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XXIX.

Soeben hatte Hauptmann Davenport seinem noch immer in der Market Street wacker arbeitenden Freunde Williams warm die Hand gedrückt und war dann mit seiner Kompanie weitermarschiert, nach dem Norden, noch einmal dem Chinesenviertel zu, wo er früher manche fröhliche Stunde genossen hatte, wo aber jetzt – wie ihm vor kurzer Zeit gemeldet worden war – eine wahre Hölle von niedrigen Leidenschaften und Verbrechen jeder Art losgelassen war. Nur ungern hatte er sich endlich entschlossen, diesem wüsten Wesen ein schnelles Ende zu bereiten; er hatte nun einmal eine Vorliebe für diese Asiaten mit ihrem seltsamen Hausrat, ihren wunderlichen Schmuckgegenständen und vor allem: ihrem wirklich vortrefflichen Tee. Als man ihm aber geschildert hatte, daß durch das Erdbeben ein ganzes Labyrinth von unterirdischen Gängen und Höhlen aufgedeckt worden sei, und daß man in diesen unheimlichen Schlünden ganze Reihen von einst vermißten, heiß und ängstlich gesuchten Kindern als Leichen aufgefunden habe, da verschwand in ihm jede Schwäche und Zuneigung: als Richter und Rächer wollte er nun den gelben Schuften erscheinen.

Dieses Gefühl wurde bestimmter und tiefer, je öfter der Hauptmann auf seinem Wege durch die zerstörten, völlig ausgestorbenen Straßen mit ihren unzähligen, nun schon verwesenden Leichen gezwungen war, wieder und wieder eine dieser bezopften Hyänen, dieser Verworfensten aller Räuber: der Leichenschänder, niederstrecken zu lassen. Aber auch sonst war alles in dieser traurigen Trümmerwüste dazu angetan, sein Gemüt immer mehr zu verfinstern; nicht allein, daß seine Seele durch den ewigen Anblick von Ruinen und in jeder nur erdenklichen Weise verstümmelten Leichen endlich jedes Frohgefühl verloren hatte, nein, es waren auch die großen physischen Qualen, die er und seine Leute unausgesetzt zu erdulden hatten: der Aschenboden unter ihm war heiß und versengte fast seine Füße, ein entsetzlicher Durst peinigte ihn, und doch mußte er meist das Wasser, mit dem er so gern seine brennenden Lippen gekühlt hätte, an andere darnach – vielleicht oft ganz mit Unrecht – Schreiende abgeben. Das allerschlimmste aber war es für ihn, den sauberen, sein tägliches Bad über alles schätzenden Amerikaner, daß er sich seit mehreren Tagen nicht einmal hatte waschen dürfen, denn er mußte ja sogar auf höheren Befehl jeden mit dem Tode bestrafen, der das kostbare Naß irgendwie anders als zum Trinken gebrauchte! –

Unter solchen dumpfen, schmerzlichen Gedanken und Gefühlen, die auch noch dadurch zur kaum noch zu ertragenden Pein geworden waren, daß er seine Cäcilie gar nicht mehr sehen durfte, war er endlich bis zum Strand vorgedrungen.

Ach, das liebe, schöne Cliff House war auch verschwunden! Die nunmehr blutroten Wogen bedeckten es; denn blutrot erschien das Meer, soweit das Auge nur blickte: der Flammenozean der Stadt spiegelte sich mit schauerlicher Schönheit im Wasser. Auch alle die vielen Schiffe sahen aus, wie in Blut getaucht.

In diesem Augenblicke hörte Davenport vom Chinesenviertel her eine Salve krachen, und sein dunkles, geschwärztes Gesicht, aus dem die Augen jetzt rot hervorfunkelten, verdüsterte sich noch mehr.

»Sollte mir jemand zuvorgekommen sein?« murmelte er wütend vor sich hin, »oder sind es am Ende gar wieder diese vermaledeiten Lümmel? Dann wehe euch! – – Vorwärts!« kommandierte er nun, zum Äußersten entschlossen.

In der Kearny Street kam ihm eine Ordonnanz auf keuchendem, schweißbedecktem Pferde entgegen; dicht vor ihm hielt der Soldat sein Pferd an.

»Hier, Kapitän,« sagte er, »ein Schreiben vom General; ich habe Euch schon in der ganzen Stadt gesucht!«

Der Hauptmann erbrach schweigend den Brief, und die Unmutswolke auf seiner Stirne wurde noch finsterer.

