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XXVIII.

Ach, wie trübselig verändert hatte sich dieser schönste aller großen Lustgärten! Wo waren sie hin, alle die Palmen, Rhododendren, Orchideen, die duftenden und funkelnden Rosenbüsche und all die anderen kostbaren Gewächse, Blumen und Pflanzen? Vielleicht waren sie noch da, aber Klärchens Auge konnte nichts davon entdecken, nein, soweit dieses umherschweifte gewahrte es nur Zelte immer wieder Zelte und dazwischen in höchstem Eifer ab- und zutrabende Frauen, edle, menschenfreundliche Frauen, denen die Freude am Wohltun nur so aus den schönen blauen und dunklen Augen blitzte! Ja, sie war herbeigeströmt in hellen Scharen, gleich nach dem entsetzlichen Schlag, die Blüte der Weiblichkeit von Frisko, sofort hatten sie ihre schönen Paläste, Schlösser und Villen verlassen und sich dem Bürgermeister, und als dessen Herrschaft bald in die Hände der Militärbehörde überging, dem General Funston zur Verfügung gestellt. Dieser, gerührt durch so viel Opferwilligkeit, hatte sie höflichst ersucht, die Verteilung der Rationen an die Tausende von Obdachlosen im Parke mit überwachen zu helfen.

Und so waren sie denn erschienen, diese Blumen, diese hülfreichen Engel! Ihre zarten, weißen Hände scheuten sich jetzt vor keiner Verrichtung, die ihnen früher vielleicht im tiefsten Herzen widerlich gewesen wäre, nein, herzhaft, ja mit leidenschaftlicher Lust griffen sie zu, gerade so wie Mr. Williams, dieser sonst so empfindliche Schönheitsapostel, dort unten im qualmenden, übelriechenden Schutt in schmerzlichem Schweiß aber ohne jede Klage hackte und schaufelte, so auch hier diese doch früher so verwöhnten Frauen und Mädchen. Klärchen wandte sich nun an eine der Damen, die – wie sie wohl ahnte – die beiden Schwestern kennen müsse mit der Frage nach diesen, und sogleich wurde sie nach einer Gruppe von Zelten gewiesen, die von denjenigen, die sie selber verwaltete, durch üppiges Magnoliagebüsch getrennt waren.

Dahin eilte nun die Witwe, und sie wurde von den Freundinnen mit leichtem Jubel und zärtlichen Liebkosungen empfangen.

»Kommen Sie mit uns, Klärchen«, – Sie erlauben schon, daß ich Sie so nenne, wie ich Sie auch bitte, uns fortan nur mit den Vornamen anzureden« – sagte Franziska, »es ist bald Mittagszeit, Sie werden ein unvergeßliches Schauspiel erleben!«

Sie gingen nun alle drei nach einem größeren Platz, wo eine Anzahl Damen auf Kochherden und Öfen aller Art das Essen bereiteten. Und nun erst erblickte Klärchen nicht weit von diesem Platz einen schier endlosen Zug von Menschen, Männern und Frauen, Greisen und Kindern, Leuten, die früher gewiß den verschiedensten Lebensberufen angehört und einen strengen sozialen Unterschied in der gesellschaftlichen Stellung beobachtet hatten, – nun aber durch die alles ausgleichende Hand des Schicksals zu einem einförmigen Haufen von Hungrigen geworden war. Zu ihrem großen Erstaunen bemerkte Klärchen, daß alle, die so jäh niedergeschmetterten gar keine Verzweiflung, sondern im Gegenteil denselben urwüchsigen Humor, den sie früher so oft bewundert hatte, jetzt eher noch erhöht zeigten. Die junge Witwe war eben keine Menschenkennerin und hatte, außer ihrem eigenen schweren Verlust, noch wenige Lebenserfahrung; sie wußte daher nicht, daß ein großes allgemeines Unglück eine Art Rausch erzeugt, und daß in diesem, wie in jedem anderen Rausche, die Menschen meist lustig und ausgelassen sind. Dann bemächtigt sich auch jedes Menschen, der solch einer furchtbaren Katastrophe heil entronnen ist, angesichts der Tatsache, daß Tausende seiner Brüder und Schwestern nicht so glücklich waren, ein wahrhaft jauchzender Übermut, ein tierisches Wohlbehagen, zu dem sich noch der Galgenhumor aller Besitz- und Hülflosen gesellt. –

Aber die Arbeit der Damen begann. Klärchen folgte dem Beispiel der Schwestern und ergriff wacker Töpfe mit Suppe, Laibe Brot, Krüge voll Milch und Wasser – dieses jetzt so kostbare Naß wurde allerdings äußerst spärlich und meist nur an Kranke verabreicht – und mit diesen Lebensmitteln eilten die drei zu den sehnsüchtig Harrenden, um deren rostige Blechgefäße, zerbrochene Tasten, angerauchte Teller und was dergleichen seltsamer, aus dem glühenden Verderben mühselig geretteter Kram mehr war, liebevoll und gewissenhaft zu füllen.

