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XV.

Die Nacht war völlig hereingebrochen, als die beiden endlich wieder ihren Wagen bestiegen, doch war es eine jener zaubervollen, leuchtenden und duftenden Nächte, die dem Fremden San Franzisko so besonders wert machen. Die Häuser lagen so ruhig und verschwiegen, die Kirchen so ehrwürdig und weihevoll; von jedem Baume, jedem Strauche schien eine liebliche Flamme gegen den tiefblauen, sternenübersäten Himmel emporzuglühen. Die ganze Luft war wie von einem mächtigen Liebesweben, einer süßen, heißen Brunst erfüllt. Tausende von Feuerfliegen durchschwirrten das schwarzblaue Dunkel, und das erschien wie ein irdischer Sternenhimmel.

Schweigend fuhren die Männer durch Potrero Point und Mt. San Bruno. Jeder schien tief mit seinen Gedanken beschäftigt. Eduard konnte es immer noch nicht recht fassen, daß er fortan in dieser freien, fröhlichen Stadt leben sollte, und er malte sich schon im Geiste aus, wie die hübschen Augen seines Klärchens sich vor Staunen weit öffnen würden, wenn er ihr endlich die Wahrheit sagte.

Woran dachte wohl Mr. Williams? – Niemand hätte es auch nur im entferntesten angeben können. Vielleicht an ein neues kühnes Unternehmen, bei dem es sich um einige Millionen Dollars handelte, vielleicht an irgend eine Liebschaft – denn Eduard hatte am Tage wohl gesehen, daß sein Begleiter von vielen reizenden Damen vertraulich gegrüßt worden war – vielleicht an seine Schwestern, die allerdings an hoheitsvoller Schönheit alle bisher von Eduard gesehenen Frauen bei weitem übertrafen – vielleicht ... es war völlig vergeblich, aus diesem rötlichen Gesicht, diesen guten, liebevollen Augen irgend etwas ablesen zu wollen. –

Die sie umgebenden Bilder wechselten, wurden bunter, je mehr sie wieder in das Innere der Stadt eindrangen. Sie fuhren jetzt an dem in Licht förmlich gebadeten und sehr geräuschvollen Bahnhof der Süd-Pacific-Eisenbahn vorüber und waren bald bei dem himmelstürmenden Call-Gebäude und gleich darauf bei dem ebenso hohen Chronikle-Gebäude angelangt. Und nun waren sie mitten im Tosen und Wogen des Zentrums. Hier schwamm alles in einem weißen, zuckenden Lichtmeere, und der gewaltige Pulsschlag dieser Stadt machte sich dröhnend geltend. Die elektrischen Straßenbahnen und die Automobile schossen schnaubend und grollend nach allen Himmelsrichtungen hin und her und schienen mit herrlichen Galawagen, Mietsdroschken und Omnibussen eine tolle Wettfahrt eingehen zu wollen. Oft schrieen die Kutscher einander wütend an und lachten gleich darauf aus vollem Halse. Aus der bunten Menschenmenge hörte Eduard jetzt verwundert alle Sprachen der Welt: viel spanisch, meist schlechtes, verdorbenes mexikanisch-spanisch, französisch, italienisch, selbstverständlich englisch, dann wieder deutsch, schwedisch, dänisch und endlich das widerliche Geschnatter von chinesisch und japanisch. Wie war es nur möglich – so fragte sich Eduard im stillen – daß alle diese so grundverschiedenen Elemente sich so harmonisch zu einer glücklichen Familie vereinigten? Aber die Antwort hierauf gab ihm sogleich sein eigenes urwüchsiges Wohlbehagen, die tiefe innere Zufriedenheit, die mit jeder Stunde mehr bei ihm einzog und wohl alle diese Leute ganz und gar erfüllen mochte. –

Auf einmal aber entstand mit einer ganz außerordentlichen Schnelligkeit gerade vor dem Wagen ein großer Auflauf, so daß Williams gezwungen war, sein Pferd anzuhalten. Wilde, drohende Stimmen erhoben sich aus diesem Menschenknäuel, und deutlich ließen sich jetzt die Rufe hören: »Hängt ihn! Hängt ihn! An die Laterne mit dem Kerl!«

»Was ist denn los?« fragte Williams, wie immer lächelnd, einen neben dem Wagen stehenden Arbeiter.

»Man hat soeben einen Taschendieb abgefaßt«, antwortete dieser ebenfalls lachend.

»Wird man ihn hängen?«

»Wahrscheinlich: ein Herr kauft schon in jener Handlung einen Strick!«

»Na, wenn's weiter nichts ist!« sagte nun Williams und trieb sachte die Tiere wieder an.

Aber vor Eduard versank wie mit einem Schlage die Gegenwart mit all ihren herrlichen, lockenden Bildern, und er glaubte sich plötzlich um fünfzig Jahre zurückversetzt, zu jener Zeit, wo die wilden Goldsucher, die Ausgestoßenen der ganzen Erde, hier ihre schnelle, barbarische Lynchjustiz bei jeder Gelegenheit ausübten, und was der junge Ingenieur vorhin gar nicht bemerkt hatte, das sah er jetzt klar und deutlich vor sich: in diesem Strom der freudetrunkenen Menge, ein Strom, der ihm bisher so vollkommen harmonisch hinzufließen schien, sah er jetzt so manches bleiche, verhärmte Gesicht, so manche unheimliche Verbrechergestalt, und wie eine merkwürdige Bestätigung seiner Gedanken klang es, als jetzt sein Gefährte mit der Peitsche nach dem Osten hinüberwies und sich schüttelnd ausrief: »Das lassen wir wieder liegen, das ekelhafte Chinesenviertel; hoffentlich war es einer dieser bezopften Strolche, den sie dort kalt gemacht haben!«

