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IX

Der Januar dieses Jahres 1601 war grausig kalt. Die Wölfe kamen bis an die Vororte von Paris heran, wagten sich aber jetzt nicht mehr so in die Straßen wie noch fünf Jahre zuvor, da einer am hellen Tage über die Seine geschwommen war und mitten auf dem Grève-Platze ein Kind niedergerissen hatte, das sich am Anblick eines Gehenkten erlustigt hatte. Der Schnee machte die elenden löchrigen Straßen noch unwegsamer, und mit der Seltenheit der Gefährte wurden die vielen Straßenräuber kühner als die Wölfe. Sie hatten in den langen Kriegen das Wohnen verlernt und das Rauben als dem katholischen wie dem protestantischen Gotte wohlgefällig erfahren, da es den Krieg nährte und den Führern Sold sparte. Jetzt gab es keinen Krieg mehr, aber Waffen und Pferde waren ihnen geblieben. Wer kehrte sich an des Königs Verbot aus dem Jahre achtundneunzig, das den mit Schußwaffen Angetroffenen strengste Strafen androhte? Gehängt würde man am Ende so oder so. Die Orléaner Postkutsche wurde bei Chartres von zwei Bewaffneten angehalten und völlig ausgeplündert. Solches geschah jeden Tag. In die Häuser der Bauern brachen sie und nahmen, was sie fanden. Wenn die Streiftrupps der Stadtprofoßen durch die Dörfer kamen, verkrochen sich die Leute vor ihnen ebenso wie vor den Straßenräubern und begriffen den Unterschied zwischen solchen und anderen Bewaffneten noch nicht. Ja, es war Frieden im Lande, sie hatten einen König, den sie leben lassen konnten, neuerdings auch eine Königin. Und es hieß, jetzt würde alles besser werden. Aber es ging furchtbar langsam. Die Abgaben waren hart, das Geld rar, und noch immer stand es mit dem Ausmaße des Anbaus und dem Vieh so, daß die meisten nicht wußten, wie sie durch den Winter kommen sollten. Doch waren die, die etwas hatten, reich zu nennen, gemessen an der ungeheuren Menge derer, die auf eine in allem heutigen Elend unvorstellbare Weise arm waren. Denn geregelte Wohlfahrtseinrichtungen gab es nicht und zu den seltenen Armenspeisungen und den unregelmäßig gegebenen Bettlersuppen drängten sich zehnmal mehr Leute, als es Portionen gab. Die Almosen waren rar und gering. Wenn die Großen einmal, um Gottes willen, deren gaben, dann ging es damit zu wie bei dem Begräbnisse eines sehr großen Herrn, das mehr als dreitausend Taler gekostet hatte: die als angemessen erachteten Almosen, die dabei unter viele Hunderte von Armen verteilt wurden, betrugen hundert Taler. Es stand noch immer nicht viel besser als ein paar Jahre vorher, aus denen berichtet wird, daß so dichte Prozessionen von Armen durch die Pariser Straßen zogen, daß man durch sie nicht mehr hindurch konnte, und die vor Hunger schrien, indessen in den Häusern der Reichen üppige Gelage abgehalten wurden; oder an anderer Stelle: »... Während von allen Seiten die elenden Kinder Jesu Christi in Haufen ins Hôtel-Dieu gebracht wurden, so ausgetrocknet und dürr, daß sie, kaum hingelangt, den Geist aufgaben, gab es in Paris viel Tanz und Mummenschanz. Festmähler und Gelage, zu fünfundvierzig Talern das Gedeck, wurden veranstaltet, und prächtige Frühstücke mit dreimaligem Auftragen, wobei Zuckerwerk, getrocknetes Eingemachtes und Marzipane so wenig gespart wurden, daß die Damen und Fräuleins genötigt waren, sie den Pagen und Lakaien zu überlassen, denen sie auch zur Gänze gegeben wurden. Desgleichen war in Kleidung, Ringen und edlem Gestein die Verschwendung eine solche, daß es der Edelsteine bis auf die Spitzen ihrer Schuhe und Pantoffel gab ...« Dazu flackerte in Paris immer wieder die Pest auf, und in den Lumpen der Verstorbenen wurden ihre Keime in andere Viertel und aufs flache Land getragen. Blattern, Scharlach, Röteln und andere Seuchen, die mit immer neuem Namen genannt und von den Ärzten stets den Witterungseinflüssen zugeschrieben wurden, verheerten in kurzen Zwischenräumen Städte und Land, und vor allem die Kinder, unterernährt und in luftlose Kammern zusammengepfercht, starben zu Tausenden. Einzelne Pfarren vermerken zuweilen für ein paar Wochen bis an achthundert Kinderbegräbnisse. In diesem Jahre 1601 wurden in Paris, das damals etwa zweihunderttausend Einwohner hatte, in etwas mehr als einem Monate über fünftausend Menschen, die an Seuchen gestorben waren, begraben.

