Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.
Das Verhör

So höchst unwillkommen Angelica auch dieser neue Aufschub war, so war dieser Grund doch von der Art, daß sie ihn respectiren mußte. Der Justizrath freilich murrte und knurrte entsetzlich; da habe sie es nun, und das sei nun die Folge, wenn solche junge Schneegänse klüger sein wollten als alte erfahrene Männer. Ueberhaupt, wie es wenigstens dem Engelchen vorkam, hatte sich sein Eifer bereits wieder ziemlich abgekühlt; er schalt und zankte mit sich selbst, daß er sich von der jungen Phantastin habe anstecken lassen, und noch am folgenden Nachmittag, als Angelica bereits mit ihm auf dem Wege zum Hause des Meisters war, zeigte er nicht übel Lust, wieder umzukehren.

Was wird es sein! rief er, der vornehme Prinz, der Webersohn, wird noch nicht zurück sein, oder ihre Durchlaucht, die kranke Prinzessin, ist nicht bei Laune, und sie schicken uns mit langer Nase wieder heim! Nein, wahrhaftig, mein gutes Engelchen, das ist die Art nicht, mit solchen Leuten umzugehen, die muß man ein bischen scharf anfassen, kurz und scharf –

Diesmal jedoch traf die argwöhnische Voraussetzung des Justizraths nicht ein. Sie fanden im Gegentheil Alles zu ihrem Besuch eingerichtet und vorbereitet. Der Meister selbst hatte das Haus verlassen; der blödsinnige Großvater, der sie unter der Hausthür erwartete, begnügte sich, ihnen zum Willkommen Kußhändchen zuzuwerfen, wobei besonders das stattliche weiße Haar des Justizraths seine ganze Bewunderung zu erregen schien, um sich gleich darauf in das Zimmer der schwarzen Margareth zurückzuziehen. Schon seit zwei Tagen und Nächten war Konrad gar nicht mehr nach Hause gekommen; selbst nur die Gesellschaft des blödsinnigen alten Mannes war für Margareth eine Erquickung in ihrer Todesangst, um so mehr, als er ja der Einzige war, dem sie dieselbe klagen durfte – denn er verstand sie nicht!

Reinhold allein war bei Lenen gegenwärtig. Er trat dem Justizrath mit jenem Anstand und jener feinen, fast vornehmen Haltung entgegen, welche die Natur, in seltsamer Laune, diesem Sohne des Elends mitgegeben hatte, und um die mancher Hochgeborene ihn hätte beneiden können.

Das gnädige Fräulein, sagte er, hat uns ihren Wunsch mitgetheilt, Ihnen, mein Herr, eine Unterredung mit meiner Tante zu verschaffen. Alles, was das gnädige Fräulein will und wünscht, ist für uns Befehl; Sie finden meine Tante bereit, Ihnen jede Auskunft zu geben, die sie vermag – und die Sie selbst, setzte er mit feiner Beziehung hinzu, mit Ihrem Zustande werden verträglich finden.

Der Justizrath, der sich unter dem Weberssohn eine ganz andere Erscheinung vorgestellt hatte, maß denselben von oben bis unten. So, so, nun, nun, hat gar nichts zu sagen, dank' auch schön, brummte er, werden ja sehen …

Auch Angelica hatte inzwischen ihr Auge in der engen Stube umherschweifen lassen – sie wußte wohl weshalb: da lag es richtig, in der Ecke, halb unter dem Webstuhl verborgen, das saubre, künstliche Gespinnst, von welchem der Meister ihr gestern erzählt hatte und das nun also in der That unverkauft in sein Haus zurückgekehrt war.

Doch blieb ihr jetzt keine Zeit, weitere Reflexionen darüber anzustellen; der Justizrath hatte sich mit raschen starken Schritten zwischen den Webstühlen hindurchgedrängt und stand jetzt dicht vor dem Bett der Kranken. Lene lag gefaßt und ruhig auf ihrem Kissen, dessen blendende Weiße dennoch kaum von der Farbe ihres Antlitzes zu unterscheiden war; sie nickte Angelica flüchtig zu und heftete dann das matte, geröthete Auge erwartungsvoll auf den Justizrath.

