Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.
Das Vermächtniß der Mutter

Der tolle Heiner hatte nicht Unrecht, wenn er von sich selbst zu rühmen pflegte, daß in seinem Wahnsinn Methode sei. Weit aufmerksamer, als es irgend Jemand ahnte, hatte er das geheimnißvolle Treiben im Fabrikdorf beobachtet und war weit tiefer eingeweiht in die Geheimnisse des Schlosses sowohl als des Weberhauses, als man es nach seinem übrigen tollen Benehmen hätte sollen für möglich halten. Welche zufälligen Umstände ihm dabei noch zu gute kamen und ob nicht namentlich sein Freund, der Maler, indem er ihn für sich zum Spion benutzen wollte, ihm vielmehr behülflich war, sich selbst eine desto genauere Kenntniß der Verhältnisse zu verschaffen, darüber war er natürlich der Letzte, Auskunft zu geben. Die in der jüngsten Zeit so häufig wiederholten Gänge der Diebslore zum Hause des Meisters hatten schon seit Längerm seine Aufmerksamkeit erregt; wir haben nicht vergessen, welch tief verborgene Neigung ihn an die Tochter des Meisters, Margareth, das Weib des rothen Konrad, gefesselt hielt, und so darf es uns auch nicht Wunder nehmen, daß seine Beobachtungen sich vorzugsweise dem Hause zuwandten, wo Margareth wohnte.

Auch am heutigen Abend hatte er dasselbe seiner Gewohnheit nach umschlichen; durch einen Spalt im Fensterladen hatte er den ganzen entsetzlichen Auftritt zwischen der kranken Lene und der Diebslore beobachtet. Es war seinen zerrütteten Sinnen vielleicht nicht ganz deutlich gewesen, um was es sich dabei eigentlich handelte; nur daß es eine Sache von Wichtigkeit war, das hatte er wohl gemerkt. Darum hatte er ihr aufgelauert, als sie den Weg zum Pfarrhause einschlug; seine riesige Faust war es gewesen, die das bestürzte Weib zu Boden geschlagen, seine Hand, die ihr das Document entrungen, mehr aus Schadenfreude eigentlich, weil er den großen Werth sah, den Lore auf ihre Beute legte, als aus Bosheit oder berechnetem, bewußtem Plan. Seiner Gewohnheit nach, alles Wichtige und Merkwürdige, was ihm begegnete, seinem Freunde, dem Schulmeister, anzuvertrauen, hatte er sich mit der seltsamen Beute sogleich nach dem Hirtenhause aufgemacht.

Auf diesem Wege war Reinhold, der seinen Vater bei Leonhard suchen ging, mit ihm zusammen getroffen. Auch gegen Reinhold hatte der Tolle so leicht kein Geheimniß. Daß die Schrift aus dem Hause des Meisters, von Reinhold's eigener Tante stamme, das hütete er sich freilich zu gestehen; nur im Allgemeinen sagte er, es wäre ein Schatz, den er einer Hexe abgenommen, und der Schulmeister, als ein gelehrter Mann, solle ihn heben. Eben so wenig Umstände machte er, Reinhold seinen Schatz in die Hand zu geben. Bei dem ersten Blick, welchen dieser auf die Schrift warf, erkannte er sofort, daß sie in englischer Sprache abgefaßt war. Weiter darin zu lesen, gestattete ihm seine Ehrenhaftigkeit nicht; denn augenblicks, in sehr natürlicher Gedankenverbindung, schloß er daraus, daß dieselbe irgendwie zu Angelica in Beziehung stehen müsse.

Diese Schrift, sagte er, gehört dem Fräulein Angelica; wir müssen sogleich für einen zuverlässigen Boten sorgen, der sie ihr überbringt. Oder getraust du dich etwa selbst sie im Schlosse aufzusuchen?

Der Tolle sprang vor Vergnügen wie ein junges Reh und schwenkte die Beine wie Windmühlenflügel. Ahi, ahi, rief er:

Mit Schwür' und Beulen
Sei ganz Athen besät und ew'ger Aussatz
Die Ernte: Athem stecke Athem an,
Daß ihre Näh' gleich ihrer Freundschaft sei.
Gift durch und durch!

Dein Schatz ist nicht im Schloß, setzte er flüsternd hinzu, ich habe deinen Schatz eben gesehen, wie er mit seinem Schatz bei Leonhard in das Haus schlich–:

Ihr Antlitz weissagt Schnee in ihrem Schooße,
Sie spreizt sich tugendlich und dreht sich weg,
Hört sie die Lust nur nennen …

Zum Glück für den Tollen hörte Reinhold das letztere Citat nicht mehr, seine Gedanken schweiften bereits auf eigener, verhängnißvoller Fährte, ein fürchterlicher Argwohn bemächtigte sich seiner – Argwohn?! wie so? welches Recht hatte er zu argwöhnen? ja nur zu fürchten, er, der arme, verachtete Webersohn?!