»Zum Major befördert!« murmelte er vor sich hin, »aber sofort zum persönlichen Adjutantendienst bei mir zu erscheinen! – Eine verzuckerte bittre Pille!«

Dann sagte er laut zu dem Soldaten: »Es ist gut! Ich lasse dem Herrn General gehorsamst melden, daß ich heute nachmittag Punkt vier Uhr bei ihm erscheinen werde!«

Die Ordonanz sprengte davon, und Davenport sagte wieder zu sich selbst: »Meine Sache hier führe ich doch erst aus!«

Er wollte eben in eine Querstraße einbiegen lassen, als ihm aus dieser eine große Schar – Milizsoldaten, wohl ebenso zahlreich wie seine Kompagnie, entgegenkam, alle, im Gegensatz zu seinen Leuten, rein gewaschen und augenscheinlich auch gar nicht vom Durst gefoltert.

Davenport ergrimmte in jeder Faser seines Körpers. Er ließ halten und herrschte die Jungen an: »Treibt ihr euch noch immer herum, ihr nichtswürdigen Bengel? Wenn ihr euch nicht sofort nach Hause schert, so ...«

»Halt! Einen Augenblick, Kapitän!« unterbrach ihn der eine, wohl der Anführer, ziemlich besonnen. »Wir wollen beide häßliche Worte vermeiden. Wir erkennen Euch als Hauptmann der regelrechten Armee an und achten Euch als Vorgesetzten; aber auch Ihr wißt, daß wir vom Bürgermeister ausgeschickt worden sind, ebenfalls auf Ordnung ...«

»Es gibt aber keinen Bürgermeister mehr!« brauste nun Davenport in unbesieglichem Zorn auf, »und das wißt ihr! Der General und seine Offiziere sind jetzt der Bürgermeister! Aber glaubt ihr vielleicht, ich werde mich hier mit euch auf Unterhandlungen einlassen? Ich, an Stelle der alleinigen Obrigkeit befehle und ihr gehorcht! Also die Waffen nieder!«

»Wir gehorchen nicht! Einem solch frechen Befehle nicht! Wir behalten unsre Waffen!« entgegnete der Anführer trotzig.

Und nun geschah das unglaubliche, das ungeheuerliche: zwei, doch dasselbe Ziel verfolgende Autoritäten, bereiteten sich zum erbitterten, mörderischen Kampf!

Auf beiden Seiten erscholl das furchtbare: »Fertig!« Auf beiden Seiten das noch furchtbarere: »Feuer!« Zu gleicher Zeit krachten die Salven, und als sich der Rauch verzogen hatte, sah man auf beiden Seiten eine Menge Toter und Verwundeter, unter den letzten auch Davenport und den Anführer. Aber der Hauptmann blieb auch jetzt, wo er dem Tode nahe war, durch und durch Soldat.

»Feldwebel!« rief er mit schwacher Stimme, »mit mir ists aus! Nehmt das Kommando und führt unsern Befehl aus;« dann verlor er das Bewußtsein.

In diesem Augenblicke langte Mr. Truth an. Auch er hatte die Spur seines Freundes seit einer Stunde mühselig verfolgt. Sein erster Blick fiel auf den Brief des Generals, den Davenport zwischen zwei Brustknöpfe gesteckt hatte, und der von einer Kugel durchbohrt war!

Der Redakteur konnte seine Träne nicht zurückhalten.

»O, Du unseliger Mann!« stöhnte er dann, warum hast Du den Befehl, den wir so schwer für Dich erwirkt hatten, nicht sofort befolgt?! Doch wozu jetzt alles unnötige Klagen und Jammern, – vielleicht ist er noch zu retten! Was gedachtet Ihr mit Eurem Chef zu tun, Feldwebel?« wandte er sich dann an diesen.

»Zum General hinschaffen zu lassen!« erwidert der Soldat kurz.

»Erlaubt Ihr mir, daß ich ihn in meine Obhut nehme?« fragte Truth wieder, indem er sich völlig vorstellte.

»Dagegen ist wohl nichts einzuwenden!« versetzte der Feldwebel.

Nun holte der Journalist eine Droschke herbei Soldaten hoben den Verwundeten hinein, und Truth fuhr mit einem letzten traurigen Blick auf die neue grauenhafte Verwüstung rings umher nach dem Golden Gate Park. Die übrig gebliebenen Milizsoldaten waren schon längst geflohen, und der Feldwebel setzte nun seinen Rächerzug weiter fort.

* * *

Schon gegen drei Uhr nachmittags konnte Klärchen kaum noch ihre Füße regen, so hatte sie das unaufhörliche Hin- und Herlaufen: von den wunderbaren Kochherden unter freiem Himmel zu den Hungrigen und von diesen wieder zurück, ermattet, und noch immer tauchten neue Nahrungssucher auf; oft wollte es der jungen Witwe so erscheinen, als hätte sie dieselben Gesichter schon einmal, ja sogar mehreremal vor sich gesehen, als hätte sie denselben Händen wiederholt Speise und Trank gereicht. Doch in ihrer Betrübnis und bei ihrer Müdigkeit forschte sie dieser Sache nicht weiter nach.