Dieser war, so wenig er es sich auch selbst gestehen mochte, durch die ganze seltsame Situation ein wenig aus dem Concept gebracht; er hatte erwartet, gemeine, rohe Menschen zu finden, und sah nun überall auf den Gesichtern wie in der Umgebung, so ärmlich diese letztere auch war, eine gewisse Bildung, einen gewissen Wohlanstand, daß er bei sich selbst in Zweifel gerieth, ob die kurze, barsche Anrede, die ihm schon auf der Zunge schwebte, hier auch wirklich am Orte wäre.

Aber die Kranke selbst kam ihm zuvor. Sie sind, sagte sie, sich halb aufrichtend, mit leiser, doch fester Stimme, der Herr Justizrath …?

Habe die Ehre, brummte der Justizrath, der es höchst respectwidrig fand, daß diese Person sich unterstand ihn zuerst anzureden, statt, wie es sich gehört hätte, seine Anrede zu erwarten: und Sie, hör' Sie mal, Frau oder Mamsell, wer ist denn Sie so eigentlich?

Denn so fest hatte der Justizrath sich nun einmal in gewisse Formen eingelebt, daß er gar nicht mehr daran dachte, sie könnten für Andere verletzend sein; bei aller Humanität, die er wirklich besaß und übte, würde es ihm doch schlechthin unmöglich gewesen sein, eine Frau dieses niedern Standes und in dieser ärmlichen Umgebung anders als mit diesem geringschätzigen »Hör' Sie mal« anzureden.

Angelica war roth geworden bis über die Augen; sie fürchtete, die harte Anrede des alten Herrn möchte ihre Freundin verletzt haben, und zugleich schämte sie sich vor Reinhold, dessen reizbares Gefühl in Allem, was seine Tante betraf, ihr wohl bekannt war, einen so unfreundlichen Gast ins Haus gebracht zu haben.

Aber Lene schien die Worte des Justizraths kaum beachtet, wenigstens nicht verstanden zu haben.

Ein Justizrath, fuhr sie fort, ihn noch immer mit nachdenklichen Blicken prüfend, das ist ja wohl so etwas wie ein Advocat, ein Rechtsgelehrter, nicht wahr, mein Herr?

Nun zum Geier, rief der Justizrath, hell lachend (denn wirklich kam es ihm höchst possierlich vor, daß er, der hierher gekommen war, um zu examiniren, vielmehr examinirt ward), das wird ja nett, die nimmt mich ins Gebet, statt daß ich sie ausfragen wollte! Diese verwünschten Weiber lassen doch das Schwatzen nicht und wenn ihnen der leibhaftige Tod schon auf der Zunge sitzt; will Sie etwa Ihr Testament machen, Sie da, daß Sie so sehr nach einem Advocaten schreit?

Vielleicht etwas der Art, erwiderte Lene: ich habe mich schon lange danach gesehnt, einen Herrn vom Gericht zu sprechen, ich habe ihm etwas anzuvertrauen, ihn nach etwas zu fragen …

Hier hielt sie inne, indem ihr Auge voll Verlegenheit über Angelica hinstreifte.

Der Justizrath horchte hoch auf, das Herz im Leibe hüpfte ihm vor Freude: kein Zweifel, man kommt ihm selbst auf halbem Wege entgegen, es wird der Winkelzüge und Vorreden gar nicht erst bedürfen, in fünf Minuten hat er es heraus, ob hier wirklich ein Geheimniß existirt, welches für Angelica von Wichtigkeit ist, oder nicht.

Den Blick der Kranken hatte er sogleich verstanden. Reinhold war gleich zu Anfang des Gesprächs bescheidentlich in die Kammer getreten, dieselbe, welche wir bereits aus jener nächtlichen Scene zwischen dem Meister und seinem Sohne kennen. Ohne lange zu überlegen, faßte der alte Herr Angelica beim Arm, schob sie ebenfalls in die Kammer, zog die Thür heran …

Das Ganze war so schnell vor sich gegangen und hatte so sehr sich gleichsam von selbst gemacht, daß Angelica erst zur Besinnung kam, als die Thür hinter ihr zuflog. Der plötzliche Lichtwechsel (das Kämmerchen hatte nur hoch oben ein kleines Fenster, und überdies brach draußen auch bereits der Abend herein) vermehrte noch ihre Bestürzung; es dauerte einige Zeit, bevor sie die Gegenstände um sich her unterscheiden konnte – und das Erste, was sie dann erkannte, war dicht neben ihr Reinhold's treues, ernstes Angesicht.

