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Dritter Teil

XXV

»Im Jahre 1600, während Heinrichs Zeit und Tatkraft erst von seinen Verhandlungen und dann von seinem Kriege mit Savoyen, von seiner Scheidung von Margarethe von Valois, seiner Heirat mit Marie Medici und seinen Beziehungen zu Henriette d'Entragues in Anspruch genommen zu sein schienen, verfolgte er mit erstaunlichem Interesse und Ausdauer die Verbreitung der Seide bis in die geringsten Einzelheiten.« Vier Jahre zuvor war eine höchst bedeutsame Denkschrift über den elenden Zustand der Industrie in Frankreich an den König gelangt, die damals, noch mitten im Kriege mit Spanien, in Ziffern und statistischen Tatsachen, ihm ein Bild von Erzeugung und Verbrauch in seinem Lande darbot. Insbesondere war sein Augenmerk auf das Mißverhältnis zwischen den unbedeutenden Hervorbringungen der französischen Luxusindustrien und der ungeheuren Menge solcher aus dem Auslande eingeführten Rohstoffe und Waren gelenkt worden, worunter rohe und verarbeitete Seide die größte Bedeutung hatten. Der Verfasser dieser Denkschrift wies nach, daß in Frankreich etwa sechs Millionen Taler, was beinahe zwei Fünfteln der damaligen Staatseinnahmen gleichkam, für zum allergrößten Teil ausländische Seide ausgegeben würden. Heinrich horchte hoch auf. Er redete nicht mehr viel von Abhilfe, sondern ging daran, sie zu schaffen, wie er überhaupt, so gern er und so viel und breit er sonst redete, überall dort, wo er etwas zu tun sah, solches Tun meist wortlos, oft bei den kleinsten Dingen beginnend, zäh in Angriff nahm. Er hielt es wie ein kluger und tüchtiger Gutsherr, der, vor allem um seiner selbst und der Familie willen, den Besitz in den besten Stand zu bringen sucht, was hernach auch allen Anderen zugute kommen möge. Aber hier wie bei allen seinen großen Reformen war in Heinrich nichts von Reformermoral und Umstürzlerdoktrinen. Er wollte nicht heraus aus seiner Zeit, die er liebte, weil es die seine war. Er wollte einfach das Törichte vernünftiger, das Unbrauchbare nützlich, das Unfruchtbare ertragreich machen, eben wie ein rechter Haus- und Landherr, der, um des Besitzes und Wertes willen, sowohl wie um der Freude daran, daß Natur und Menschen nach ihrem Orte und ihren Kräften das Rechte hervorbrächten, auf das viele Seinige sieht. Weil Land und Haus so groß und für die Franzosen selber schon beinahe die Welt waren, ging es mit den Praktiken allein nicht mehr ab; sie mußten zueinander gedacht werden, wie der zum großen Kaufmann gewordene Krämer endlich zum Hauptbuch übergehen muß. Und weil so vielerlei, der ganze Lebenshausrat eines großen vielgestaltigen Landes, in diesem Buche stand, war endlich auch etwas wie eine Theorie nicht mehr entbehrlich, wie wenig auch der Verwalter alles dessen ihrer gewahr wurde. Immer jedoch fing es mit dem Erproben und der Praxis an. Zum Erproben aber gehörte vor allem, recht bald den richtigen Mann zu finden, der die Sache, um die es ging, von Grund auf verstand. In diesem Finden und Erkennen der rechten Leute und in ihrer Verwendung und Handhabung hatte Heinrich nicht nur Glück, wie manche sagen. Diese Manchen, zu allen Zeiten, auf die Goethes Verse zielen: »Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Toren niemals ein«, sahen nicht, wie geschwind und wie unfehlbar Heinrich Zugriff, wenn er den rechten Mann gefunden meinte, und wie er dessen Schwächen und seinen ganzen Charakter so richtig in seine Rechnung einbezog, daß diese fast immer völlig aufging.