Er lief nach dem Hirtenhause mit solcher Eile, daß der Bettler Mühe hatte ihm nur zu folgen; hastig pochte er an die Thür, erst nach längerm Zögern und nicht ohne sichtbare Verlegenheit wurde von Anna geöffnet – das Uebrige wissen wir bereits.

Auch machen wir keinen Versuch, den wahrhaft tödtlichen Schmerz zu schildern, von dem sich Angelica ergriffen fühlte, da sie, wie schuldlos immer, sich auf diese Weise von Reinhold überrascht sah. Sie hätte das Ganze gern für einen schweren, schweren Traum gehalten – aber nein, da stand er ja, Reinhold, ihr Jugendfreund, dessen Urtheil ihr theurer war als Alles, mit dem bleichen vorwurfsvollen Antlitz und den zornbebenden Lippen, das war ja der entsetzliche tolle Heiner, und hier hielt sie selbst ja eine Schrift, die man ihr in die Hand gepreßt hatte, und hatte ihr Worte dazu gesagt, Worte, die sie wohl hörte, aber nicht verstand …

Leonhard, der in diesem Augenblick erst von einem späten Ausgang nach Hause kam, machte dem peinlichen Auftritt ein Ende. Du wirst das gnädige Fräulein bis an das Schloßthor begleiten, sagte er in strengem Ton zu Anna. – Mechanisch, ohne Wort und Gruß, ließ die junge Dame sich fortführen.

Herr von Lehfeldt hatte eine Cigarre aus der Tasche genommen, suchte wohlbedächtig nach einem Zipfelchen Papier, kniffte dasselbe, rauchte die Cigarre langsam mit behaglichen Zügen an. Dann ruhig zwischen den Männern hindurchschreitend:

Ah so, sagte er, indem er mit einem spöttischen Blick den jungen Weber fixirte: da ist ja mein Bote von gestern. Du hast mehr Glück, Bursch, als du selbst noch weißt: aber wenn du es so schlecht benutzest, wie gestern den Thaler, den ich dir anbot, so wirst du nicht weit damit kommen.

Einen Büchsenschuß vom Dorfe erwartete ihn eine Equipage und Diener mit Handpferden; er warf sich auf sein Roß, ertheilte den Dienern seine Befehle und fort brauste der Zug durch die nächtliche Stille. –

Suchen wir inzwischen die Heldin unserer Erzählung wieder auf. Mehre Stunden hatte sie sprachlos, betäubt, auf ihrem Bett gelegen; ihr ganzes Herz war zerrissen, sie sehnte sich einzuschlummern, um nie wieder zu erwachen. Endlich erinnerte sie sich der Schrift, die so lange der Gegenstand ihrer ungeduldigen Sehnsucht, ihrer Hoffnung, ihrer Befürchtung gewesen war, und die jetzt ein Chaos von Ereignissen, das sie selbst noch nicht zu enträthseln vermochte, ihr so unvermuthet in die Hand gegeben hatte. Sie erhob sich, nahm das Heft, küßte es inbrünstig – ja wohl, das waren die theuren Schriftzüge ihrer Mutter! auf diesen vergilbten Blättern hatte die geliebte Hand geruht, die jetzt so entfernt von ihr in einsamem Grabe moderte! Mit welcher Spannung, welchem Herzpochen würde sie sonst diese verhängnißvollen Seiten umgeschlagen haben! Aber so zerknirscht und ermattet war sie jetzt, daß sie mit demselben Gleichmuth ihr Todesurtheil auseinandergefaltet hätte.

Die ersten Seiten enthielten wenig, was Angelica nicht bereits wußte, theils aus den Erinnerungen ihrer Kindheit, theils aus dem neulichen Bericht des Justizraths. – Wenn diese Blätter in deine Hände kommen werden, mein theures Kind, hob das Vermächtniß an, werde ich längst nicht mehr unter den Lebenden sein. Ich fühle es, der nagende Schmerz in der Brust und diese entsetzlichen Dämonen, die Dämonen der Reue, der Verzweiflung, welche mein armes Hirn durchwüthen, werden mir nicht gestatten, die Knospe deiner Jugend, die jetzt so schön, so lieblich duftet, sich zur Blüthe entfalten zu sehen. Auch spricht der Verhaßte, mit dessen Namen ich mich zu meinem eigenen Elend beladen habe, mehr als jemals davon, mich nach England zurückzuschaffen. Er hat mich nie geliebt, ich weiß es, ich bin nur die Sprosse seines Glücks, nur das Werkzeug seiner Habsucht, der ohnmächtige Gegenstand seiner Rache gewesen; er sieht mich schon längst tief unter seinen Füßen, er verachtet mich und wirft mich weg. Nicht meines Lebens bin ich bei ihm sicher, keinen Tag: darum muß ich eilen mit dem, was ich dir zu sagen habe, mein geliebtes, unglückliches Kind, bevor es mir unmöglich gemacht wird. Es ist ein trauriges, ein jammervolles Bekenntniß, das ich vor dir abzulegen habe, die Mutter vor der Tochter. Du bist jetzt noch ein Kind; indem ich dies schreibe, vor deinem Bett, bei sorgsam verhüllter Lampe – denn seine Spione umlauern mich ja überall – ahnst du, begreifst du noch nicht, welche Schuld auf meinem Haupte lastet, du lächelst mir zu im Schlaf, und breitest deine kleinen Arme, diese lieben Arme, in denen ich allein noch Trost und Rettung finde vor dem Bewußtsein meines Unglücks, nach mir aus, mich zu umfangen. Wirst du meinem Andenken noch lächeln, wenn du diese Blätter gelesen hast? wirst du dem Andenken deiner Mutter das Geständniß einer Schuld verzeihen, die nicht blos mein eigenes Leben vergiftet hat, nein, die ihre düstern Schatten auch noch in deine unschuldvolle Jugend hinüberwirft?