Dicht neben ihr, sagen wir: denn in so ehrerbietiger Entfernung der junge Mann sich auch zu halten suchte, so war doch der Raum in der Kammer viel zu eng, als daß sie nicht bei alledem ziemlich nahe bei einander gestanden hätten. Noch vor wenigen Monaten würde Angelica, bei ihrem kindlichen Sinn und dem wahrhaft schwesterlichen Vertrauen, das sie zu Reinhold hegte, sich nicht im mindesten von dieser Nähe genirt gefühlt haben; wie oft nicht als Kinder hatten sie in eben dieser Kammer Versteckens gespielt, welche Märchen und Geschichten hatten sie sich hier erzählt, in eben solcher Dämmerstunde und eben so abgesperrt wie heute, während drinnen Angelica's Mutter ihr Herz gegen die kranke Lene ausschüttete! Aber heute empfand sie wirklich etwas, es war nicht Verlegenheit, nicht Angst, nicht Scham, aber ein Gemisch war es von allem diesen, ein seltsam schauerliches und dabei doch süßes Gemisch …

Die Dämmerung im Kämmerchen gestattete nicht mehr Reinhold's Gesichtszüge deutlich zu unterscheiden; nur die großen klaren Augen leuchteten ihr wie Sterne entgegen, die braunen Locken, die das schöne ernste Gesicht einfaßten, verschwammen gleichsam mit der Dämmerung, die sie umspielte. Es war dem jungen Mädchen, indem sie schamhaft vor sich niederblickte, als ob sie den Athem des jungen Mannes mit warmem, weichem Hauch auf ihrer Stirne fühlte; auch meinte sie ein Herzpochen zu hören, so hastig, so beklommen, und doch dabei so laut, so stürmisch – war es ihr Herz? war es seines?

Sie suchte nach einer Anrede, um durch ein Gespräch das Peinliche dieser Situation zu erleichtern. Aber vergebens durcheilte sie den ganzen Vorrath ihrer Gedanken, die Gedanken selbst hielten nicht Stand, es kam ihr Alles so klein, so abgeschmackt, so unpassend vor …

Reinhold selbst befreite sie aus ihrer Verlegenheit. Sie haben mir, gnädiges Fräulein, sagte er, vor Kurzem durch meine Schwester Margareth einen Auftrag zugehen lassen, an den Maler Schmidt; ich bin erst gestern, auf meiner Wanderung, wo ich den Herrn Maler Schmidt zufällig in einem Dorfe, vier Stunden von hier, antraf, so glücklich gewesen, denselben ausrichten zu können …

Trotz der Dunkelheit war Angelica purpurroth geworden – aber jetzt nicht aus Scham, sondern aus hellem, lichtem Zorn: von allem Andern hätte er anfangen können zu sprechen, nur daß er gerade diesen Gegenstand zur Sprache brachte, das kränkte, das verletzte sie, und zwar nicht durch den kalten, feierlichen Ton allein, mit welchem er es that …

Und was haben Sie ihm ausgerichtet? fragte sie stolz: da ich Ihnen ja noch gar keinen Auftrag gegeben hatte.

Daß das gnädige Fräulein den Herrn Maler Schmidt vor Kurzem gewünscht hätte zu sprechen, erwiderte der junge Weber mit ehrerbietigem, doch gemessenem Tone. Ich hatte Mühe, setzte er nach einer kurzen Pause, da Angelica ihn ohne Antwort ließ, hinzu, den Herrn Maler zu erkennen, in so vornehmer Gesellschaft traf ich ihn, und mit einem so ganz andern Namen hörte ich ihn anreden; er ging Arm in Arm mit goldbetreßten Offizieren und man nannte ihn Herrn von –

Und was antwortete er Ihnen? fiel ihm das Engelchen hastig in die Rede. Sie wußte kaum mehr, was sie sprach, so aufgeregt und verlegen war sie; ja hätte sie den weißen Kopf des Justizraths jetzt nur zwischen den Händen gehabt, sie hätte ihn wollen zausen, dafür, daß er sie auf so unvorsichtige, unschickliche Weise mit diesem jungen Manne zusammengesperrt!

