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Sechstes Kapitel.
Festmorgen

Grüne Weihnachten, weiße Ostern. Unwillkürlich mußte Angelica an diesen alten Volksspruch denken, als sie am Morgen ihres Geburtstags das Fenster öffnete und die Luft ihr entgegenströmte, so warm und mild, wie sonst niemals in dieser Jahreszeit. Die Beziehung lag freilich nahe genug: auch für Angelica war das Glück dieses Tages nur ein trügerisches, auch für sie lag die Zukunft unter weißer, banger Leichendecke. Die junge Dame hatte nun völlig abgeschlossen mit allen Wünschen, Hoffnungen, Plänen; der unerklärbare Umstand mit dem fehlenden letzten Blatte in der Handschrift ihrer Mutter, den auch der Justizrath durch keine Bemühungen hatte aufhellen können, war in ihren Augen ein deutlicher Beweis, daß Gott ihren Untergang wollte. Und so hatte sie denn beschlossen, dem Unvermeidlichen keinen Widerstand mehr, sondern nur noch eine heitere, gefaßte Stirn entgegenzutragen.

Auch in dem Tode ihrer Freundin Lene, der ihr im Laufe des gestrigen Abends bekannt geworden war, erkannte sie ein solches Zeichen des Himmels; es sollte sich eben Alles lösen, woran sie bisher mit Banden der Freundschaft, des Zutrauens, der Gewöhnung geknüpft gewesen war. Herrn von Lehfeldt's Namen wagte sie nicht mehr zu denken, so verhaßt war er ihr seit dem gestrigen Auftritt geworden; von Reinhold wußte sie sich verachtet; der Justizrath hatte seine Abreise auf den nächsten Morgen festgesetzt, da er ja hier ganz unnütz sei – und von ihrem Bruder sollte der heutige Tag sie auf ewig trennen.

Von ihrem Bruder! – Leise hatte sich die Thüre hinter ihr geöffnet, und ehe sie es noch merkte, lauschte Julian's liebes, blasses Antlitz ihr freundlich über die Schulter. Es war eine ganz ähnliche Scene, wie am Morgen nach ihrer Ankunft; ganz ähnlich und dennoch wie anders!

Julian kam, der Schwester seinen Glückwunsch darzubringen. Ich sollte dir im Grunde nichts wünschen, sagte er, es ist die reine Selbstsucht, wenn ich es thue: denn Alles, was dir Gutes widerfährt, widerfährt ja doch eigentlich nur mir. Du bist es, von der ich Leben und Wohlsein trinke; wenn ich dich einmal wieder von mir lassen müßte, da schlummerte ich gleich hinüber, ich weiß es. Aber wir bleiben nun immer zusammen, meine Angelica? immer, nicht wahr? Bis ich sterbe, setzte er mit gelassenem Lächeln hinzu: dann sollst du deine Freiheit wieder haben, du schöner, lieber Sommervogel; aber so lange bist du meine kleine Gefangene.

Immer! schluchzte Angelica; sie zitterte, indem sie die Unwahrheit bedachte, die sie aussprach: aber wo hätte sie den Muth hernehmen sollen, ihrem Bruder die Wahrheit zu gestehen?

Julian beklagte sich über die unerträgliche Langeweile, die er bei der gestrigen Festlichkeit empfunden, und die noch viel größere, die ihn für heute erwarte, da Herr Wolston durch keine Bitten zu bewegen gewesen, ihn davon zu befreien. Sieh nur, sagte er, mit einem unwilligen Blick auf seinen gewählten Anzug, die dumme Pracht, wie ich mich habe putzen müssen.

Sowie Angelica hörte, daß Julian den Festlichkeiten beiwohnen werde, beschloß sie sogleich, ihrem frühern Vorsatze entgegen, ebenfalls dabei zu erscheinen; es war ja, allem Vermuthen nach, der letzte Liebesdienst, den sie ihrem Bruder erweisen konnte.

Julian klatschte in die Hände: Und da machen wir vorher noch einen Gang durch den Garten; sieh, wie mild die Luft ist, der Himmel freut sich, daß heute dein Geburtstag ist, darum schickt er dies Frühlingswetter.

Arm in Arm, nach ihrer Gewohnheit, wandelten sie die stillen, öden Gänge dahin. Im Dorf wurden die Glocken geläutet, zum Zeichen, daß das Fest nun bald beginnen würde, während auf Befehl des Commerzienraths ein Musikcorps vom Balcon des Schlosses prächtige Weisen spielte.

Aber wir entfernen uns zu weit vom Schlosse, man könnte uns suchen, erinnerte Angelica, als ihr Bruder sie immer weiter und weiter drängte, fast bis an die äußerste Grenze des Gartens, wo eine wild romantische Gebirgslandschaft mit Felsvorsprüngen und Schluchten sich anschloß. Aber Julian gab nicht nach mit Bitten und Treiben: nur ein kleines Stückchen noch, ein ganz kleines Ende, die Luft thue ihm heute so ganz besonders gut, und er müsse sich recht satt daran trinken, um es nachher in den stickigen Sälen aushalten zu können.