Nach den ersten, zögernden praktischen Versuchen zur Ausbreitung der Seidenraupenzucht in Frankreich fand sich auch hierfür – wie hernach für vieles, was die so verbesserungsbedürftige französische Agrikultur anging – der allerrichtigste Mann. Dieser Olivier von Serres, ein Südländer wie Heinrich selber, hatte, aus jahrzehntelang geübten Verbesserungen auf seinen eigenen Besitzungen im Languedoc, die umfassendsten landwirtschaftlichen Kenntnisse und insbesondere genaue Erfahrungen in der Aufzucht der Seidenraupe sowohl, wie in den Lebensbedingungen ihres Ernährers, des Maulbeerbaumes, erworben. Er war es nicht nur, der darauf hinwies, daß der weißfrüchtige, erst zu Ende des Mittelalters aus Ostasien oder Nordindien nach Europa gekommene Maulbeerbaum die Raupe zu viel feinerem und edlerem Gespinst anrege als der schwarzfrüchtige, der seit dem griechischen Altertum in den Mittelmeerländern verbreitet war. Er kannte auch die Lebensbedingungen dieses Baumes aufs gründlichste, den die Alten, wie Plinius berichtet, arborum sapientissima nannten, den klügsten Baum, weil er sein Laub erst so spät hervortreibt, daß ein Frostschaden nicht mehr zu fürchten ist. Serres war es vor allem, der die Ursachen erkannte, warum die von den Italienzügen früherer französischer Könige nach Frankreich gebrachten Maulbeerbäume meist nicht gedeihen oder sich nicht vermehren wollten. Er stellte die Regel auf, daß dieser in milden Klimaten heimische Baum überall dort gedeihen könne, wo auch der Weinstock wachse. Dieser Regel vor allem, aber auch einer ganzen Reihe anderer Anweisungen, die Serres auf königlichem Auftrag in einer lange vorbildlich gebliebenen Schrift zusammenfaßte, folgte Heinrich in seinem Unternehmen, das er mit einem großzügigen Beispiel für ganz Frankreich begann. Die Ersparnis gewaltiger, vordem ins Ausland gegangener Summen, Hebung des Wohlstandes und damit der Steuerkraft von Bauern, Handwerkern und Händlern, lockten ihn zu diesem Unternehmen und noch ein Nebengedanke praktischer Naturliebe: in den kriegerischen Jahrzehnten waren wie in den biblischen und antiken Kriegen in Frankreich nicht nur Häuser verbrannt und Viehherden weggetrieben worden, es waren auch sehr viele Bäume umgehauen worden, die es in langer Fürsorge zu ersetzen galt. Wenn auch die schnell verderbende Frucht des Maulbeerbaumes wenig galt, noch sein Holz viel taugte, so hatte er dafür zu der Reichtümer schaffenden Tugend seines Laubes noch die Eigenschaft, schneller zu wachsen als die meisten Bäume. In wenigen Jahren konnte er Schatten geben und im Winterschnee wegweisend die vielen neuen Straßen und Wege säumen, die in Arbeit oder geplant waren; er konnte neuentstehende Hütten und Häuser bald umgrünen, und viele seinesgleichen sollten wachsen, da sein, Zeichen der Seßhaftigkeit und neuer Lust am Wohnen und Bereichern der Erde, die uns bereichert.

Da um Paris damals noch ein ganz leidlicher Wein gedieh, mußte nach Serres' Regel sich die Hauptstadt selber und ihre Umgebung zur Anpflanzung des Maulbeerbaumes wohl eignen, was Heinrich für die Anfänge höchst willkommen war, da er sonst bei dem Eifer und der Art, mit denen er dieses Unternehmen weitertrieb, viele Zeit hätte in anderen Teilen des Landes verbringen müssen. Denn es lag ihm daran, daß unter seinen Augen die Pflanzungen angelegt, die Aufzucht der Raupen unternommen und alle Versuche zur ersten Verarbeitung der gewonnenen Seide angestellt würden. Von Verschwörungen umdroht, mit tausend Aufgaben eines von Grund auf neu zu ordnenden Staates beschäftigt, von Liebesfehden, Hofintrigen und Plackereien einer friedlosen Ehe bedrängt, hielt er durch Jahre Wache, bis das Begonnene nicht mehr zu überblicken und ins ganze Leben der Nation aufgegangen war.

Heinrich begann mit großen Pflanzungen von Maulbeerbäumen in den Gärten aller königlichen Schlösser. Als sie alle prächtig gediehen und Bauern wie Bürger Lust zeigten, in der Umgebung und der Hauptstadt selber auch einen Versuch zu machen, ließ er Pflänzchen aus seinen Baumschulen abgeben und deren viele Zehntausende aus dem Süden kommen. Im März 1603 schrieb er an Sully: »Mein Freund, ich bitte Sie, Rahmenwerk und Dacharbeiten meiner Orangerie in den Tuilerien beschleunigen zu lassen, damit ich mich ihrer in diesem Jahre zur Aufzucht der Eier der Seidenraupen bedienen kann, welche ich aus Valencia in Spanien habe kommen lassen, denn man wird diese auskriechen lassen müssen, sobald die Maulbeerbäume genügend Triebe zu ihrer Ernährung haben. Sie wissen, wie mir das am Herzen liegt, darum bitte ich Sie, sich um diese Arbeiten zu bekümmern und sie beschleunigen zu lassen ...« Daß Heinrich damals, da dieses Unternehmen schon schön gediehen war und sich in seinen ersten Erfolgen als weit mehr denn ein königliches Spiel erwies, sich mit einer darauf bezogenen Bitte gerade an Sully wandte, barg einen kleinen Dorn freundschaftlicher Ironie; denn Sully hatte sich lange mit einem ganzen System von ökonomischen, administrativen und sogar militärischen Einwänden gegen die Anfänge dieser Versuche und Heinrichs Entschluß, sie durchzuführen, gewehrt.

