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Siebentes Kapitel.
Die Versuchung

Der Empfang von Seiten der jungen Dame war, wie man sich leicht vorstellen kann, höchst befangen und einsylbig. Der Justizrath, in dem jetzt Niemand den übermüthigen, schroffen Mann von vorhin wieder erkannt hätte, so sanft und herzlich trat er jetzt auf, und so aufrichtige, väterliche Zärtlichkeit leuchtete aus seinen Augen, faßte sie leise unters Kinn und richtete das holde Köpfchen mit zartem Druck in die Höhe.

Meine kleine Freundin ist böse auf mich, sagte er; meine kleine Freundin meint, der erste Gang des alten polternden Advocaten hätte zu ihr sein müssen, und bedenkt nicht, daß zwischen ihr und mir kein Streit ist, und daß überdies ein kluger Feldherr allemal zuerst das Terrain inspicirt. Kopf in die Höh', Engelchen, und das Herz auch! Unsere Sachen machen sich besser als ich dachte; Ihr Stiefpapa ist lange der Menschenfresser nicht, als den Sie ihn mir früher geschildert haben, und was Ihre gnädige Frau Mutter betrifft, so hab' ich da schon meine Fädchen, an denen ich sie halte …

Wohlwollen und Freundlichkeit waren zu sehr die Natur des Engelchen, als daß sie einer so herzlichen Anrede gegenüber alle Angst und Kränkung, die sie ausgestanden, nicht sogleich hätte vergessen sollen. Die Thränen stürzten ihr aus den Augen, wie der alte Herr sie liebkoste: aber es waren schon mehr Thränen des Dankes als des Schmerzes.

Ja, sagte sie, ich will es nur gestehen, ich war recht bös auf Sie, Herr Justizrath; ich habe mich sehr geängstigt, daß Sie alle die Zeit gar nichts von sich hören ließen, und als Sie nun gar beinahe vierundzwanzig Stunden mit mir unter einem Dache sein konnten und hatten kein Wort, keinen Blick für mich, da dachte ich allerdings, das Herz müßte mir brechen vor Betrübniß; es war nicht blos deshalb, daß ich nun ganz verlassen, ganz rathlos war, es war noch weit mehr, weil ich fürchtete, Ihre Freundschaft, Ihre väterliche Liebe verscherzt zu haben. Nun aber sind Sie ja da, Sie nennen mich Ihr Engelchen und richten mir den Kopf in die Höhe, wie ehedem; nun will ich auch wieder Ihr verständiges, tapferes Kind sein, und wie es auch komme, Sie sollen Ehre mit mir einlegen.

Allein dieser gute Muth hielt nicht lange vor. Der Justizrath, noch ganz voll von dem Gespräch, das er heute früh mit Herrn Wolston gehabt, so wie noch ganz stolz über die Vortheile, die er nach seiner Meinung über denselben gewonnen hatte, beeilte sich, dem Engelchen den Inhalt der Unterredung ausführlich mitzutheilen; er setzte ihr die Vortheile des Vergleichs auseinander, über den er unterhandelt hatte, und fügte hinzu, daß es nun von ihrer Seite nur ein klein wenig Klugheit, ein klein wenig Entgegenkommen bedürfen werde, um ihren Stiefvater wirklich zum Abschluß desselben zu bewegen.

In dem Eifer, mit welchem der alte Herr erzählte, hatte er gar nicht bemerkt, wie Angelica mit jedem Worte, das er sprach, bleicher und bleicher geworden war: bis sie endlich, mitten unter seiner Erzählung, rasch in die Höhe fuhr und weit von ihm zurücktretend, mit emporgehobener Rechte –:

Nie, nie, rief sie, werd' ich diesen oder irgend einen andern Vergleich mit Herrn Wolston eingehen! Mein Recht zu vertheidigen habe ich Sie gebeten, Herr Justizrath, nicht einen Vergleich für mich zu schließen, bei dem mein Recht mit Füßen getreten wird, ja was sag' ich? bei dem ich es selbst mit Füßen trete!

In leidenschaftlicher Erregung ging sie vor dem Justizrath auf und nieder; ihr Antlitz war jetzt von Purpurröthe übergossen und fest und sicher bohrte ihr Auge in das des Justizraths.