Er würde ganz gewiß heute oder morgen zurückkommen und dem gnädigen Fräulein sogleich seine Aufwartung machen. Der Herr – Maler schien sehr erfreut, von dem gnädigen Fräulein zu hören; er bot mir einen Thaler an als Botenlohn …

Nein, dieses Gespräch mußte eine andere Wendung bekommen, um jeden Preis! Angelica schwindelte, Beschämung, Zorn, Unwillen stritten sich in ihrem Herzen, sie wußte selbst nicht in diesem Augenblick, wem sie böser war, dem Justizrath, oder Herrn von Lehfeldt, oder Reinhold – oder auch sich selbst …

Eben in diesem Moment hörten sie die Stimme des Justizraths gewaltig zu ihnen herübertönen. Wand und Thür waren dünn und schlecht; auch sprach der Justizrath nach seiner Gewohnheit außerordentlich laut und vernehmlich. Was er sprach, setzte Angelica in Erstaunen, indem es zugleich ihre Verlegenheit noch höher steigerte. Er hatte seine Zeit vortrefflich benutzt, der alte Prakticus, es ließ sich nicht leugnen; der Himmel mochte wissen, wie er es angefangen – Aerzte und Advocaten haben ihre eigene Kunst, die Leute zum Sprechen zu bringen – genug, das Geheimniß, welches Angelica so lange beunruhigt hatte, schien wenigstens zur Hälfte enthüllt.

Aber Sie unverständiges Weib Sie, schrie der Justizrath, der nur um so heftiger eiferte, je vergnügter er innerlich war: das muß Sie ja doch selbst einsehen, daß sich das ganz gleich bleibt, heut oder in drei Tagen! Heraus mit dem Wisch! Wenn die selige Madame Wolston Ihr gesagt hat, Sie soll ihrer Tochter das Papier nicht früher geben, als bis sie mündig wird, so ist das zu verstehen, wie Alles in der Welt, mit Bedingungen! Mündig ist, wer verständig ist – davon hat Sie nun wieder keinen Begriff, Sie vertracktes Weib Sie! Fräulein Angelica ist verständig, also ist sie mündig, und wenn sie es nicht wäre, so bin ich es – da, bah, seh' Sie meinen alten grauen Kopf an, seh' ich aus wie ein Narr? seh' ich aus wie ein Spitzbube? Ich bin Fräulein Angelica's Advocat, ihr Vormund, ihr Vater; wenn Sie Fräulein Angelica wirklich so lieb hat, wie Sie sich stellt, und die gute selige Frau dazu, so mache Sie jetzt nur schnell und gebe Sie die Papiere heraus, ohne Umstände, auf der Stelle, ich sag's Ihr im Guten!

Aber die selige Frau hat ja meinen Eid! stöhnte die Kranke mit aller Anstrengung, deren sie fähig war.

Wer Teufel heißt aber eine Frau, wie Sie, auch Eide schwören, als die Ihr vom Gericht abverlangt werden! rief der Justizrath. Und wenn Sie nun vorher noch stürbe? und wenn Ihr das Papier gestohlen wird? Hat Sie es denn nur noch wirklich? Zeig' Sie mal her, wo hat Sie es denn?

Lene murmelte so leise, daß ihre Antwort in der Kammer nicht zu verstehen war.

Angelica wagte nicht mehr zu athmen; trotz der Dunkelheit um sie her, fühlte sie deutlich, wie Reinhold's erstaunter, vorwurfsvoller Blick auf sie gerichtet sein müßte. Sie konnte sich nicht freuen über die Entdeckung, welche der Justizrath gemacht hatte, konnte überhaupt nichts mehr denken, gar nichts – und doch mußte sie sprechen! sprechen zu Reinhold, gleichviel was, nur damit sie die Stimme des alten Justizraths übertäubte! nur damit Reinhold diesen barschen Ton nicht hörte, in welchem der Justizrath mit seiner Tante verhandelte, nur damit er nicht merkte, daß Angelica ihn selbst hintergangen hatte!

In solchen Fällen, wo man ein Gespräch mit Gewalt in Gang bringen will, ist man in der Wahl des Stoffs bekanntlich in der Regel nicht sehr glücklich. Angelica ging es nicht besser; um nur irgend etwas zu sprechen, und weil sie zugleich eine dunkle Empfindung hatte, als hätte sie an Reinhold bei alledem etwas gut zu machen, sagte sie:

Ich habe da vorhin beim Hereintreten ein sehr schönes Gewebe gesehen; wenn es noch unverkauft ist, möchte ich Sie ersuchen, es mir zu überlassen, ich könnte eben Gebrauch davon machen …

Aber vergeblich, der Justizrath mit seiner dröhnenden Stimme schnitt ihr die Rede vom Munde ab.

