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Vierzehntes Kapitel.
Gefahr und Rettung

Wir haben erzählt, mit welcher Standhaftigkeit Angelica das ungeheure Schicksal, das über sie hereingebrochen war, ertrug; erst als Reinhold, gefesselt, unter den Verwünschungen der Dienerschaft, hereingeführt ward, brach sie laut weinend über dem theuern Leichnam zusammen. Durch welchen Anblick fühlte sich ihr Herz mehr zerrissen, durch den Todten hier, oder dort den Lebenden?

Auch Reinhold zeigte sich durch den Anblick des geliebten, jetzt so entstellten Freundes aufs Tiefste erschüttert. Ich sein Mörder! rief er, indem er die gefesselten Hände gen Himmel streckte: ich, der ich ihn geliebt habe, wie einen Bruder, ja der ich sein Bruder gewesen bin, der ich noch seinen Ring auf meinem Herzen trage …!

Wo? fragte der Justizrath hastig.

Erst jetzt erinnerte der junge Mann sich, daß er den Ring abgelegt und bei den übrigen noch unverkauft gebliebenen Sachen zurückgelassen. Ich irre mich, stammelte er, ich habe ihn im Augenblick nicht bei mir …

Und Sie zweifeln noch, daß Sie den Mörder vor sich haben? sagte die Baronin triumphirend zum Justizrath: Ich will Ihnen noch mehr sagen, in diesem Moment, an den Blicken, die sie so eben wechselten, habe ich es erkannt –: er ist der Buhle dieser Dirne hier (indem sie auf Angelica deutete), es ist ein Complot zwischen diesen Beiden, Angelica ist nach ihrem eigenen Eingeständniß zuletzt mit Julian im Garten gewesen; ich bestehe darauf, daß diese Dirne verhaftet wird – sie ist die Mörderin ihres Bruders!

Reinhold fuhr wüthend in die Höhe – ach, seine Hände waren ja gefesselt!

Ob die Baronin selbst an die entsetzliche Beschuldigung glaubte, die sie auf das unglückliche Mädchen schleuderte? – Wir zweifeln. Aber Julian war todt, Herrn Wolston hielt sie für todt, Angelica war die einzige Nebenbuhlerin, die noch übrig blieb; wer will ermessen, wohin unter diesen Umständen die Phantasie eines Weibes sich verirren konnte, gleich der Baronin?

Reinhold war vor Angelica auf die Knie gesunken. Hören Sie, rief er, hören Sie, wessen der Wahnsinn uns beschuldigt? Erheben Sie Ihre Stimme, sprechen Sie, gnädiges Fräulein, nicht für mich, nur für Sich selbst! sagen Sie, daß Sie unschuldig sind, schmettern Sie mit einem einzigen Blick Ihres treuen Auges die verbrecherische Anklage zu Boden – und lassen Sie Ihr Herz entscheiden, ob ich schuldig bin, schuldig sein kann!

Sie sind unschuldig, sagte Angelica kaum hörbar: aber ich bin schuldig, ich hätte meinen Bruder nicht verlassen sollen …

Sie gesteht es selbst ein, sie hat sich selbst für schuldig bekannt! rief die Baronin, auf welche plötzlich der ganze Haß des Herrn Wolston sich vererbt zu haben schien: Ich mache Sie noch einmal verantwortlich, Herr Justizrath, daß dieses junge Mädchen verhaftet wird!

So laut sie es schrie, so hörte der Justizrath doch nur halb danach hin; ein langer hagerer Mann, der sich schon seit einiger Zeit in seine Nähe gedrängt hatte, flüsterte ihm ins Ohr. Es war der lange Karrenschieber.

Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Herr Justiz, sagte er, ich bin unschuldig, ganz wahrhaftig; ich bin der friedlichste Mensch auf Erden, fragen Sie jedes Kind, das mich kennt – wenn ich auch mitunter das Maul etwas vornweg habe, so mein' ich es doch nicht so –

Wird's? schnaubte der Justizrath ihn ungeduldig an.