Ich bin sehr schuldig, mein Kind: aber nicht so schuldig, nicht in dem Sinne schuldig, wie die Welt mich glaubt – glauben muß, weil ja der Mann, der sich jetzt meinen Gatten nennt, mein erster, mein furchtbarster Ankläger gewesen ist! Was diese Blätter auch enthalten werden, und wie viel Unwahrscheinliches, Unglaubliches du auch vielleicht in ihnen findest: glaube dennoch, mein Kind, dem Schwur, den deine Mutter in diesem Augenblick auf die Stirn ihrer schlummernden Tochter leistet, dem Schwur, daß ich keinen Buchstaben darin niederzeichne, der nicht die vollste und lauterste Wahrheit enthielte. Ach, wird mein Geständniß denn nur jemals in deine Hände gelangen? wirst du den Tag erleben, wo du reif und verständig genug bist, meine Beichte zu vernehmen? Ja werden diese Blätter dich überhaupt nur zu finden wissen? und wird dann auch dein Herz noch warm und kindlich genug sein, deiner unglücklichen Mutter zu verzeihen?

Ich weiß es nicht: und die entsetzliche Strenge, mit der ich bewacht bin, läßt mir sogar nur wenig Aussicht, diese Blätter vor meinem furchtbaren Zwingherrn zu retten. Dennoch hoffe ich es zu Gott: nicht um meinetwillen – ich habe es nicht verdient, ich habe durch Leichtsinn und Eitelkeit das Leben des Edelsten aller Männer hingeopfert und mich selbst zum Werkzeug des Verruchtesten erniedrigt, der jemals in menschlicher Gestalt unter Gottes Himmel gewandelt ist – aber um deinetwillen hoffe ich es, meine arme, unglückliche Tochter! Deiner Unschuld wird sich Gott erbarmen; er wird die Liebe belohnen, mit der du so früh schon der Trost und die Stütze deiner verlassenen Mutter gewesen bist; ihm empfehle ich dein Schicksal wie das Schicksal dieser Blätter. –

Auf diesen Eingang folgte eine gedrängte Schilderung des Jugendlebens, welches Madame Wolston im Hause ihrer Aeltern geführt; sie erzählte, wie sie Angelica's Vater, ihren ersten Gemahl, kennen gelernt, wie er sich um sie beworben, wie sie die glückliche Gattin des schönsten, edelsten, besten Mannes geworden. Mit den lebhaftesten Farben wurde das Glück geschildert, dessen sie an der Seite ihres Gemahls genossen; nie habe ein Mann seine Frau mehr geliebt, nie sei einer Gemahlin eine größere Herrschaft eingeräumt gewesen, als es von ihm geschehen.

Ach meine Tochter, fuhr das Bekenntniß fort, hätte er mich weniger geliebt, es wäre ihm besser gewesen und mir! Ich liebte meinen Mann aufrichtig und innig; aber noch größer als meine Liebe – muß ich es gestehen? – war meine Eitelkeit auf die Herrschaft, welche ich über ihn übte. Ich war sehr schön, wenigstens sagten die Leute es so, und dein Vater wurde nicht müde, es mir jeden Tag und jede Stunde zu wiederholen; es gab nichts, was kostbar, prächtig, begehrenswerth war, nichts, wonach ich nur den leisesten, flüchtigsten Wunsch geäußert hätte, er häufte es Alles zu meinen Füßen. Wäre ich ein wahrhaft rechtschaffenes Weib gewesen, ich hätte die Leidenschaft deines Vaters zu mäßigen oder doch in den richtigen Schranken zu erhalten gesucht; ich hätte nicht zugegeben, daß er seine Freunde vernachlässigte, sein Geschäft versäumte, sein Vermögen zersplitterte, nur um mir und meinen ewig wechselnden Launen zu huldigen. Ich that noch mehr, noch Schlimmeres: ich schwelgte in dem Bewußtsein der Herrschaft, die ich über deinen Vater übte, und suchte, in sinnloser Verblendung, ihn noch inniger an mich zu fesseln, indem ich seine Eifersucht erregte. O mein Kind, mein Kind, ich stehe hart an der Schwelle des Grabes, und es würde sich schlecht für mich schicken, wollte ich dich und auch jetzt noch belügen: aber erinnere dich des Schwurs, den ich dir im Anfang dieser Blätter geleistet habe, und glaube mir denn auch dies: – ich habe die Treue gegen deinen Vater nie verletzt, nie, mit keinem Wort, keinem Gedanken, keinem noch so leisen Wunsch! Es war ein wahnwitziger Uebermuth des Glücks, der mich auf dieser verderblichen Bahn fortriß – ich ahnte ja nicht, wohin sie mich führen und wie bitter ich diesen Wahn des Glücks durch meinen jetzigen Wahnsinn, die Frucht meines Unglücks, büßen sollte!