Ich habe es Ihr ja schon gesagt, polterte er: nein, die Sache kann nicht warten, auch nicht bis übermorgen, Fräulein Angelica will heirathen, na nu weiß Sie es, das ist doch ein Punkt, den die Weibsbilder allemal respectiren – ja, heirathen – wen? Na das braucht Sie auch wohl zu wissen! Einen verkleideten Prinzen – ist Sie nun zufrieden?

Ah, sagte Reinhold, indem er jetzt erst die Anrede des Engelchen beantwortete: ich verstehe – zur Ausstattung, gnädiges Fräulein; dazu ist es aber in der That viel zu gering für Sie …

Und wenn draußen der Tod in seiner abschreckendsten Gestalt gestanden hätte, ja tausendfacher Tod, sie hätte es nicht länger ausgehalten in dieser Lage! Hastig riß sie die Thüre auf, trat in die Stube –

Sie kam im richtigen Moment; die arme Lene hatte die gewaltsame Anstrengung, mit der sie sich bis dahin aufrecht erhalten, nicht länger zu ertragen vermocht, ihre Sinne schwanden, sie drohte in eine Ohnmacht zu fallen …

Das ist ja wörtlich, wie ich gesagt habe, wetterte der Justizrath: ein hysterisches Weibsbild, verdreht im Kopf, weiß selbst nicht, was sie will. Der Henker soll in solche Wirthschaft schlagen! Mit der ganzen Sippschaft will ich nichts mehr zu thun haben! Mit Ihnen auch nicht, Engelchen, hören Sie wohl? mit Ihnen auch nicht! Sie sind so unvernünftig wie die Andern, dabei kann man keine Ehre einlegen – ich reise noch heute, ja ganz gewiß, noch heute reis' ich ab!

Fluchend stampfte er zur Thür hinaus; es fehlte nicht viel, so wäre er über den alten blödsinnigen Großvater gestolpert, der bescheiden auf dem Gange vor der Thüre hockte. Aus Margareth's Stube hörte man wüstes Schimpfen und Fluchen, das hatte den armen Alten vermuthlich vertrieben; es war Konrad's Stimme, er war also doch wenigstens wieder nach Hause gekommen.

Unter Angelica's Bemühungen hatte Lene sich bald wieder erholt; mit lautem Schluchzen drückte das junge Mädchen die Hand der Freundin an die Lippen, gleichsam als ob sie um Verzeihung bei ihr bäte, und eilte dann dem Justizrath nach. Denn wenn der seine Drohung vollführte, wenn er wirklich abreiste, jetzt, wo die Entscheidung so nahe vor der Thüre stand – sie wagte den Gedanken nicht auszudenken. Außerdem aber mußte sie auch dem Unwillen Luft machen, den sie über die Art und Weise empfand, wie der alte Herr das Gespräch mit der kranken Lene geführt, sowie namentlich über die seltsamen Erfindungen, die er sich dabei auf ihre, des Engelchen, Kosten erlaubt hatte.

Aber damit kam sie schlecht bei ihm an. Der alte Herr spie wirklich Feuer und Flamme; es half ihr nichts, daß sie sich noch so schmeichelnd an seinen Arm hing –

Das ist Alles eins, ein Narrenhaus, rief er, hier wie drüben! Hat man je solchen Einfall gehört! Ihre Mutter war auch verrückt, daß Sie es nur wissen, Engelchen; gibt ein Papier, ein Document, welches allem Vermuthen nach höchst entscheidende Nachrichten für Sie enthält, einem Frauenzimmer in Verwahrung, einem schwindsüchtigen Frauenzimmer, das alle Tage ausgehen kann wie ein Licht, und das ebenfalls nicht recht klug ist im Kopfe! Herr mein Gott, hat man je so was Verrücktes ausgesonnen! Einem honetten Notar mußte Ihre Mutter das geben, bei Gericht mußte sie es deponiren, da war die Sache in Richtigkeit, und wenn es fünfzig Jahre gedauert hätte; – ich habe wohl noch ganz andere Papiere in Verwahrung gehabt, von ganz andern Leuten, ich dacht' es! Aber diese Frauenzimmer! Sie machen nichts als Confusionen, gesund oder krank, todt oder lebendig …!