Ich bitte tausendmal um Verzeihung, bester Herr Justiz, fuhr der Andere immer demüthiger fort: aber als guter Bürger – und wenn ich am Ende wohl noch selbst darüber in Strafe kommen soll – es ist ja doch Menschenpflicht, daß Einer dem Andern beisteht, und leben will der Mensch ja auch – aus eigenen Kräften und ohne das Geld, das mir die Wirthin dazu hergab, hätte ich es gar nicht betreiben können, ganz wahrhaftig nicht – die Wirthin hat mehr Schuld als ich – und überdies ist es ja auch ein ganz erlaubtes und anständiges Gewerbe. Ich wollte nur sagen, gnädigster Herr Justiz, setzte er eilig hinzu, da er sah, wie der Justizrath bereits nach Leuten winkte, die ihn beim Kragen nehmen sollten: daß mein guter Freund, der rothe Konrad – das heißt so viel als nicht eigentlich mein Freund, nur so ein Bekannter – Sie verstehen schon, Herr Justiz, er brachte immer viel durch, der Konrad, na ja – er hat mir, fuhr er immer ängstlicher fort, vor etwa anderthalb Stunden diese Sachen in Versatz gegeben – er sagte mir, er hätte sie vom Herrn Commerzienrath geschenkt gekriegt – nicht so eigentlich gutwillig geschenkt, aber doch geschenkt …

Damit langte er aus der unergründlichen Rocktasche Uhr, Kette, Ring hing hervor, die sofort sämmtlich als Julian's Eigenthum erkannt wurden. Reinhold's Sache schien sich dadurch günstiger zu gestalten. Andere indessen machten darauf aufmerksam, daß Konrad Reinhold's Schwager, und daß also eine Gemeinsamkeit des Verbrechens noch keinesweges zu den Unmöglichkeiten gehöre; für keinen Fall dürfe man ihn eher loslassen, als bis der wahre Mörder erwischt und geständig. Der Justizrath schickte einige geeignete Personen, um die Herbeiführung des rothen Konrad zu bewirken.

Wiederum schloß sich ein großer Theil der Versammlung daran an und der Saal war auf diese Art ziemlich entleert, als plötzlich von der Seite, wo die Kinder zusammengedrängt standen (denn hier hatte sich noch kein Mensch um die armen Würmer gekümmert), zunächst den Maschinen, ein durchdringendes Jammergeschrei laut ward.

Und wie hätten die Kinder nicht aufschreien sollen, da dies ein Anblick war, bei dem dem kühnsten Manne selbst das Blut in den Adern stockte?

Es ist erzählt worden, daß seit dem unglücklichen Ereigniß mit Julian die Thüren des Maschinensaals für Jedermann offen standen, und daß unzählige Menschen unbeobachtet aus- und einströmten.

Auch der Vater des Meisters war darunter. Da bei der furchtbaren Entscheidung, welche der Meister jeden Augenblick in seinem eigenen Hause erwarten mußte, für den blödsinnigen Alten daselbst kein Platz war, so hatte er ihm ein Stück Brot in die Tasche geschoben und hatte ihn geheißen, zum Schulmeister zu gehen; der Alte machte dergleichen Gänge öfters, und bei der völligen Harmlosigkeit seines Wahnsinns hatte es auch wirklich nichts zu sagen, so wenig für ihn als für Andere. Allein draußen angekommen, war er von dem Menschenstrom ergriffen worden, der aus allen Straßen und Winkeln des Dorfs zu den Festlichkeiten im Schlosse drängte. Er hatte sich mit fortschieben lassen, anfangs aus Furcht, dann aus Gutmüthigkeit, endlich war er aus eigener Neugier mitgegangen. Die Musik, die Fahnen, die geputzten Leute, das Alles machte ihm großes Vergnügen. Mit der Zeit war er auch mit in den Maschinensaal geschlüpft; wie er die großen Räder, Stangen, Kolben erblickte, hatte er laut in sich hineingekichert und in die Hände geklatscht: Meine Maschinen, rief er, meine lieben kleinen Maschinen …!