Es wurde weiter erzählt, wie gerade um jene Zeit Herr Wolston bei Angelica's Vater ins Geschäft getreten. Herr Wolston (hieß es in der Schrift) war bereits seit Monaten in unserm Hause; gewandt, von stattlichem Aeußern und einschmeichelnden Manieren, hatte er sich mir gleich anfangs zu nähern gesucht, um so mehr als es ihm nicht entgehen konnte, wer eigentlich in diesem Haushalt die Zügel der Herrschaft führte. Beinahe täglich machte er mir die Aufwartung in meinem Zimmer, bald in diesem, bald in jenem, wie er sich ausdrückte, meine Befehle einzuholen oder mein Urtheil entscheiden zu lassen. Dennoch wenn man mich gefragt hätte, wie er nur aussähe, ich hätte es nicht sagen können, so gleichgiltig war er mir, und als ich auch endlich mit der Zeit seine Huldigungen bemerkte, wurde er mir dadurch doch nicht interessanter – nur spaßhaft.

Dein Vater legte außerordentliches Gewicht auf Herrn Wolston's Thätigkeit und seine geschäftlichen Kenntnisse. Zuweilen wenn ich mit ihm von Fest zu Fest eilte, von der Oper ins Concert, vom Concert auf den Ball, und mit wahrhaft verbrecherischem Leichtsinn die Zeit und die Freigebigkeit deines edeln Vaters brandschatzte, überfiel mich wohl eine Art von Reue, und ich fing an das Unwürdige und Strafbare meines Treibens zu empfinden. Aber dann beruhigte dein Vater mich selbst; es wäre kein Opfer, das er mir brächte, er brauche sich jetzt nicht mehr so um das Geschäft zu kümmern, und auch wegen der vielen Ausgaben dürfte ich mir keine Sorgen mehr machen, seitdem Herr Wolston seine Handlung leite. Begreifst du die Verblendung, meine Tochter? Diese beruhigenden Versicherungen deines Vaters kränkten meine Eitelkeit; ich wollte ihm kosten, er sollte mir Opfer bringen, er sollte die Zeit, die er mir widmete, die Schätze, die er an mich verschwendete, mit Gefahr und Sorgen erkaufen, so verlangte es die unsinnige Selbstsucht meiner Liebe. Ich fing an, die Liebe deines Vaters zu bezweifeln; er sei kühler geworden, fürchtete ich, und beschloß seine Leidenschaften neu zu entflammen, indem ich ihm zum Schein, o so wahr ein Gott lebt, nur zum Schein –! denselben Mann zum Nebenbuhler gäbe, von dem er mir ja selbst so viel Rühmens machte und mit dessen Namen und Verdiensten er mich so häufig langweilte, während ich mit ihm von Tand, Putz, Vergnügen plaudern oder mein Ohr zum hunderttausendsten Mal an den Schwüren seiner Liebe berauschen wollte. – Ich habe dir gelobt, nichts zu verschweigen, meine Tochter; also sei auch das Bitterste gesagt: es war nicht dies allein, es war noch etwas Anderes, viel Schimpflicheres, was meine Wahl bei diesem unseligen Versuch gerade auf Herrn Wolston lenkte. Erstlich wollte ich Herrn Wolston selbst züchtigen für die Anmaßung, mit der er meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken gesucht; ich wollte ihm Hoffnungen erwecken, eitle, nichtige Hoffnungen, um ihn dann desto tiefer, desto schimpflicher zu enttäuschen. Und zweitens – brauchte ich Geld, viel Geld, mehr Geld sogar, als ich selbst von der thörichten Liebe meines Mannes zu fordern wagte. Herr Wolston aber stand der Kasse meines Mannes vor; er zeigte sich auch in diesem Punkt stets sehr galant gegen mich und schlug mir nie eine Summe ab, nach der ich, auch selbst ohne Wissen meines Mannes, schickte. Du erräthst das Uebrige …

Dein Vater schien kein Auge zu haben für die Auszeichnungen, mit denen ich seinen Geschäftsführer seit einiger Zeit beehrte und die bereits in der Gesellschaft Aufsehen zu erregen anfingen. Auch dies war nur ein Uebermaß seiner Liebe, jetzt sehe ich es ein: damals aber bestärkte es mich nur immer mehr in meiner furchtbaren Verblendung und reizte mich, das teuflische Spiel, das ich trieb und zu dem Herr Wolston sich nur allzu willig hergab, immer offener, immer sichtbarer werden zu lassen. Eifersucht, dachte ich, gehört zur Liebe, wer nicht eifersüchtig ist, liebt nicht – und wollte also deinen Vater zur Eifersucht nöthigen.