Recht! Recht! polterte der Alte: diese jungen Weibsbilder gehen mit den Worten um, als wären es Pfeffernüsse – soll ich Ihnen sagen, mein Schatz, was Ihr Recht ist? Binnen hier und fünf Tagen dem Commerzienrath über den armseligen Rest Ihres mütterlichen Vermögens zu quittiren und dann aus dem Hause zu gehen.

Aus dem Hause! von der Seite meines Bruders! rief Angelica verächtlich: seien Sie unbesorgt, Herr Justizrath, ich bin nur ein Mädchen, aber so lange noch ein Athemzug in meinem Bruder ist, werde ich nicht gehen!

Sie werden gehen müssen, Schatz, erwiderte der Justizrath mit unerbittlichem Phlegma. Ja, wenn Sie auch allerdings nur ein Mädchen sind, so hätte ich von Ihrem sonst so klaren Verstande dennoch erwartet, daß Sie die Lage der Sache besser durchschauen würden. Ich habe mich mit Ihrer Angelegenheit mehr beschäftigt und mehr darin gearbeitet, als Sie ahnen. Wenn ich Sie so lange ohne bestimmte Antwort gelassen, so geschah das nur, weil ich selbst noch ohne die entscheidende Antwort von andern Orten her war. Und ebenso jetzt, wenn ich siebzigjähriger Mann in so schlechter Jahreszeit in Person hierher komme, so geschieht das ebenfalls nur, weil mit Tinte und Feder, mein gutes Engelchen, in dieser verlornen Sache nun einmal nichts mehr auszurichten ist und weil meine ganze Hoffnung für Sie nur noch auf persönliche Unterhandlungen und Vergleiche gesetzt sein kann. Es ist sehr viel Ungesundes und Verkehrtes in diesem Hause, und ist es gewesen seit alten Zeiten. Das ist schlimm für Sie, und doch auch wieder gut. Denn was keine Advocatenweisheit ausrichten könnte, das kann hier vielleicht der Blick eines alten ehrlichen Kerls, verstehen Sie? (indem er seine Augen noch gewaltiger blitzen ließ als gewöhnlich): so ein Blick, der wie ein Blitz auf die eingeschlafenen Gewissen niederfährt, daß sie aufflammen lichterloh. Aber bleiben wir bei der Sache, gutes Kind. Ich habe alle Papiere und Schriften gewissenhaft durchforscht, habe alle Umstände und Thatsachen genau zusammengestellt; ich sage Ihnen, daß hier gar kein Proceß zu führen ist. Das Testament ist seltsam, ist abenteuerlich, aber es ist juristisch nicht anzugreifen –

Das Testament ist falsch! ist meiner Mutter untergeschoben, abgezwungen! rief Angelica mit einer Sicherheit, die gleichwohl den alten ergrauten Praktikus nicht aus dem Text bringen konnte.

Möglich, liebes Engelchen, sagte er, ja, was den letztern Punkt angeht, sogar höchst wahrscheinlich. Aber wir haben keine Spur von Beweisstücken in der Hand. Ruhmredigkeit, gutes Kind, ist nicht meine Art, und am Wenigsten gegen Sie möchte ich prunken und groß thun mit Dem, was ich für Sie gethan. Aber Sie nöthigen mich ja dazu, Sie verwetterter kleiner Eigensinn! Kurz denn: ich habe nach England geschrieben, ich habe Monate lang durch die geschicktesten und schlauesten Agenten die sorgfältigsten Nachforschungen anstellen lassen; ich habe auch viel und mancherlei in Erfahrung gebracht – davon ein ander mal –, aber nur leider nichts, was uns als Beweisstück gegen Ihren Stiefvater dienen könnte. Der Vergleich, über welchen ich unterhandle, ist, ich muß es Ihnen wiederholen, der einzige leidliche Ausweg, den es für Sie gibt; er verhindert wenigstens den öffentlichen Skandal und sichert Ihnen für alle Wechselfälle des Lebens eine schickliche und sorglose Existenz.

Ich kann arbeiten! warf Angelica trotzig dazwischen.