Wenngleich Glockengeläute, die Schüsse von Sullys Kanonen, prunkvolles Einholen und festlicher Aufwand beim Tedeum in Notre-Dame der endlich nach Paris gekommenen Königin die besten Eindrücke zu geben suchten, hätte Marie den wahren Zustand Frankreichs doch recht bald ahnen können, wenn solche Ahnung ihrer Natur gegeben gewesen wäre. Ihr erstes Quartier war nicht der Louvre, sondern ein Kardinalpalast, aus dem sie dann in das Haus ihres Landsmannes Zamet übersiedelte. Als sie den Louvre in seiner Verwahrlosung endlich sah, meinte sie erst, man habe sich einen Scherz mit ihr erlaubt, indem man das für den Palast der Könige von Frankreich ausgegeben habe. Dann aber rümpfte sie die Nase, redete vom Palazzo Pitti, hielt alles für böswillige Nachlässigkeit und benahm sich wie eine rechte verwöhnte Bankierstochter, die nicht begreifen will, daß man kein Geld haben könne. Und dazu der Zustand von Paris! Der gefrorene Schnee verhüllte ja viel, aber was zu sehen war auf der ersten Fahrt zur Messe von Saint-Germain, dem großen alljährlichen Winterereignis der Pariser, war da und dort doch recht kläglich. Da war, zum Beispiel, der Quai des Augustins, gerade dem Louvre gegenüber, wo der kaum noch Straße zu nennende Weg gegen den Fluß zu abgebröckelt und voll von Löchern war, so daß kaum eine Woche verging, ohne daß nicht nachts hier Gehende in die Seine stürzten. Eine kärgliche Straßenbeleuchtung gab es wohl neuerdings in ein paar Hauptstraßen, aber selbst hier wagte man in nebligen Nächten die Glieder, wenn man nicht selber seine Laterne mit sich trug. Und als dann der Schnee zu tauen begann und all der Unflat der Straßen aus der Frostverkleidung wieder zu stinkenden Haufen und Rinnsalen wurde! Entschieden, Paris gewann nicht im Vergleich mit dem kleinen Florenz, das aus der alten wohlgefügten Polis allmählich zum Prunkgegenstande sehr reicher Kaufleute, der Medici, geworden war. Dieses Paris, das zwei Belagerungen, Barrikaden und Parteikämpfe, fremde Besatzungen, Seuchen und Hungersnöte eben hinter sich hatte, war, in seiner Lebenszähigkeit, seiner narbigen Fröhlichkeit und seinem Gemengsel von Herrlichkeiten und Verwahrlosung, sehr seinem Herrn Heinrich ähnlich. Man mußte Augen haben oder die rechte Liebe, um seine Stadt sehen zu können – und auch ihn. Marie war nicht augenlos, aber sie sah Einzelheiten, störende besser als erfreuliche, auch noch in ihrer einzigen über das Persönliche hinausgehenden Vorliebe, dem Mediceer-Erbteil einer gewissen Freude an Architektur. Aber wäre sie auch um ein Vielfaches begabteren Herzens und Verstandes gewesen, so hätte sich in diesen ersten Pariser Tagen doch ihr Blick und Urteil leicht trüben können, denn es geschah ihr – und nicht ihr allein – etwas, das auch eine andere Frau, ohne die Einflüsterungen einer Galigai oder den überempfindlichen Hochmut dieser neuen Königin, hätte leiden machen müssen.