So kam jener entsetzliche Morgen, o jener Morgen mein Kind – Todesschauer durchrieseln mich, indem ich an das Gericht denke, das mich jenseit des Grabes erwartet: aber kein Gericht Gottes und keine Höllenqual der Verdammten kann so entsetzlich sein, wie die Erinnerung an diesen Morgen!

Ermüdet von Tanz und Spiel, träumte ich noch zwischen meinen seidenen Betten. Da höre ich plötzlich ein Laufen auf den Gängen, Thüren fliegen, Jammergeschrei wälzt sich durch die Zimmer – ich springe auf – stürze hinaus – hinunter zum Cabinet meines Mannes …

Da lag er, die Pistole in der Hand, mit zerschmettertem Schädel …

Wie ich wieder zu mir kam, stand Herr Wolston neben mir; er sah mich an mit einem Lächeln – ach, mein Kind, es war das erste Mal, daß ich dieses Lächeln sah –, aber wie oft seitdem habe ich es wieder gesehen, bei Tag, bei Nacht, bis ich wahnsinnig geworden bin über dieses Lächeln! –

Ihr Haus ist bankerott, sagte er, und die böse Welt – indem er mir einen Brief entgegenstreckte, der mit dem Blute meines Gatten bespritzt war – thut mir, wie ich aus diesem Schreiben ersehe, die sehr unverdiente Ehre an, mich für den Gegenstand Ihrer Gunst zu halten. Ihr Herr Gemahl war nicht stark genug, das Zusammentreffen zweier solcher Nachrichten zu ertragen …

Frage mich nicht, mein Kind, wie ich die nächsten Monate verlebt habe; frage auch nicht, wie es sich gemacht hat, und auf welche Weise es möglich geworden ist, was doch nur allzu bald Wirklichkeit war, schauderhafte, verbrecherische Wirklichkeit! Die menschlichen Handlungen und Entschlüsse werden von einer solchen Masse kleiner unscheinbarer Umstände bestimmt, und das Ungeheuerste, das Unglaublichste selbst wächst so langsam, so allmälig empor, daß wir es nicht eher gewahr werden, als bis es in seiner ganzen furchtbaren Gestalt vor uns steht. Der Gedanke, mein Leben in Zukunft in Armuth und Entbehrungen hinbringen zu müssen, war mir so entsetzlich, der Eifer, mit welchem Herr Wolston sich der Ordnung meiner Verhältnisse annahm, so groß, daß ich ihm den Preis, den er auf seine Bemühungen setzte, nicht zu verweigern wagte – den Preis meiner Hand. Was hatte ich auch zu verweigern? Als Witwe deines Vaters war ich verarmt, verachtet, mit Schmach bedeckt; die Ehe mit Herrn Wolston versprach nicht nur meinen Wohlstand, sie versprach auch meine Ehre, wenigstens in den Augen der Welt, wieder herzustellen.

Besonders dieser letztere Grund entschied. Herr Wolston setzte ihn mir mit all der furchtbaren Klarheit und Kälte auseinander, unter der ich seitdem so Unsägliches zu leiden gehabt habe. Es ist eine Lüge gewesen, sagte er, durch welche man die Verzweiflung Ihres Mannes auf den Gipfel getrieben hat; wer kann es besser wissen als wir Beide, Madame? als ich, der ich von dem Glück, welches die Welt mir so bereitwillig zuschreibt, niemals auch nur den leisesten Schatten genossen? Wir sind unschuldig, Madame, unschuldig zum Bemitleiden, und Ihr Mann ist für eine Lüge gestorben. Aber gleichviel, diese Lüge wird einmal geglaubt, unsere Unschuld nicht; für die Welt sind Sie einmal die treulose Gattin, ich der Verführer. Machen wir gute Miene zum schlimmen Spiel. Ich will die Schulden und die geschäftliche Verwirrung Ihres seligen Mannes übernehmen, will es übernehmen, Ihnen ein neues Vermögen herzustellen und die Zukunft der bedauernswerthen Waise da (wobei er auf dich deutete) zu sichern; ich will es auch auf mich nehmen, Ihre Ehre herzustellen. Werden Sie meine Frau; die Welt, die nun doch einmal schon das Böseste von uns denkt, wird sich beruhigen, indem sie sieht, daß wir das Unrecht, das sie uns andichtet, doch wenigstens nach Kräften versöhnen und in Vergessenheit bringen wollen. Und wir selbst, Madame, haben ja den Trost des guten Gewissens  … Ich wurde sein Weib – nicht aus Liebe, o weiß Gott nicht! und das ist eben mein zweites unverzeihliches Unrecht. Wie verderbt dieser Mensch auch war – und noch im Traum damals hatte ich keine Ahnung davon, daß und wie sehr er es war –: so hätte ich doch mehr Ehrfurcht haben sollen vor der Heiligkeit der Ehe und dem unverjährbaren Recht der Liebe, um ihm die Hand zu reichen, mit diesem kalten gleichgiltigen Herzen, aus diesen elenden, feigen Rücksichten, aus denen ich es that.