Sehr gut, wenn Sie es können, entgegnete der Justizrath: aber noch weit besser, wenn Sie es nicht brauchen. Kein Geld nöthig haben, von seiner Arbeit leben – ja freilich, das ist auch so eine Pfeffernuß, mit der ihr jungen Personnagen gern euer Spielchen treibt; ich dächte, Sie wären hier eben an dem rechten Ort, um sich zu überzeugen, daß Arbeit im Gegentheil eine sehr harte, bittere Nuß ist, und daß Mancher sich das Blut unter den Nägeln hervorarbeiten kann, und kann sein armes Dasein mit alledem doch nicht fristen. Sie haben keine andere Wahl: entweder Sie geben nach –

Nimmermehr! rief das Engelchen.

Oder Sie gehen ins Elend –

Niemals! rief sie wiederum.

Nun zum Teufel, platzte der Justizrath heraus, oder Sie thun dem Testament den Willen und heirathen? Wie? pfeift der Wind daher? und ist es etwa Das, was das gnädige Fräulein wollen? Ich habe auch schon so ein Vögelchen davon singen hören – der dicke Herr Florus? ist's richtig? Ein wenig passirt, der Mann, ein wenig knickbeinig, was man so nennt; aber freilich ein Poet, ein berühmter Mann …

Narrenspossen, sagte das Engelchen, indem sie, trotz Aufregung und Betrübniß, doch nicht umhin konnte, über die komischen Geberden des alten Herrn zu lächeln: die schneeweißen, aber gleichwohl noch dichten Haare standen ihm in die Höhe, wie eine Wolke, aus der sein von Wein und Eifer geröthetes Antlitz mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Verschmitztheit hervorlauschte.

Nun, oder den Tellergucker, den Pastor da, fuhr der Justizrath fort, indem er seine Augen auf das Engelchen geheftet hielt, mit solcher Schärfe und so durchdringend, als hätte er es hier mit dem verstocktesten Inculpaten zu thun.

Pfui doch, sagte das Engelchen, die jetzt wieder ernstlich böse ward …

Das ist mir lieb, erwiderte der Justizrath, ich habe den Menschen nur bei Tische gesehen; nicht zwei Worte hat er gesprochen die ganze Zeit: aber genug, er gefällt mir nicht und es freut mich, daß wenigstens dieser Schwarzrock sich nicht einbilden darf, das spröde Herz des Engelchen gerührt zu haben. Aber wie steht es nun mit dem Letzten, dem Dritten …?

Welchem Dritten? fragte Angelica mechanisch. Ihre Gedanken waren in der That schon weit weg von diesem unerquicklichen Gespräch; sie war fester als je entschlossen, Herrn von Lehfeldt mit der Führung ihrer Angelegenheit zu beauftragen, und sann nur noch darüber nach, wie sie in aller Schnelligkeit den Aufenthalt des unsteten Flüchtlings erforschen sollte.

Nun, was stellen wir uns! rief der Justizrath: den Maler meine ich, den gewisse schöne Augen hier so lange festgehalten haben, den Herrn Müller – oder Schulz – oder nein, jetzt hab' ich's, Schmidt …

Er ist weder ein Maler, noch heißt er Schmidt, sagte Angelica verdrießlich und nur halb hinhörend; sie hatte in diesem Augenblicke nur noch den einen Wunsch, diese ganze fruchtlose Unterredung so bald wie möglich zu endigen. Aber wie ihr die Worte, halb in Gedanken, entschlüpft waren, mußte sie erröthen über sich selbst, theils vor Ueberraschung, daß sie das Geheimniß des jungen Mannes zum zweiten Male in Gefahr gebracht, theils auch weil der Justizrath gerade in diesem Augenblick von demselben Manne sprach, mit dem ihre Gedanken so eben so lebhaft beschäftigt waren.

Dem Falkenblicke des Justizraths entging nichts, auch nicht dieses Erröthen. Kein Maler ist er? und heißt auch nicht Schmidt? sagte er mit langgedehntem Tone, indem ein verhaltenes Gelächter den langen, hagern Körper durchschütterte: ei, ei, und wer ist es denn, wenn ich fragen darf?

Angelica hatte sich schnell gefaßt. Ein junger Mann, sagte sie, den unglückliche Verhältnisse genöthigt haben, sich für einige Zeit unter fremdem Namen hierher zu flüchten; sein wahrer Name und Stand ist nicht nur mir, sondern auch Herrn und Madame Wolston bekannt, und auch Sie, glaube ich, würden ihn von Namen wie von Person kennen, wenn es mir gestattet wäre, das Geheimniß zu enthüllen.

