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XVIII

Die Jahreszeiten sind, wie sie sein sollen, oder einmal rauher und dann milder, regenreicher oder trockener, und zwischendrein bricht Unvorhergesehenes über die Erde herein, Hagel, der den blühenden Wein zerschlägt, Güsse aus berstenden Himmeln, daß die Loire die Felder zu ihrem Bett macht und Kuh und Schwein in den Ställen ersäuft. Dann wieder beißt der Frost so tief in die Erde hinein, daß alle geschützten Triebe unter dem toten Laub verderben und die Wildschweine bis an die Häuser kommen. Die Menschen alle, die draußen im großen Lande im Jahreszeitenkreise gehen und von ihm die Nahrung ihres Leibes und für ihr Getier empfangen, das bei der Arbeit hilft und sie nährt, beten, aufgestört aus der dürftigen Ordnung, zu den Heiligen, die ihre jeweilige Not am besten verstehen müssen – und dann schicken sie ein paar, die ein wenig zu sprechen wissen, zum König. Der König muß helfen, denn der König ist kein Städter, er weiß, was Flut oder Dürre, Schlossen oder Viehsterben meinen. Er weiß es, und er sucht zu helfen, soweit das Geld langt. Und mehr noch, indem er über die Augenblicksnot hinaus denkt, wie die alle, aus deren Mühsalpfennigen von Abgaben das große Bauwerk Staat gekittet wird, wie die alle anders sollten leben können, damit solch ein paar Tage Elend nicht gleich ihr ganzes Dasein bedrohen könnten. Sie kommen zu ihm und bitten für ihre Saaten und den keimenden Wein, daß sie geschont würden von Pferden und Hunden, von Treibern, die, im reifen Weizen stapfend, Rebhühner aufjagen und den Grummetwiesen weit mehr Schaden antun als die Hasen, die sie daraus scheuchen. Der König, dem immer der Gedanke an die morgige Jagd schon allen Kummer und Verdruß zu bannen vermag, der König, der ein Edelmann ist und dem Edelmannsrecht und -brauch wie himmlische Satzung sind, der König, dem es so schwer ist, seinen heftigen Wünschen etwas zu versagen, zwingt es sich ab, das Bitten der Bauern zu hören und zu erhören. Fürderhin darf die Jagd nicht mehr über die Äcker vor der Ernte und durch die Weingärten vor der Lese gehen.

Auch die Städter kommen mit Abordnungen und Suppliken, die Handwerker und die Handelsleute, und zeigen die Notstände ihrer Gewerbe und Geschäfte, die Einengung durch alte Gesetze, die Unterdrückung durch zu hohe oder unrecht verteilte Abgaben. Die einen klagen, daß die schlechten und unsicheren Straßen der Verbreitung ihrer Waren im Wege stünden, die anderen, daß die Fremden ihre Erzeugnisse in Frankreich billiger anböten, als sie es selber könnten. Dann kommen die Wollweber und die Hutmacher mit ihrer Beschwerde: die Wolle werde meist aus Spanien bezogen, denn im Lande selber gäbe es nicht genug oder nicht die rechte. Aber jetzt pflegten sie dort die Schafe vor der Schur zu baden, sie dann durch Sand zu hetzen, hernach die nasse und mit Sand und Erde verschmutzte Wolle zu verpacken und zu versenden, so daß mehr als ein Viertel des Gewichtes verschlammte Fäulnis sei. So kam Stand nach Stand mit Bitte und Klage, und der König mußte alle begreifen, alle Beschwerden zueinander denken und aus jedes Standes Eigentlichem und zugleich aus dessen Bezug aufs Ganze die Abhilfe ersinnen und Neuordnung von des Staates Lebensmitte aus. Darauf sann er Tag um Tag, aber tätig, an jeden Gedanken ein kleines Tun bindend. Weil er zwar nicht wie seine Berater die abgezogenen Normen und Gesetze studiert und daraus des Staates Gefüge wie das Achsensystem eines Kristalls zu betrachten gelernt hatte, sondern weil er vom Einzelnen und Wirklichen zur größeren Gruppe und von allen diesen Gruppen aus zum Ganzen kam, erwuchs ihm alles Planen naturhaft. Er hatte als Soldat und Jäger gelebt und von frühauf Arbeit und Material einschätzen gelernt. Er hatte in den Werkstätten und Schmieden der Dörfer und der kleinen Städte gesehen, wie ein Lanzenschaft erneuert, ein Pistolenschloß wieder brauchbar gemacht, ein Bügelriemen geschnitten wird. Er hatte Stoffe und Werkzeuge aller Art gesehen und angerührt und kannte ihre Fehler und Tugenden und ihre gute und schlechte Herkunft, ob es nun Metallenes oder Gewebe, Holz oder Stein war. Er liebte die Gaben der Erde, ohne Empfindsamkeit, wie einer sie liebt, der sie gut zu gebrauchen weiß, und so kannte er sie auch. Er sah die Zähne der Pferde an, die Jahresringe der Bäume, die Erdarten, er fragte Bauern und Handwerker, Flößer und Fischer, Krämer und Großhändler nach ihren Dingen aus und behielt das Wesen sein Leben lang, das Wesen der Sachen. Sachen bauen die Welt auf für den, der scharfe Sinne hat, um Sachen geht ihm alles sinnvolle Menschentun, das Land mit Früchten und Vieh, die Wälder mit Tieren und Holz, die Wässer mit Fischen und den Schiffen, die sie tragen können, alles Findbare, Verwertbare, Nährende, Kleidende, zu Ware werdend, verbraucht und neuer Erzeugung Platz machend, das war die Sachenwelt. Aus den tausend Bezügen dieser greifbaren, sichtbaren, riechbaren und in Wert ausdrückbaren Dinge baute sich die große, hoch zusammengesetzte Sache Staat auf, die er in seine Hände genommen hatte und an der er gute vernünftige Arbeit tun wollte. Gute Arbeit tun war die Gottgefälligkeit, die er verstand; scharf denken, richtig zufassen war seine Moralität, und seine Frömmigkeit ging zu einem Gotte, der an dieser Welt, die er geschaffen und den rechten Leuten zum Weiterbauen übergeben hatte, viel Interesse haben mußte. Der Weltregent und ein Erdenkönig mußten einander in dieser tätigen Vernunft verstehen – und daß da wie dort Unvernünftiges mit unterlief, darüber konnten sie einander zublinzeln, der allmächtige Gott und der großmächtige König, die beide die Unvernunft nicht aus der Welt schaffen konnten, der eine nicht die Sternstürze, Springfluten und sonstigen kosmischen Narreteien, und der andere nicht den Unverstand der Untertanen oder etwa die Henriette im eigenen Herzen. Ohne Empfindsamkeit also sah Heinrich auf die Sachenwelt und ihren Gott, lateinisch nach Klarstellung und Genauigkeit aller Bezüge strebend, ein unmystischer südländischer Mann, seines Verstandes und Gedächtnisses wie seiner tätigen Kraft froh, und all das »Unvernünftige«, Schicksalhafte, als nicht zum eigentlichen Leben gehörig betrachtend. Aber die Schwermut alles sehr großen Tuns, ins Denken nicht zugelassen, war doch da, in den Sinnen, die immer wieder aus dem Maße brachen und ihm die Welt unter der lateinisch klaren nachmittägigen Sonne gerade nur ein klein wenig entstellten.


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