Herr Wolston selbst (fuhr die Erzählung fort) wußte das auch recht gut; schon in den Flitterwochen unserer Ehe sagte er es mir, daß ich ihn nicht liebe, noch er mich, daß wir Beide nur ein Geschäft mit dieser Ehe gemacht hätten, und daß es nun unsere Aufgabe sei, dieses Geschäft mit möglichst gutem Anstand und mit dem möglichsten Gewinne für uns selber durchzuführen. Denke dir, mein Kind, mich, mit dem leidenschaftlichen, liebeverwöhnten Herzen, an der Seite dieses kalten, ehernen Mannes! Er spottete der Thränen, die ich dem Andenken meines unglücklichen Gatten weinte; er verhöhnte die Liebkosungen, die ich mir von dir erschmeichelte, dir, meinem Kinde, um doch nicht ganz verarmt von Zärtlichkeit zu sein; er sprach mit Geringschätzung von dir, er verfolgte, schalt, schlug dich, blos weil er wußte, daß ich dich liebte und daß er meinem Herzen damit wehe thäte. Ich solle mich der Sentimentalität entwöhnen, sagte er, er habe eine Frau haben wollen, nicht ein Klageweib; wenn ich nichts könnte als weinen und seufzen, würde ich am besten thun, meinem Manne zu folgen. Und ich mußte es mir Alles gefallen lassen, dies und noch viel Schlimmeres – mußte mir sagen lassen, ich hätte ihm ja nachgestellt, noch bei Lebzeiten meines Mannes; meine Gefallsucht, meine Eitelkeit habe denselben ja in den Tod gejagt; er, Gott Lob, habe eine zu feste Constitution und zu gesunde Nerven, um eben solch ein Tropf zu sein wie mein Mann – mußte auch täglich, stündlich sehen, wie ungleich mein zweiter Gemahl dem ersten war: versteckt und arglistig, wo dieser offenherzig und großmüthig bis zur Thorheit, habsüchtig und geizig, wo jener freigebig und sogar verschwenderisch, hart und grausam, statt der Menschlichkeit und Güte, welche deinem Vater aus den milden, schönen Augen geleuchtet hatte …

Ich wurde ein sehr elendes Weib, mein Kind; die fürchterliche Allwissenheit meines Mannes, mit der er meine leisesten Empfindungen durchspähte, meine geheimsten Gedanken belauschte, drückte mich nieder wie einen Wurm, daß ich mich nicht einmal zu krümmen wagte unter seiner fürchterlichen Herrschaft. So sehr gering hielt er, so völlig verachtete er mich, und gab mir dies kund bei jeder Gelegenheit, als ein beschränktes, eitles, gefallsüchtiges Weib, daß ich mich selbst zu verachten begann. Wie oft stand ich im Begriff, durch eine ähnliche That der Verzweiflung, wie dein unglücklicher Vater sie begangen, mich diesem Elend zu entreißen!

Aber auch diesen Gedanken errieth ja der entsetzliche, Alles durchschauende, Alles erspähende Mann. Sie fühlen sich unglücklich bei mir, Madame, sagte er höhnisch, Sie wollen sich tödten; als ob Sie wohl den Muth dazu hätten! Tödten Sie sich doch, erweisen Sie mir doch den Gefallen! Aber vorher, damit Sie doch wissen, weshalb und wofür, erfahren Sie erst, wie unglücklich Sie eigentlich sind und an welchen Mann Ihr empfindsames Herzchen gerathen ist. Sie verachten mich, ich bin ein Unmensch in Ihren Augen, weil ich nicht tändle und schmeichle und nicht der Knecht Ihrer Launen bin, wie mein Vorgänger; wohlan denn, Sie sollen Grund dazu bekommen …

Und nun, meine Tochter, mit der ganzen ehernen Stirn, die allein dieser Mensch besitzt, enthüllte er mir alle geheimen Schandthaten und Verbrechen seines Lebens; er that sich groß, er rühmte sich damit vor mir, weil er sah, wie mir das Blut dabei in den Adern stockte und wie meine Sinne in Verwirrung geriethen vor Scham und ohnmächtigem, schmerzlichem Zorn. Sehen Sie her, Madame, sagte er, ich will Ihnen zeigen, wozu dieser kalte Verstand, den Sie so sehr gering schätzen, gut ist im Leben. Sehen Sie diese Maschinen, diese bewundernswerthen, die jetzt so lustig für uns arbeiten und mit ihren armseligen Baumwollenfäden das seidene Kleid erspinnen, in welchem Sie sich so gerne brüsten – ich habe den Plan dazu einem armseligen deutschen Tölpel abgelistet, einem dummen einfältigen Weber, dem auch das sogenannte Herz auf der Zunge saß; er kannte das Kleinod nicht, das er bei sich trug, verstand es nicht zu würdigen und anzuwenden, und daher ist ihm Recht geschehen, daß er es an den Klügern verlor. – Sehen Sie ferner den letzten Jahresabschluß meines Vermögens, ich bin jetzt so ziemlich reich, nicht wahr, und der Bankerott Ihres Mannes ist so leidlich gedeckt? Aber dieser Bankerott, sage ich Ihnen, hat nie existirt! Ihr Mann war ein Verschwender, ein Unverständiger, der sein eigenes Geschäft nicht kannte und nichts anzufangen wußte mit den Mitteln, welche das Glück ihm beschert. Ich war der Klügere, ich mußte an seine Stelle, das schöne Geld durfte nicht müssig, die vortreffliche Conjunctur nicht unbenutzt bleiben –; ich rechnete ihm den Bestand seines Vermögens vor und er war bankerott nach meiner Rechnung  …