Eduards Verwunderung wuchs. Wie war nur eine solche Gemütsroheit, und vor allem: eine solche Niedrigkeit des Ausdrucks möglich, bei diesem Mann, dem Eduard noch vor ganz kurzer Zeit in überströmender Liebe und Achtung am liebsten die Hände geküßt hätte?! Hatten denn diese Kalifornier, diese Bewohner San Franziskos zwei ganz verschiedene Charaktere? Einen zur höchsten Bewunderung hinreißenden und einen jäh abstoßenden? Und nun fiel ihm noch einmal der unerquickliche Auftritt am Schluß des heutigen Mittagsmahles ein, wie sich plötzlich alle die vorher so ruhigen, so gesitteten Männer so verändert gezeigt hatten, und wie er selber dadurch zu dem stummen Ausruf gedrängt worden war: »Die Feinheit dieser Leute ist nur Tünche!«

Aus dem Chaos all dieser Gedanken und stürmenden Gefühle blieb bei Eduard schließlich nur das eine haften: Er kannte diese Stadt nicht – noch nicht!

* * *

Das Abendessen war ebenfalls überreichlich gewesen, aber Eduard und seine Gattin hatten so gut wie gar nichts davon angerührt. Gäste waren diesmal nicht zugegen gewesen. Nach beendigtem Mahle schlug Mr. Williams, der unverwüstliche Genießer, noch den Besuch eines anderen Klubs vor, aber der junge Bergmann fühlte sich durch die Aufregungen dieses ersten Tages sattsam ermüdet und lehnte dankend ab. So ging sein Wirt noch einmal allein aus. Die Schwestern zogen sich auch bald in ihre Gemächer zurück, und so war das Paar schließlich ganz auf sich selbst angewiesen. Sie gingen beide hinauf und trafen vor ihrer Tür Snowball, der sie dienstfertig, kaum hörbar fragte, ob sie für die Nacht noch irgendwelche Wünsche hätten. Als sie verneinten, verschwand er wie ein Schatten.

Die Gatten fanden ihre sämmtlichen Fenster weit geöffnet und die Zimmer von einem süßen Balsamduft durchzogen; das war für sie ungewohnt und zu stark, und Eduard machte sich daran, ein Fenster nach dem anderen zu schließen. Das ging sehr langsam von statten, den teils veranlaßte ihn die unnachahmliche Schönheit da draußen, nur widerwillig von ihr Abschied zu nehmen, teils machten ihn auch die Erinnerungen an diesen alles in allem so denkwürdigen Tag oft wie gebannt stehen bleiben, und Klärchen mußte ihn fortwährend mit der Frage anrufen, was er denn eigentlich habe und treibe; seit ihrem Aufenthalt in dieser Stadt käme er ihr ganz verändert vor!

Der Bergmann lächelte nur still in sich hinein, denn er wußte ja, daß er sein Frauchen mit der Offenbarung seines Geheimnisses schnell ebenso verzaubern konnte; aber er schwieg und starrte nur weiter hinüber nach dem weißen zuckenden Lichtschein, der ihm wie der sichtbare Abglanz des Freudentaumels, des glühenden Liebeslebens, der trunkenen Wonne all jener Tausende von Häusern vor ihm erschien! Noch hörte er das Brausen und Rollen der Straßenbahnen, der Galawagen und andere Gefährte, die die verschiedensten Menschen zu den verschiedensten Freuden und Leiden im Fluge dahintrugen, noch pochte er stark und wild der Pulsschlag dieser Stadt, noch wehte ihr heißer lustbegieriger Atem; aber Eduard fühlte es deutlich, daß er dieser Genußfreudigkeit nicht – noch nicht! – gewachsen sei, daß er dringend eines langen Schlafes bedürfe.

Als er endlich das letzte Fenster schließen wollte, sah er plötzlich hinter einem hohen Magnoliagebüsch eine weibliche Gestalt austauchen, in ein blendendes Weiß gekleidet, ein Weiß, von dem – schlief er, träumte er wirklich schon? – ein berauschender, betäubender Duft, zehnfach stärker als der, der ununterbrochen die Luft San Franziskos füllte, auszugehen schien. Es gab ihm einen Stich ins Herz als er in dieser wie weißglühenden, heißen Erscheinung – Cäcilien erkannte, und sein seelischer Schmerz wurde noch viel tiefer, als er einen Mann, einen großen dunklen Mann bemerkte, der seinen Arm um des Mädchens Nacken geschlungen hatte und dessen Lippen auf ihrem blonden Haar ruhten.

Täuschte sich Eduard oder hatte er die Wahrheit erkannt? War das der Hauptmann Davenport?

Eduard beugte sich weit hinaus, um ganz scharf zu sehen, aber die beiden waren verschwunden und erschienen auch nicht wieder. Dafür bot sich ihm aber ein anderes, noch sonderbareres Bild: in dem Seitenflügel, rechts von ihm, öffnete sich jetzt ganz leise ein Fenster, und in dem dunklen Rahmen erschien, ebenfalls in hellem Nachtgewande, – Franziska! Ihr schönes Gesicht schien seine gewöhnliche, hoheitsvolle Ruhe ganz verloren zu haben: es sah in dem zuckenden Lichtschein des Himmels aufgeregt und leidenschaftlich aus. Einen Augenblick stand sie regungslos; doch plötzlich breitete sie beide Arme aus und streckte sie wie in heißester Sehnsucht in die funkelnde Ferne; wer hätte sagen können, ob dies nur ihrer geliebten Stadt galt oder einem tausendmal beglückten Manne? – –


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