Guter Bruder! rief Angelica gerührt, als sie an eine Ecke des Gartens gekommen waren: es war ihr Lieblingsplatz seit alten Zeiten, man genoß von dort aus einer herrlichen Fernsicht auf das Gebirge, und das Engelchen hatte sich öfters gewünscht, hier einen Ruhesitz zu haben. Das war das Geburtstagsgeschenk, das Julian ihr bereitet: er hatte den Platz durch den Gärtner sorgsam ebnen und mit kleinen Tannenbüschchen bepflanzen lassen, die mit ihrem lichten Hoffnungsgrün zwischen dem übrigen nackten Gestrüpp anmuthig hervorleuchteten. Die Felsecke war zu einer Bank zurecht gehauen, über derselben, als Symbol, drei ineinander verschlungene Ringe.

Das soll nun die Engelsbank heißen, sagte Julian: ein besserer Name als die unselige Julianshütte, welche mein Vater heute einweihen will. O wie ich mich ängstige vor diesen Rädern und Maschinen!

Die Geschwister hatten sich auf der Bank niedergelassen – Stör' ich? fragte eine Stimme, indem zugleich eine dicke, keuchende Gestalt den steilen Pfad hinaufarbeitete.

Es war Herr Florus, schon im schönsten Festanzuge. Ah, meine charmanten Kinder, rief er, Sie werden sich erkälten auf dem verdammten Steinsitz, das ist nichts bei solcher Witterung, und am wenigsten für einen Patienten wie Sie, Herr Julian. Uebrigens suche ich Sie schon seit einer halben Stunde durch den ganzen Garten; wer Wetter wird auch so weit laufen! Ihr Herr Vater schickt mich, Julian; die Festlichkeit wird gleich beginnen, der Festzug der Arbeiter ist schon aufgestellt und wälzt sich hin und her und zappelt wie eine Schlange, die im Verscheiden liegt, so besoffen ist die Mehrzahl der Kerle schon, und von den neuen weißen Kutten, welche die Frau Commerzienräthin für die kleinen Verwahrlosten hat machen lassen, sind drei Viertel schon beklext. Ich weiß nicht, wie das noch werden soll und wie wir mit Ehren bestehen werden. Ja, was ich sagen wollte: es ist ja auch Ihr Geburtstag heut, schönes Engelchen; Gott segne Sie! Ich habe viel Verse machen müssen die Zeit, verdammt viel Verse, Ihre Frau Mutter ist reineweg nicht satt zu kriegen mit Liedchen: Liedchen beim Einmarsch und Liedchen beim Ausmarsch – Liedchen vor der Predigt und Liedchen nach der Predigt – aber ein Sonett für das schöne Wiegenkind, das darf doch nicht fehlen, oho, wozu wär' ich denn sonst der Florus! Ich will doch nicht gar fürchten (indem er aus einer Tasche in die andere fuhr), daß ich es habe auf meinem Schreibtisch liegen lassen – mein Gott, der Mensch hat heute so viel zu thun …

Endlich fand er sein Portefeuille, blätterte hastig darin umher – Aha, da finde ich noch etwas für Sie, rief er: Sehen Sie mal her, was das ist? Was Vaterländisches, da, rathen Sie mal, wo ich das gefunden habe –

Damit reichte er ihr das Blatt, das er gestern Morgen vom Hofe des Meisters mitgenommen. Ein einziger Blick Angelica's – sie erkannte die Handschrift ihrer Mutter – es war das Blatt, das sie so verzweiflungsvoll gesucht hatte!!

Ich muß fort, stammelte sie, indem sie das Blatt fest mit beiden Händen an ihren Busen drückte: augenblicks fort, zurück ins Schloß, lieber Julian, ich habe etwas vergessen, Herr Florus wird die Güte haben, dich zurück zu begleiten …

Wie ein gehetztes Reh sprang sie den Weg zum Schlosse zurück.

O mit tausend Vergnügen, ist mir eine große Ehre, puhstete der dicke Poet: aber nur diesmal hab' ich unmöglich Zeit, Sie gehen ein wenig langsam, liebster Julian, und ich, sehen Sie, ich bin heute ganz unentbehrlich im Schlosse – so zu sagen, als Festordner – richtig, da setzen die Posaunen schon ein, nun geht der Spectakel mit Nächstem los – Herrgott und ich bin noch nicht da – auf Wiedersehen, liebster Julian! Ich werde Ihnen einen Bedienten mit dem Rollstuhl schicken …

Es thut nicht Noth, sagte Julian gutmüthig, ich fühle mich ganz stark und wohl und kann das kleine Stückchen Weg schon allein zurückgehen.

Nun desto besser, brummte der Poet, indem er mit möglichster Eile fortstapelte: bei der Wirthschaft, die heut im Schlosse ist – es ist der gnädigste Herr Sohn, allerdings: aber ich weiß doch nicht, ob bei dem Rumor gleich ein Bedienter mit dem Rollstuhl für ihn dagewesen wäre …


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