja weit großartiger, haben auch andere Könige von Frankreich, wie etwa vorher Franz I. und nachher Ludwig XIV., gebaut, neben deren architektonischer Hinterlassenschaft die Heinrichs IV. weniger wunderhaft erscheinen könnte. Was diesen »neuen Juwelen Frankreichs« aber ihre besondere Schönheit gab, war, daß sie aus der Fassung einer großen, reichen, allgemeinen Arbeit hervorglänzten. Die heute noch als einer der schönsten, architektonisch geschlossensten Plätze anmutende Place Royale zum Beispiel, wurde aus dem ruinenhaften Winkelwerk eines verfallenen Schlosses und elender Gäßchen herausgeholt, und um sie herum wuchs schnell ein Viertel gerader und für die Zeitbegriffe breiter Straßen, in denen Beamte, Neureiche und alte Familien ihre Häuser und Paläste bauten – von denen noch heute manches schöne Gebäude, wie das einst das Palais Sévigné gewesene Musée Carnavalet zeugen. Die für jeden Pariser auch ohne das Denkmal mit dem Namen Heinrichs IV. verbundene Brücke, der Pont-Neuf, war nicht ein isoliertes Prunkstück, sondern setzte sich am linken Ufer in die damals hochgepriesene rue Dauphine fort, die durch einen Wirrwarr licht- und luftloser Häuserhaufen gebrochen wurde. Gleichzeitig aber wurde der bröcklige Kai verbessert und auf der anderen Seite der Brücke, auf der Seine-Insel, die schöne Place Dauphine angelegt. Was aber ein rechtes Wunder war: wo heute das große Warenhaus der Samaritaine steht, das seinen Namen von dieser unerhörten Wohlfahrtsneuerung herleitet, wurde ein mächtiges Pumpwerk mit einem Wasserturme errichtet, aus dem Wasser in eine Fülle öffentlicher Brunnen strömte. Zu strengen Verordnungen über die bis dahin mangelhafte oder ganz außer acht gelassene Pflasterung der Straßen fügte Heinrich genaue Anordnungen über die Reinigung der Stadt. Als im Jahre 1606 eine neue verheerende Welle der Pest über Paris hinwegging und wieder die Unzulänglichkeit des einzigen vorhandenen Hospitals erwies, suchte Heinrich alsbald, im großen Abhilfe zu schaffen. Er ließ nicht nur das mittelalterliche Hôtel-Dieu umbauen und erweitern, er förderte auch die von einem geistlichen Orden geplante Errichtung der Charité, und ließ in der Vorstadt Saint-Marceau ein Krankenhaus errichten. Zu gleicher Zeit aber ließ er den Bau eines neuen Hospitals beginnen, in für die Zeit unerhörten Dimensionen. Dieses Saint-Louis-Krankenhaus, das noch zu Heinrichs Lebzeiten im wesentlichen fertig war, eines der ausgedehntesten Bauwerke Frankreichs, wurde für die Pestkranken bestimmt, das heißt nach unseren Begriffen mehr oder minder für die meisten ansteckend Kranken – denn was an Symptomen der verschiedenen als Pest bezeichneten Epidemien überliefert ist, läßt darauf schließen, daß es sich um ganz verschiedenartige Krankheiten und nur selten um die eigentliche Pest gehandelt haben könne.