Und schoß sich in diesem Wahn die Kugel durch den Kopf, schrie ich in rasender Verzweiflung!

Nein, noch nicht, erwiderte das Ungeheuer ruhig, indem er den blutbespritzten Brief aus dem Pulte holte: erst bekam er noch dies hier, – sehen Sie sich die Schriftzüge recht an, Madame – sie sind verstellt, merken Sie wohl? Gut denn: ich selbst habe diesen Brief geschrieben! ich selbst war, in einer Person, unser eigener Verleumder und Verräther! – Ich wollte das Vermögen, wollte vor Allem das Geschäft Ihres Mannes haben, das, in seinen Händen das Spielwerk eines Knaben, in meinen Händen eine unbesiegbare Waffe werden mußte, Reichthum, Macht, Ansehen zu erwerben. Er stand mir im Wege, er mußte fort; er kam fort. Aber sein Tod hätte mir nichts genützt, wenn ich nicht zugleich in den Besitz seines Nachlasses kam; darum mußte ich Sie so umstricken und mußte es so einrichten, daß Sie es sich noch zur Ehre schätzen mußten, meine Gemahlin zu werden. Auch mußte ich Sie bestrafen, Madame, für das Spiel, das Sie sich unterstanden hatten mit mir zu treiben, indem Sie mir Gefühle heuchelten, die Sie nicht empfanden, und mir Hoffnungen erweckten, die Sie niemals halten wollten. Gut denn, ich habe Sie genöthigt sie zu halten, selbst gegen Ihren Willen; die Ehe mit mir ist Ihre Strafe. Entsinnen Sie sich noch des Vertrags, den ich Sie am Morgen unserer Hochzeit unterschreiben ließ? durch den Sie anerkannten, daß das Vermögen Ihres Mannes bis auf einen winzigen Rest in seinem Bankerott verloren worden, und daß Alles, was die Handlung in diesem Augenblick besitze, allein mein Eigenthum sei, dafür, daß ich die Deckung Ihrer Verpflichtungen übernommen? – Nein, Sie entsinnen sich schwerlich, Sie haben das ohne Zweifel eben so gedankenlos, voll lauter Sentimentalität und Wehmuth, unterschrieben, wie Sie Alles zu thun pflegen – lassen Sie sich doch scheiden, Madame, lassen Sie sich doch scheiden –: Sie sind eine Bettlerin, und die kleine Miß Angelica kann Besen binden …!

Was ich dir hier schreibe, meine Tochter, war keineswegs, wie ich es hier darstelle, das Ergebniß einer einzigen Unterredung: langsam, wie ein sickerndes Gift, in tausend kleinen, tödtlichen Tropfen, flößte er mir allmälig seine furchtbaren Enthüllungen ein. Ich raste, tobte, wollte ihn würgen mit diesen meinen schwachen Händen, drohte mit Anzeige und Gericht – hohnlachend schleuderte er mich zurück –

Klagen Sie doch, ja wohl, sagte er, Madame, eilen Sie doch, klagen Sie doch – haben Sie einen Beweis als meine eigene Aussage? einen Zeugen als mich selbst? Man wird sagen, daß Sie toll sind, Madame, und der Arzt wird Ihnen ein Attest ausstellen, daß Sie ins Irrenhaus müssen …

Hier war eine Lücke im Manuskript; mit veränderter Tinte und entstellter Handschrift folgte es dann weiter:

Seit Monaten habe ich diese Schrift unberührt gelassen, ich bin krank gewesen – ach, er hat wohl Recht, ich bin ja toll, und wenn er mit dem Irrenhause droht, was kann ich entgegnen? Ich muß eilen, diese Bekenntnisse zu Ende zu bringen. Sie sind unvollständig: aber du weißt genug jetzt, meine Tochter, um dir diese Verzweiflung zu erklären, von der du so oft Zeuge gewesen bist, weißt genug, um den Mann zu kennen und dich gegen ihn zu schützen, der Namen und Gewalt eines Vaters über dich in Anspruch nimmt. Du bist mein einziges Kind, ich erkenne kein anderes an. Auch Julian habe ich geboren, ja: aber ich habe ihn geboren aus Umarmungen, bei deren bloßem Andenken mein Blut zu Eis erstarrt! Julian ist nicht mein, er ist nur sein Sohn; er liebt ihn, wie er dich haßt, du mein armes, unglückliches Kind – für Julian ist gesorgt, er braucht keine Mutter. Aber dich, mein Kind, dich will ich schützen, dich retten, so weit ich es noch vermag! Ich weiß nicht, was Herr Wolston über mich entschieden hat: aber eine Entscheidung hat er getroffen und die Ausführung steht nahe bevor, ich merke es an Allem. Ich soll ein Testament machen, verlangt er, ich soll die Unwahrheit und Schande dieser Ehe durch ein letztes feierliches Document bestätigen. Was wird er verlangen, daß ich hineinschreibe? was wird sein Haß gegen dich meiner willenlosen Feder dictiren? Allein, was es auch sei: dir, mein Kind, hinterlasse ich die Pflicht, die Ehre deiner Mutter und die Ehre der Wahrheit zugleich zu rächen! Es ist ein gewaltiger, unbestechlicher Gott, der jedes Unrecht züchtigt und kein Verbrechen ungestraft läßt, wie geheim es sei; an meinem eigenen furchtbaren Schicksal habe ich es erfahren. Diesem Gott, meine Tochter, überantworte ich dich und dein Recht! – Und somit, im Bewußtsein des allgegenwärtigen und allmächtigen Gottes, und so wahr ich an ein ewiges Leben glaube, das aber für mich nur eine Ewigkeit sein wird voll Qual und Entsetzen, erkläre ich hiermit und will, daß es öffentliche rechtliche Geltung habe vor aller Welt, von dem Augenblick an, da du, meine Tochter, dies mein einziges und allein giltiges, wahrhaftes Testament eröffnet haben wirst – erkläre und schwöre hiermit, daß du Angelica, meine einzige Tochter aus meiner ersten Ehe, auch die einzige und alleinige – – –

Wir überlassen es der Phantasie des Lesers, sich die athemlose Spannung und Aufmerksamkeit auszumalen, mit welcher das junge Mädchen, in der einsamen Stille der Nacht, bei tief herabgebrannten Kerzen, bis hierher gelesen hatte. Und nun male man sich auch das Entsetzen aus, welches sie befiel, als sie bis an diese Stelle gekommen war, wollte das Blatt umschlagen – es war kein Blatt mehr da! gerade das letzte, entscheidende Blatt fehlte!!

Hatte es immer gefehlt? war ihre unglückliche Mutter vielleicht nie dazu gekommen, die Schrift zu vollenden? Die Blätter waren zerdrückt, zerknittert – war ein Blatt verloren gegangen? lag es vielleicht vor ihr auf der Decke? hier, da, dort, auf diesem Tisch, auf jenem Stuhle, auf dem Teppich an der Erde, zwischen den Kissen ihres Bettes? In lautes jammervolles Wimmern ausbrechend, suchte sie in verzweifelter Hast die ganze Stube durch; wie eine Wahnsinnige, mit fliegenden Haaren, ergriff sie das Licht, leuchtete hinaus auf Gänge und Treppen, schellte ihrem Kammermädchen, fragte, forschte …

Vergebens! kein Blatt ist zu finden! –

Als der späte Morgen mit bleichem Schein in ihr Zimmerchen hereindämmerte, saß Angelica noch immer aufrecht über ihren Papieren; sie hatte nicht mehr geweint, nicht geschrien, nichts – sie war ganz still, ganz still …

So, zu seinem Entsetzen, das stiere Auge noch immer auf die Schrift ihrer Mutter gerichtet, fand sie noch am nächsten Vormittag der Justizrath. Der alte Herr hatte die ganze Nacht nicht schlafen können, er war dahinter gekommen, daß er es am Ende doch wohl zu arg mit dem Engelchen gemacht; er kam, um Buße zu thun. Aber der Scherz erstarb ihm auf der Lippe, da er das bleiche, verstörte Mädchen sah; nur mit größter Mühe gelang es ihm, den Zusammenhang von ihr zu erfragen. Auch er suchte das ganze Zimmer, das ganze Haus durch, kein Schnittchen Papier, das irgendwo auf Flur oder Treppe lag, blieb unbesehen. Aber auch er fand keine Spur.

Doch hatte er noch eine Hoffnung, einen Weg wenigstens, um zu erfahren, ob hier ein Blatt verloren gegangen, oder ob durch irgend einen feindseligen Zufall das Bekenntniß der Mutter niemals bis zu Ende geschrieben war: – der tolle Heiner und Reinhold, welche das Dokument überbracht hatten, mußten darüber Auskunft geben, mußten wenigstens sagen können, woher sie es hatten, um daran weitere Nachforschungen anzuknüpfen.

Somit rannte der alte Herr auf der Stelle fort, um zunächst den Sohn des Meisters aufzusuchen.


 << zurück weiter >>