Aber nur welch Papier? fragte Angelica, indem sie vergeblich sich bemühte, ihn festzuhalten.

Je nun, gutes Engelchen, polterte der Justizrath: Sie sind doch aber auch wirklich ein bischen gar zu einfältig, daß Sie das noch nicht gemerkt haben! Die Sache war gar nicht so schwierig, das Frauenzimmer kam mir von selbst damit entgegen; weiß der Henker, was das bedeuten soll, daß sie sich zu Ihnen so lange gesträubt und so wunderlich damit gethan hat. Sie werden sie wohl nur nicht verstanden, wohl nach Ihrer gewöhnlichen Art zu viel Umstände mit ihr gemacht haben. Das arme Weib scheint sich sehr vor dem Tode zu fürchten, das wird es sein, und hat wohl gedacht, sie würde noch hinsterben, bevor sie das Papier in die rechten Hände gegeben. Sie fragte mich anfangs, ob es kein Gesetz gäbe, welches befiehlt, daß die Leute, wenn sie todt sind, auch ordentlich begraben werden. Verdrehter Einfall! Ein Gesetz zum Begraben! Damit muß sie sich an die Polizei wenden, die Gute; sie scheint Angst zu haben, daß sie nicht nach ihrem Tode umherspukt, vielleicht hält sie sich für einen Wehrwolf oder dergleichen …

Aber das Papier? wiederholte Angelica dringend, das Papier von meiner Mutter?

Ja, das Papier von Ihrer Mutter, spottete der Justizrath ihr nach; ein Papier, das Ihre Mutter dem Weibsbild zur Aufbewahrung gegeben hat, und das sie Ihnen nicht früher ausliefern soll als übermorgen, an dem Tage, wo Sie mündig werden.

Ei nun, suchte Angelica ihn zu begütigen, das sind ja nur noch zwei Tage; haben wir uns so lange geduldet, ohne alle Aussicht und Hoffnung, so wird ja dieser kleine Aufschub sich wohl auch noch ertragen lassen …

Wird er es?! rief der Justizrath zornschäumend: wirklich? wird er es? Ei sehen Sie doch, was Sie klug sind! Kleiner Aufschub! wird sich ertragen lassen! Ich habe das Papier nicht gesehen, aber ich kann mir so ungefähr denken, was es sein wird: eine Verwahrung, ich begreife, Ihre Mutter hat das Testament nicht freiwilliger Weise so geschrieben, eine Nichtigkeitserklärung, ich kann es mir denken, es kommt Alles darauf an, daß wir das Dokument zum richtigen Tage präsentiren – Aber Sie freilich wissen, daß auf zwei Tage mehr oder weniger nichts ankommt! O nun ja, da brauchen Sie mich ja auch gar nicht mehr, da ist ja Alles in schönster Ordnung! Warum hab' ich alter Esel mich denn auch für Sie bemüht? Leben Sie recht wohl, gnädigstes Fräulein – kleiner Aufschub! Ja freilich, ein junges grünes Frauenzimmer weiß das jetzt besser als ein alter grauer Mann – Leben Sie recht wohl! Und wenn Sie noch einen Advocaten brauchen – ich führe keine Processe mehr für Weiber!

Und bevor das Engelchen es noch hatte hindern können, hatte er ihren Arm aus dem seinen losgemacht und verschwand vor ihr in der Dunkelheit. Wieder stand sie allein – sie hatte in ihrer Aufregung gar nicht Acht gegeben auf den Weg, den sie gingen. – Aber ja, da glänzen die hellen Fenster der Schenke, da vor ihr das Lichtchen im Graben ist das Haus des alten Sandmoll …

Bei dem Gedanken an den alten Sandmoll ergriff sie ein Grausen; sie fürchtete schon wiederum aus irgend einer Ecke seine Ungestalt hervortauchen zu sehen, aus irgend einem Winkel sein abscheuliches Gurgeln und Kichern zu hören. Sich gewaltsam ermuthigend, wollte sie schon über die Schloßbrücke eilen …

Als plötzlich ein sanfter Arm sie hielt und eine leise, wohltönende Stimme sie anredete.


 << zurück weiter >>