Dieses Stück Lebensgeschichte hat nicht Platz noch Aufgabe, das vielgestaltige Werk Heinrichs, den gründlichen Neuaufbau eines Staates, auch nur andeutungsweise in seinem Umfange und allen seinen Richtungen zu umreißen. Was vom Wirken des Königs angeführt wird, sind Fetzchen und Bruchstücke; doch möchte ihre Auswahl die Zusammengehörigkeit dieses ganzen gewaltigen Wirkens wenigstens ahnen lassen. Denn jedes Beispiel kann nur ein Fenster oder eine Luke sein und einen begrenzten Blick auf die große, mannigfaltige Wirkenslandschaft freigeben. Weil aber dieses Wirken so naturhaft gewachsen ist, mögen die Beispielchen, vielleicht wie Ausschnitte aus Landschaften, die Zusammengehörigkeit empfinden lassen. Es gibt unter den genauer verfolgbaren historischen Figuren des neueren Europa weisere und tiefere, gütigere oder gewaltigere, man mag in dem oder jenem Herrscher eine Gabe oder einen Wesenszug ins Geniale gewachsen finden – menschlicher (um dieses Modewort in seinem alten Sinne zu gebrauchen) als Heinrich IV. wird kaum einer anmuten. Und naturhafter kaum ein Königswerk als dieses aus allen Gaben, aller Weltfreude und Lebenskraft Heinrichs gewachsene Frankreich, dem Richelieu, Mazarin und Ludwig XIV. mit all ihren Schnürleibern nichts Wirkliches mehr anhaben konnten. Was wir menschlich an diesem Werke nannten, ist die Ableitbarkeit seiner so innig miteinander verflochten Teile aus Wesenszügen und Erfahrungsgruppen Heinrichs und aus seiner Art von Tatsachensinn. Wer die Sendschreiben, Staatsbriefe, Anreden und Entwürfe zu Verordnungen liest und durch die zeitüblichen Formulierungen von Gesetzen und Erlässen gelegentlich noch des Urhebers Stimme hindurchzuhören lernt, vermöchte vielleicht in längerer Arbeit dahin zu gelangen, einzig aus solchen Dokumenten das Wesen dieses Mannes wieder aufzufinden, wie das Wesen des geheimnisvollen Shakespeare aus seiner Dramenwelt erraten werden kann: so erdhaft-geistig ist dieser König mit seinem Werk verbunden, wie es die Künstler mit dem ihren sind, in dem ihres Blutes einmaliger Rhythmus pocht. Das ist wohl die Größe derer, an denen das von Zeitgenossen und Schmeichlern so gern angeheftete Beiwort »der Große« wirklich haftenbleibt, diese naturhafte Totalität von Werk und Schicksal: daß nur der Vorhang vor etwas wie seit immer Dagewesenem weggezogen scheint und etwas sichtbar wird, das so verständlich und so rätselhaft zugleich ist wie der Zug eines Gebirges mit seinem See und seinen Wäldern, oder wie eine Melodie von Schubert. Alles von Heinrich ist in diesem Werk und seinem »Ruhm«: der Gaskogner, der auch etwas von Tartarin an sich hat, der bockhafte Faun, der die Pflanzen so gut kennt und die Tiere und das Tier im Menschen, der pantagruelische Genießer, der einmal ein Kalvinist war und dann ein Jesuitenfreund geworden ist, der Haudegen im speckigen Wams, der Wunder an Palästen ersinnt, der Geldgierige, der zugleich ein Geizhals und ein großer Verschwender ist; aber über all das einzelne hinaus ist in dieser Bewältigung fast der ganzen Menschenwirklichkeit einer Epoche die ungeheure unersättliche Freudigkeit des Lebendigen am Leben.

Wem das Porträt des herbstlichen Mannes, das zu zeichnen dieses Buch unternimmt, Lust darauf macht, mehr von Heinrich IV. und seinem großen Lebensraum zu erfahren, der möge etliche der vielen historischen Werke über ihn lesen, vor allem aber die große Sammlung der »Lettres missives«. Diese an Bewegtheit der Vorgänge, an Reichtum der behandelten Gegenstände und nicht zuletzt an Originalität und Ausdruckskraft der Sprache einzigartigen Königsbriefe, etwa noch durch Poirsons Poirsons grundlegendes Werk ist 1856 erschienen, also lange bevor die Veröffentlichungen Pfisters und anderer die Legende von dem »Großen Plan« endgültig zerstört haben und diese Altersphantasien Sullys als mit dem politischen Realismus Heinrichs völlig unvereinbar gezeigt haben. Poirson hat noch an den »Großen Plan« geglaubt. dreibändige Geschichte der Regierungszeit Heinrichs IV. ergänzt, werden den in Dingen der Historie weniger erfahrenen Leser mit gewaltigem Erstaunen erfüllen, was solch ein Königswerk alles war – und sicher auch, was alles im Leben eines solchen Mannes Platz gefunden hat. Denn, das muß nochmals hervorgehoben werden: alle die Neuerungen, Veränderungen, Gesetze und Erlässe, sind, wo nicht von Heinrich selber ausgedacht, doch sämtlich von ihm erwogen, geprüft und in die Gestalt gebracht worden, in der sie Wirklichkeit wurden. Von der neuen Heeresorganisation bis zur Frage, welche Methoden in der Binnenfischerei zulässig seien, von der Schaffung eines zuverlässigen Postverkehrs (wobei jede Einzelheit, bis auf den Preis der Tagesmiete für ein Reit- oder Wagenpferd erwogen wurde) bis zur ersten Anregung, in Frankreich Reis anzupflanzen, von den Entschließungen zu überseeischer Kolonisation bis zu allen Personalfragen der Kirche, der Diplomatie und der inneren Verwaltung, gelangte alles zu Heinrich und ging, von ihm geformt und geprägt, in die Verwirklichung. Wie sehr aber in solcher Formung und Prägung der Mensch ist, wird vielleicht künftige Geschichtsschreibung zeigen, die nicht mehr mit schematischen Begriffen von Charakteren arbeitet, sondern alle Triebkräfte des Lebendigen in ihre Forschungen einzubeziehen weiß.

Dieses Kapitel, das im Vorbeigehen schnell ein paar Luken und Fensterchen aufmachen wollte, muß jetzt sein Ende haben. Wie ungeheuer die Ernte dieses großen Herbstes war, steht vielerorten aufgezeichnet. Hier aber geht es um das Herbsten selber, um das späte heiße Gelb und Rot und Braun, vor der Kälte.


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