Immer näher, immer dichter hatte er sich herangeschlichen, Niemandem war die kleine, geduckte, grauhaarige Figur aufgefallen, zwischen den Kindern, denen er vorsichtig Schweigen zuwinkte, hindurch, mitten hinein in das Gewirre der künstlich verschlungenen Räder; wer ihn ja dazwischen handtiren sah, wie er dort mit der Hand wohlgefällig über eine Walze strich, hier die Zähne an einem Kammrad befühlte, jetzt vor dem Ofen niederkauerte und Kohlen über Kohlen hineinschaufelte, hatte höchstens gedacht, es wäre ein Arbeiter, der zu den Maschinen gehörte, und er wäre da an seinem Platze.

Da auf ein mal geht ein dumpfes, zitterndes Dröhnen durch den weiten Raum; die Räder setzen sich in Bewegung, die Axen stöhnen, die Schrauben klappern, erst langsam, dann schneller, immer schneller – riesenhafte Kolben tauchen auf und nieder und schmettern dröhnend an einander – zischend, pfeifend fährt der Dampf in die Höhe – Flammen schlagen, prasseln, lecken gierig aus den überheizten Oefen – mit Gedankenschnelle knistert die Glut an dem rings aufgehängten Tannenreisig empor – eine ungeheuere Lohe wälzt sich vom Hintergrund des Saales her …

Mitten in der furchtbaren Zerstörung, auf einer schmalen, eisernen Galerie, welche in etwa doppelter Mannshöhe zwischen den Maschinen hinlief, um von dort aus alle Theile gehörig beobachten und in Gang erhalten zu können, stand der blödsinnige Alte; je toller die Räder rasselten, je höher die Flammen züngelten, desto lauter jubelte er.

Heida, lustig, rief er, indem er auf der schmalen Brücke auf und ab tanzte und jetzt mit beiden Händen das leichte eiserne Geländer erfaßte, als wollte er die ganze Brücke in Trümmer reißen und sich mit ihr hinabstürzen in das Chaos unter ihm: – heida, lustig, dreht euch, meine Rädchen! ich habe meine lieben Rädchen wieder, meine lieben allerliebsten Maschinen! Aha, sie dachten, ich wäre verrückt, sie dachten, meine Maschinen gingen nicht – so recht, blast, schnauft, stöhnt – hopp, hopp, immer munter – willst du wohl artig sein, du lange schwarze Schlange da, und nicht so nach mir schnappen? Ich bin dein Meister – heida, meine lieben Rädchen, euer Meister ist da!!

Gab das zierlich gearbeitete Gitter seinem furchtbaren Rütteln nach oder schwang er sich absichtlich über dasselbe hinweg – Ein geller Aufschrei, Ein Sprung, Ein Fall – und gleich gefräßigen Ungeheuern zerrten, knackten, knirschten die Räder und Walzen an den Knochen des zerschmetterten Greises.

Niemand sah, wie er starb; mit fürchterlichem Angstgeschrei hatte Alles, was nur im Saale war, sich dem Ausgange entgegengestürzt. Die Baronin war unter den Ersten, welche das Freie gewannen; ihr nach, mit abgerissenen Rockschößen und die Brille hoch über dem Kopfe haltend, Herr Florus. Die kleinen weißgekleideten Kinder quiekten, als würden sie alle gesotten; sie liefen, fielen, stürzten über einander hin, rafften sich wieder auf …

Der Justizrath hatte in rascher Besonnenheit eines der großen Fenster aufgerissen. Nur zuerst mit den Bälgen hinaus! rief er, und rasch fanden sich hilfreiche Hände, welche die Kleinen von Arm zu Arm zum Fenster hinaus ins Freie reichten.

Aber jetzt drängte der Rest der Fabrikarbeiter nach; hatten sie das Räderwerk wirklich nicht mehr zum Stillstand bringen und die Flamme bewältigen können, oder war es ihnen auch eben genehm, daß die ganze Anlage in Feuer aufging, gleichviel – mit wildem Halloh Alles vor sich niederwerfend, stürzten sie auf Thüren und Fenster los: Hinaus! hinaus! schrien sie: rette sich wer kann! das ganze Gebäude fliegt in die Luft!!