Mit Staunen und Bewunderung mußte sie aber auf die beiden Schwestern blicken, die nicht nur nicht die geringste Abspannung zeigten, sondern mit jedem Gange, jeder Liebesgabe stärker und feuriger zu werden schienen. Mit leuchtenden Augen und leicht geröteten Gesichtern flogen sie unaufhörlich ab und zu, hatten für jeden ein tröstendes Wort und küßten in überquellendem Mitgefühl manches arme, halbnackte Kind. Etwas beschämt gestand sich Klärchen ein, daß ihre eigene Lebenskraft sich auch nicht annähernd mit der dieser herrlichen Mädchen messen konnte. –

Aber ihre Wehmut und Trauer wurde plötzlich wieder aufs tiefste angeregt: Den Gang herauf, sich mühselig durch die Magnoliabüsche hindurchwindend, an zwei Stöcken, kam ein Zwerg daher; ach, Klärchen erkannte ihn nur zu gut, an seinen faltigen, kindlichen Gesicht und dem langen, eisgrauen Haar! Mußte dieser kleine Gelehrte, von dem ihr so elend umgekommener Mann so oft lachend erzählt hatte, auch noch einmal erscheinen? noch einmal ihren namenlosen Jammer auffrischen? O, wie deutlich fiel ihr jetzt wieder jener Abend vor der Katastrophe ein, – wie launig und witzig damals ihr Gatte den kleinen Professor mit seinen unheilvollen Voraussagungen nachgeahmt hatte! – O, hätte doch ihr Eduard, o, hätten sie doch alle die Worte dieses Zwerges mehr beherzigt! – Ihre Tränen flössen unaufhaltsam.

Auch der Naturforscher hatte sie sogleich bemerkt. Aber er zog nur seinen alten Schlapphut und schlich sich scheu – als habe er allein schuld an der ganzen Tragödie – beiseite.

Aber dieser Tag schien so recht den Schmerz und Unglück geweiht zu sein: kaum war der Kleine verschwunden, so erschien Truth in einer Droschke, und an seiner Seite – bleich, blutüberströmt, mit dem Siegel des unerbittlichen Todes auf der Stirn – der Hauptmann Davenport!

Bei seinem Anblick blieb Cäcilie stehen, wie zur Bildsäule erstarrt. Kein Laut rang sich von ihren Lippen, doch aus ihren schönen, geheimnisvollen Augen brach ein Schmerz, der einen Gott hätte erbarmen sollen! Jetzt mehr als je schienen diese Augen sich vor der Außenwelt zu verschließen und tief in ihr eigenes Innere zu schauen, als wollten sie das Rätsel ihres ganzen Lebens nun endlich finden. Ihre jetzt bleichen, bebenden Lippen stammelten endlich: »Ich wußte es: sein heißes Herz hat ihn zugrundegerichtet!«

Aber in diesem Augenblick kehrte Franziska von der Küche zurück, wie immer, beladen mit Lebensmitteln, schön, wie eine gütige Fee. Sobald sie jedoch den blutbefleckten, bewußtlosen Freund erblickte, ließ sie alles fallen und stürzte auf den Wagen zu.

»Mr. Truth? schrie sie nur leidenschaftlich auf, während ihre Augen voll höchster Seelenangst zur Schwester hinüberschweiften.

Der Redakteur schüttelte nur traurig den Kopf.

»Ich war mit ihm in der einzigen, noch übrig gebliebenen Klinik«, sagte er bitter, »aber das Haus ist ja so voll, und das Pack von Ärzten ist so abgebrüht, daß sie sich erst gar nicht mit ihm abgeben wollten. »Er ist eben futsch!« rief mir bloß der Unmensch von Chefarzt zu!«

»Wollen wir ihn nicht vor allen Dingen gut betten?« fragte nun Franziska mit schwimmenden Augen. Aber noch ehe der Journalist antworten konnte, regte sich der Sterbende, er schlug die Augen auf, blickte auf Cäcilie – o, welch ein abgrundlicher Schmerz lag in diesen brechenden Augen! – und er flüsterte: »Mein Engel, nur einen Augenblick!«

»Ja, mein Geliebter!« sagte Cäcilie mit fester Stimme und trat zu ihm.

»Du weißt, meine Heißgeliebte«, sprach der Hauptmann kaum hörbar weiter, »daß ich reich – war! Alles, was ich hinterlasse, ist Dein; gibs den Armen! – Und nun, in dieser letzten großen Stunde, wo mich Gottes Hand schon berührt, gib mir die Seligkeit mit auf den Weg zur Ewigkeit, die Seligkeit, die Du mir im Leben nie gewähren wolltest oder konntest: Willst Du mein Weib werden?«

»Ich will Dein Weib werden!« antwortete Cäcilie klar und fest.

Wer weiß, ob der Hauptmann ihre Worte noch gehört hatte. Mit einem verklärten Lächeln war er entschlafen. Cäcilie aber lag, endlich vom Schmerze übermannt, ohnmächtig in den liebevollen Armen der Schwester.


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