Henriette d'Entragues
Privatbesitz

Zartgefühl in den Dingen der Liebe und Ehe gehörte gewiß nicht zu den Eigentümlichkeiten dieser vielgeprüften und robusten Epoche. Was nicht gegen Brauch oder religiöses Gebot ging, also lächerlich oder verboten war, mochte jeder tun, wie es ihm recht schien. Wie sollte da ein mächtiger König, der sein Leben als ein Soldat und Edelmann und rechtes Kind seiner Zeit gelebt hatte und zudem voll einer derben Sinnlichkeit war, zarte Gefühle empfinden oder anerkennen, wo es ihm heftig darum ging, es sich mit zwei Menschen oder vielmehr zwei Frauen nach seinem Wunsche einzurichten! Dieser Wunsch, bequem die eine haben zu können, ohne die andere missen zu müssen, hatte ihm den Gedanken eingegeben, daß Marie und Henriette sich aufs prächtigste würden miteinander verständigen lernen. Marie würde einsehen müssen, daß ein König und Mann wie er an einer Frau sein Genügen nicht haben könne; und Henriette würde ihre hoffärtigen Narreteien und Tücken wohl verlieren, wenn sie erst begriffe, daß da eine Königin war, die, so Gott hülfe, bald Mutter eines Thronerben sein würde. In dieser Überzeugung konnte Heinrich es gar nicht erwarten, bis sich eine halbwegs natürliche Gelegenheit böte, die Geliebte seiner Gattin vorzuführen, sondern er zwang diese Gelegenheit baldigst und nicht ohne Mühe herbei. Die erste Prinzessin von Geblüt, der er dies angenehme Amt aufgetragen hatte, zog es vor, eilig krank zu werden. Doch er fand eine andere. Und Marie, die bis in jede bekannte Einzelheit die Geschichte Heinrichs und Henriettes kannte, stand mit papierweißem, völlig starrem Gesichte neben dem Gatten, als die beiden dazu befohlenen Prinzessinnen die Marquise von Verneuil vorstellten. Heinrich sagte: »Diese Frau war meine Geliebte, und sie will hinfürder Ihre unterwürfige Dienerin sein.« Nun hatte nach der Sitte Henriette die große Verbeugung zu machen und das Kleid der Königin zu küssen. Aber diese Verbeugung erschien dem König nicht tief genug. Vortretend faßte er Henriettens Hand und riß sie vorwärts, so daß ihre Lippen den Saum des Kleides wenig über dem Boden berührten. Diese Szene, die wir von Shakespeare, dem Altersgenossen Heinrichs, in einer Heinrich IV.-Tragödie gestaltet zu haben wünschten, diese erste Begegnung Maries und Henriettens gab der Beziehung der beiden Frauen die Gestalt, an der Heinrich mit all seinem Königs- und Manneswillen nichts mehr zu ändern vermochte, und daraus sich ein gut Teil des Lebens, das ihm noch gewährt war, mitformte.

Henriette d'Entragues
Quelle: Wikipedia

Wenn Heinrich gedacht hatte, sich mit seiner Eheschließung in eine Art Ruhestand des Herzens zurückzuziehen, zu dessen Behaglichkeit Henriette für ihn freilich mitgehörte, und der ihm nunmehr alle seine Kräfte für die Aufgaben seines Königtums freimachen würde, hatte er freilich so gründlich geirrt wie die vielen alten Theaterstücke und Romane, die mit einer Heirat enden. Dieser erhoffte Herzensfrieden, voll Fruchtbarkeit in Tun und Nachwuchs, verkehrte sich vielmehr in eine zwar auch recht herbstgemäße Zeit, aber ohne stille Himmel und spätgoldene Nachmittagsserenität. Es war, als hätte nun das Herbstäquinoktium in Heinrichs Leben angehoben. Wenn aber auch um diese Zeit zwar Tag und Nacht gleich lang sind und Geburt und Tod gleich ferne scheinen, so beginnt doch eben dann unter den südlichen Himmelsstrichen, aus denen Heinrich kam, das wilde Stürmen, das sich gegen die wachsende Nacht zu wehren scheint. Gewitternd zuckt es zwischen den Trieben eines Lebens und seiner Welt draußen, und Stürme werfen sich mit der letzten Heftigkeit der Jugend gegen die Gewißheit von Abstieg und nahendem Abend. Unrast und Verwirrung sind verhängt, bis das Lebendige sich darein schicken lernt, daß es gegen Abend geht. Heinrich hat es nicht gelernt.


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