Der Schreckensruf wirkte; selbst der Justizrath wurde davon hinweggerissen; in wenigen Minuten war der Saal eine Einöde voll Dampf, Flammen, Zerstörung. Nur zwei lebende Wesen blieben unbeweglich, gleich Bildsäulen, mitten in der allgemeinen, entsetzlichen Flucht – Reinhold und Angelica, die Leiche Julian's zwischen ihnen.

Retten Sie sich, gnädiges Fräulein! rief Reinhold …

Angelica schüttelte schmerzlich das Haupt. Mein Platz ist hier, sagte sie, ich lasse nicht von dieser theuren Leiche –

Verzweifelnd streckte Reinhold die gefesselten Arme in die Höhe: Schnell, schnell, rief er, lösen Sie diese Stricke, und ich trage Sie mitsammt der Leiche unsers Freundes ins Freie!

Aber Angelica sah und hörte nicht mehr.

Schon züngelte die Flamme am Gebälk; die Menschenmenge vor dem Gebäude hatte sich weithin zerstreut, der Platz rings umher war wie leer gefegt, weil Alles eine Explosion befürchtete; Niemand dachte an die Zurückgebliebenen, Niemand wußte nur, daß überhaupt Jemand zurückgeblieben war …

Reinhold zerrte mit den Zähnen an dem Knoten, der seine Hände zusammengürtete. Aber er war zu fest. Er stürzte nieder, tastete Angelica mit den gefesselten Händen leise ins Gesicht – sie war kalt und starr, wie die Leiche zu ihren Füßen.

Wieder sprang er in die Höhe, in kleinem Kreise, wie ein Wahnsinniger, umlief er die Gruppe, stürzte zur Thür, kehrte wieder um, schrie, weinte, raste …

Näher und näher leckten die Flammen; ein unerträglicher, erstickender Rauch wälzte sich in dicken schwarzen Wolken an der Decke hin und senkte sich tiefer und tiefer –

So hilf du, Allmächtiger, flehte Reinhold: du weißt, ob der Tod mir schwer wird, der Tod für diese, die ich geliebt habe, seitdem mein Auge sie zuerst gesehen – die ich noch jetzt liebe, liebe mit heißer, verzweiflungsvoller Liebe, auch da sie längst einem Andern gehört – rette nur sie! nur sie!! und laß mich untergehen, indem ich sie rette!

Das Gebet hatte seine Kräfte verdoppelt; ein letzter gewaltsamer Ruck – die Stricke rissen – was that es, daß ihm das Fleisch in Fetzen von den Armen hing? Die zerfetzten Arme waren frei – frei –!!

Mit demselben Griff faßte er Angelica und die Leiche, nein, schon müssen wir sagen zwei Leichen – schwang Angelica hoch auf seine Schulter – die Leiche des Knaben schleppte er unter dem andern Arme nach – wenige Schritte – sie waren gerettet!!

Aber wen hatte er gerettet? zwei Todte? – Er legte Angelica leise auf den verwelkten Rasen nieder; die armen Ueberreste seines Freundes bettete er unter eine Trauerweide, die die langen, kahlen Zweige darüber breitete. Dann warf er sich vor Angelica nieder, rieb ihr die Schläfe, rief sie leise mit den zärtlichsten, süßesten Namen …

Aus der Ferne brauste dumpfes Geschrei, Trommelwirbel, Lärmen, Gebrüll – er hörte nichts, dachte an nichts, flüsterte ihr nur immer die süßesten Liebkosungen in das ach, so fest verschlossene Ohr –

Angelica erwachte; ihr erster matter Blick fiel in die treuen braunen Augensterne ihres Freundes – der Gedanke an ihren Traum durchzuckte sie – das waren die Augen, ja, dieselben lieben, treuen Augen, die ihr damals im Traume zugelächelt, jetzt erst erkannte sie ihren Strahl! –

Mein Retter! mein Retter!! stammelte sie, wie damals im Traum; wohlthätige Thränen, die ersten seit Julian's Tode, tropften über ihr schönes, bleiches Angesicht, und in seliger Vereinigung, Tod und Leben vergessend, hingen die Liebenden sich in den Armen.


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