Ah so, ein Geheimniß, sieh mal an, spottete der Justizrath in immer gedehnterm Tone, und immer deutlicher, wie das Brodeln eines Wassers, quoll sein heimliches Gelächter in die Höhe: ein Geheimniß, das ist ja höchst romantisch! Und Herr Wolston kennt ihn auch, sagen Sie? Nun, da haben Sie nur Muth, mein Schatz, setzte er hinzu und streichelte ihr halb schalkhaft, halb gutmüthig die Wangen: Herr Wolston, wie gesagt, ist kein Unmensch, und wenn der geheimnißvolle Herr Schmidt nur halbwegs eine honette Personnage, will ich auch schon mein Wort für ihn einlegen – sollst ihn haben, mein Schätzchen, sollst ihn haben!

Aber hier gingen Geduld und Kräfte des jungen Mädchens zu Ende. Laut weinend stürzte sie in die Knie, das schamerglühte Antlitz in die Kissen des Sophas zu verbergen. Ach, ach, rief sie, Herr Justizrath, das von Ihnen, den ich allzeit verehrt habe als meinen Vater und der Sie mich doch sollten wahrhaftig besser kennen! Haben Sie Dank, Herr Justizrath, für Alles, was Sie bisher für mich gethan haben und noch für mich thun wollen: aber ich überzeuge mich steilich zu deutlich, daß unsere Ansichten von dieser Sache nicht zusammenpassen – durch meine Schuld, ganz gewiß: aber so will ich lieber untergehen für meine Thorheit als mich Ihrer Weisheit fügen.

Der alte Herr war durch die plötzlich ausbrechende Heftigkeit der jungen Dame in die äußerste Verlegenheit gesetzt. Es begegnete ihm wohl öfter, daß er einen Scherz zu weit trieb, ohne es selbst zu merken; aber niemals hatte ihm das so leid gethan wie jetzt.

Nun so schreien Sie doch nicht gleich so erbärmlich, sagte er ärgerlich (diese Art von Aergerlichkeit war bei ihm in der That der äußerste Grad von Selbstzerknirschung und Reue, zu dem er es bringen konnte): ich will Sie ja zu Ihrem Glück nicht zwingen, Sie sollen ja weder heirathen noch sich vergleichen, wenn Sie nicht wollen. Aber nur das Eine sagen Sie mir endlich, was Sie denn eigentlich wollen: und wenn nur ein kleiner Gran Menschenvernunft darin ist, so will ich Ihnen ja dazu beistehen, selbst gegen meine eigene bessere Ueberzeugung, so viel ich nur kann.

Das Testament als falsch und ungültig angreifen, sagte Angelica, sich stolz aufrichtend: mich meinem Bruder erhalten, so lange ihn Gott mir erhält, und die Ehre meiner Mutter retten, die noch in ihrem fernen, unbekannten Grabe durch ein abscheuliches Complot bedroht wird!

Der Justizrath stampfte, die Hände auf dem Rücken, die kleine Stube mehrmals auf und nieder. Endlich blieb er vor dem jungen Mädchen stehen; seine Stimme war jetzt ganz weich geworden und sein Auge blickte wie feucht. Sie sind sehr böse auf mich, Engelchen, sagte er, und ich mag es zum Theil verdient haben. Aber lieb habe ich Sie doch, viel lieber als Sie denken und ahnen. Ich habe Ihnen vorhin schon gesagt, daß ich Nachforschung in England angestellt habe. Es war auch die pure, närrische, väterliche Zärtlichkeit von mir, daß ich nichts weiter über diesen Punkt hinzugefügt habe; aber Sie abscheulicher Eigensinn zwingen mich ja, und ich bin auch solch ein alter, grauer Thor, daß ich Ihnen auch in diesem Stück nachgebe. Die Ehre Ihrer Mutter –! Gott segne Sie dafür, gutes Engelchen, daß Sie das Andenken Ihrer Mutter noch im Grabe so lieb haben; es ist die Pflicht jedes gutgearteten Kindes, jederzeit das Beste von seinen Aeltern zu denken, und verflucht soll die Zunge sein, die einem Kinde aus Vorwitz oder Bosheit den ehrwürdigen Glauben an seine Aeltern erschüttert. Aber nun glauben Sie auch mir, gutes Kind, wenn ich Ihnen sage: – gerade wenn Sie die Ehre Ihrer Mutter lieb haben, dürfen Sie keinen Proceß gegen Herrn Wolston anfangen, die Ehre Ihrer Mutter verträgt diesen Proceß nicht – verstehen Sie?