Zu den Maulbeerpflanzungen und den Einrichtungen zur Aufzucht der Raupen hatte Heinrich am Ende des Tuileriengartens eine Art Versuchsanstalt zur ersten Verarbeitung der Seide gefügt, an die sich, mit dem wachsenden Erträgnis, an mehreren Orten die ersten Manufakturen schlossen, für die ein erfahrener Italiener als Leiter bestellt wurde. Über die ersten Ergebnisse wird berichtet: »Die im Jahre 1602 in den Spinnereien der Tuilerien und des Lustschlosses Madrid« (in der Nähe von Paris) »gewonnenen Seiden wurden den Leitern und Arbeitern der Manufaktur übergeben, die in Paris zur Färberei und Weberei der Seide eingerichtet worden waren. Diese verglichen sie mit den feinsten italienischen Seiden, denen von Santa Lucia in Sizilien, von Bassano und Bologna, aus denen die Italiener Atlas und Krepp machten: die Pariser Seiden wurden feiner, leichter und glänzender befunden. Überdies erklärten die Arbeiter nach der Verarbeitung, daß fünfzehn Unzen französischer Seide die gleiche Menge Stoff ergäben wie achtzehn Unzen italienischer Seide.« Nach diesem Erfolge ließ es Heinrich keine Ruhe, bis alle dafür in Betracht kommenden Provinzen Frankreichs für die Aufzucht der Seidenraupe gewonnen waren. Er fand dabei eine kräftige Unterstützung an dem Klerus, von den Erzbischöfen angefangen bis zu den kleinsten Dorfkaplänen. Überall wurden junge Maulbeerbäume zur Anpflanzung verteilt und die Eier der Raupe mit genauen Anweisungen zur Aufzucht verschenkt, oder, wo es sich um Wohlhabende handelte, zu geringfügigstem Preise abgegeben. Kommissionen durchreisten die Provinzen, forschten die geeigneten Landstriche aus und verkündeten das Evangelium der Seide, ebenso wie vielverbreitete Schriften. In einer der meistgelesenen unter ihnen wurden die ersten Ziffern angeführt – die besten Prediger –, wie etwa: daß die Dienstleute eines Adelspalastes in Paris mit dem Laube der im Garten gepflanzten Maulbeerbäume Seidenraupen aufgezogen hätten, »die Raupen hätten ihnen achtzehn Pfund Seide gegeben, die für vierundachtzig Taler oder zweihundertundzweiundfünfzig Livres der Zeit verkauft wurden, und nach Abzug von zwanzig Talern Kosten vierundsechzig Taler oder hundertzweiundneunzig Livres Reinertrag gaben«. Dazu ist noch zu sagen, daß diese hundertzweiundneunzig Livres etwa siebenhundert Goldfranken entsprachen, von einer Kaufkraft, welche die der jetzigen Goldmark um das Doppelte überstieg.

Im Jahre 1605 ordnete ein königlicher Erlaß die Anlegung einer Baumschule von fünfzigtausend weißfrüchtigen Maulbeerbäumen für jedes französische Bistum an. Für die Verarbeitung der von Jahr zu Jahr wachsenden Seidenmengen wurden immer mehr Manufakturleiter und Arbeiter aus Italien verschrieben, die nach und nach alle Fabrikationsgeheimnisse der italienischen Seidenindustrie der französischen vermittelten. Die paar altväterischen Manufakturen im Süden lernten und erweiterten sich, immer neue entstanden, die sich mehr und mehr auf die Herstellung der einen oder anderen Art besonderen Gewebes einrichteten. Und um das Jahr 1610 gab es keine ansehnlichere Stadt in Frankreich mehr, die nicht ihre Seidenmanufaktur gehabt hätte.

In wenigen Jahren schon machte sich der Erfolg dieser Neuerung im ganzen Wirtschaftsleben der Nation, von den Staatskassen bis zum Beutelchen der kleinen Bauern, fühlbar. Die vielen Millionen Taler, die vordem in die Fremde gegangen waren, begannen jetzt in den Adern und Äderchen Frankreichs zu kreisen; der Bauer, der in der Familie immer mehr Arbeitskräfte als Land gehabt, hatte nun ertragreiche Beschäftigung für die Überzähligen; der Kleinbürger züchtete selber Seidenraupen oder schickte etliche seiner Kinder in die nach Arbeitskräften verlangenden Spinnereien und Webereien, der Bürger die seinen als Lehrlinge zu den neuen Händlern und Aufkäufern. Die vordem Seide nur dem Namen nach gekannt hatten, konnten jetzt selber zuweilen ein Tüchlein oder gar ein Paar Braut- oder Feststrümpfe kaufen. Und wenn die Rede auf Seide kam, rieb sich der König die Hände, und in seinen kleinen hellen Augen war ein schlauer Elefantenblick. Er erlebte auch noch, daß der Ruf der französischen Seide über Frankreichs Grenzen zu dringen begann, aber nicht mehr, daß alle anderen Seiden daneben schließlich als geringwertig betrachtet wurden und daß Frankreich, trotz der ständig wachsenden Raupenaufzucht im Lande, endlich in Italien und der Levante ungeheure Mengen roher Seide kaufen mußte, um der Ausfuhr genügen zu können, dank der mächtigere und dauerhaftere Goldströme nach Frankreich flössen, als Spanien in Amerika ausgeschöpft hatte.


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