Das junge Mädchen starrte ihn mit langsamem Kopfschütteln verwundert an, nur die bebenden Lippen und das leise, fieberische Zucken der kleinen Hand verriethen den Sturm, der in ihrem Innern tobte.

Der Justizrath drückte sie sanft vor sich nieder in das Sopha; dann auf die Lehne gestützt, mit verhaltenem, möglichst gleichgiltigem Tone, sagte er:

Hier, mein armes Kind, was ich auf die unzweifelhafteste und zuverlässigste Weise von dem frühern Schicksal Ihrer Aeltern erfahren habe. – Ihre Mutter, wie Sie wissen, war vor der Ehe mit Herrn Wolston schon einmal vermählt, mit dem Manne, dem Sie Ihr Dasein verdanken und dessen Namen Sie führen. Ihr Vater war ein reicher und angesehener Kaufmann in London, dabei jung, schön, von liebenswürdigen Sitten und Ihrer Mutter mit blinder, abgöttischer Leidenschaft ergeben. Dennoch muß auch er seine geheimen Fehler gehabt haben, ich nehme es so an, weil es mir sonst unbegreiflich wäre, wie das Herz Ihrer Mutter sich von einem so würdigen, so liebevollen Manne verirren konnte zu diesem –

Dem Justizrath fiel noch zur rechten Zeit ein, daß der Mann, den er im Sinne hatte, Niemand anders war als der gegenwärtige Stiefvater des Engelchen, und so verschluckte er denn das harte Wort, das ihm schon auf der Zunge schwebte. Er fuhr fort:

Genug, Ihr jetziger Stiefvater, Herr Wolston, kam kurze Zeit nach Ihrer Geburt in das Haus Ihres Vaters. Haben meine Gewährsmänner mich recht berichtet, so ist Herr Wolston damals sehr weit entfernt gewesen von dem Glanz und dem Reichthum, den er jetzt um sich entfaltet. Im Gegentheil, sein erstes Auftreten in London soll sehr armselig, fast bettelhaft gewesen sein. Durch welche Mittel er sich so weit in die Höhe gebracht, um nur als Gehülfe in das Comptoir Ihres Vaters zu treten, wußte Niemand mehr anzugeben; es steht zu vermuthen, daß es irgend welche kaufmännische oder industrielle Geheimnisse gewesen sind, welche ihn, verbunden mit jenem Fleiße und jenem Scharfsinn, der ihm noch heute selbst von seinen Gegnern muß zugestanden werden, in kurzer Frist auf die erste Stelle, zunächst Ihrem Vater, beförderten. Aber Herr Wolston war auch noch mehr geworden inzwischen als nur der erste Buchhalter und Geschäftsführer Ihres Vaters – er war auch der Freund Ihrer Mutter geworden …

Angelica saß lautlos; sie sah starr vor sich nieder, während heiße, dichte Thränen über ihre Wange rieselten.

Ihr Vater, fuhr der Justizrath fort, bekümmerte sich nur wenig um sein Geschäft; mit demselben blinden Vertrauen, mit dem er seinem neuen Freunde die Ehre seines Hauses preisgegeben, überließ er ihm auch die ausschließliche Leitung seiner ausgedehnten und verwickelten Angelegenheiten. Auf Herrn Wolston's Betrieb wurden einige sehr kühne, in ihrem Erfolge jedoch sehr glückliche Spekulationen gemacht. Das gab die Veranlassung zu noch kühnem, noch ausgedehntem, die aber minder glücklich ausfielen, – oder doch ausgefallen sein müssen, verbesserte der Justizrath sich selbst: denn eines Tages kam Herr Wolston bleich vor Schrecken in das Cabinet Ihres Vaters, legte Briefe und Berechnungen vor und bewies unwidersprechlich, daß die Firma bankerott sei. Eine halbe Stunde später empfing Ihr Vater einen anonymen Brief, in welchem ihm, und zwar wieder auf die unwiderlegbarste Weise, bewiesen ward, daß auch seine häusliche Ehre bankerott, schon seit langem bankerott – und wiederum nach einer halben Stunde war Ihr Vater todt; er hatte sich eine Kugel durch den Kopf geschossen …


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