Und über dem Zentrum der Stadt lag noch immer der kupferfarbene Himmel, die Widerspiegelung des Flammenmeeres, das seine turmhohen, roten Wogen nach wie vor gegen die Wolken sandte; noch immer donnerten die schweren Kanonen und Dynamitbomben und weiter knatterte das Gewehrfeuer – warum nur, weshalb, auf wen schoß man? fragte sich Klärchen vergeblich. Und plötzlich stand es wieder vor ihr das Bild, wie der blutjunge Offizier mit seinen bewaffneten Soldaten die berauschten Bürger mit dem Tode bedroht hatte, und unwillkürlich stellte sie sich vor, daß jetzt in demselben Augenblick, arme Verschmachtende unter den mörderischen Kugeln der Soldaten ihr Leben aushauchten, und dabei fiel ihr ein, daß hier wohl unter dem Deckmantel von Zucht und Ordnung, unter dem Schein von Recht und Gerechtigkeit hundertfach kleinliche Rachegelüste befriedigt, manche frühere Drohung, die damals noch ohnmächtig war, jetzt wahr gemacht wurden. Und von neuem schüttelte sie sich vor Furcht und Grauen.

Vielleicht hatte das liebe Kind recht mit ihrer Annahme. Ohne allen Zweifel wurde auch hier, wie immer bei den schlimmsten Unglücksfällen, die verliehene oder angemaßte Macht schnöde gemißbraucht. Gewiß wurden nach diesem beispiellosen Erdbeben Hunderte, vielleicht Tausende von Menschen in San Franzisko hingeschlachtet, aber was Klärchen nicht wußte und als reine keusche Frau nicht wissen konnte, das war die Tatsache, daß die Tragödie bei einer Unzahl der Übriggebliebenen eine wahre »Holsderteufel-Stimmung« wachgerufen hatte, jene wilde Zügellosigkeit, die dem Menschen zuruft: »Genieße den Augenblick! Sei nicht blöde! Greife zu! Wer weiß, ob dich nicht die nächste Stunde auch schon unter Trümmern begräbt!« Nur so wäre es zu erklären, daß trotz der nunmehr allgemein bekannten blutigen Drohung, die Männer doch heimlich versuchten sich geistige Getränke zu verschaffen, und daß sich die Mädchen mit wütender Leidenschaft den Männern fast wahllos an den Hals warfen!

Und das durfte die Obrigkeit nicht geschehen lassen. Die Welt sollte nicht sagen, daß Frisko, ähnlich wie Sodom und Gomorrha, nur von Gottes gerechtem Strafgerichte für seine verruchte Lust getroffen worden sei, nein, dann lieber Blut und Tod statt der Befriedigung der niedrigsten Begierden, und so schützten denn die augenblicklichen Machthaber Zucht und Sitte mit rauhester Hand. Ob gerecht oder ungerecht, darüber wird einst die Weltgeschichte mit ihrem Weltgericht das Urteil sprechen! –

»Wo kommen denn nur all' die Vorräte her?« fragte Klärchen verwundert, als sie sah, wie sich ein Riesenkorb, ein mächtiges Faß nach dem andern leerte.

»Die liefert uns der General«, erwiderte Cäcilie, deren wunderbare Augen umflort waren und fortwährend besorgt in die Ferne blickten, wo immer von neuem Gewehrschüsse knallten.

Klärchen sah es, und jetzt dachte sie daran, was ihr der Redakteur Truth vom Hauptmann Davenport und den Milizsoldaten erzählt hatte, und nun wußte sie plötzlich, daß bange, sorgenvolle Gedanken die schöne, liebende Seele des Mädchens durchzogen. Aber auch, was ihr der Journalist von dem religiösen Bekenntnis der Schwestern gesagt hatte, und schon öffnete sie die Lippen, um zu fragen, aber ein Blick auf die hohen, vornehmen Frauengestalten, die jetzt so freudig die Armen speisten und tränkten, ließ sie verstummen: die Frage war nicht angebracht jetzt bei diesem Werke, in dieser Umgebung nicht!

Plötzlich – wie merkwürdig! – tauchte Truth selbst, wie er es übrigens am Morgen vorausgesagt hatte, vor den Damen auf und flüsterte Cäcilien sogleich zu: »Es ist mir gelungen! Er wird vielleicht schon in diesem Augenblicke abgelöst. Funston wollte zwar zuerst nichts davon wissen und meinte, ein Soldat gehöre ins Treffen und dürfe nicht künstlich geschützt werden; als ich ihm aber von Ihnen sprach ...«

»Ich bitte Sie, Mr. Truth«, unterbrach ihn die Holde leise; man sah, wie in ihr Liebe und Stolz rangen.

»Sie haben recht,« erwiderte der Redakteur, »ich hätte Ihnen nichts davon sagen sollen! Nun,« fuhr er lauter fort, »ich gehe jetzt dort hinunter, und finde ich ihn, so komme ich mit ihm zurück, ebenso, wie mit Ihrem Bruder, der sich wahrhaftig nun auch einmal wieder ein bißchen Ruhe gönnen sollte! Übrigens, – ganz im Vertrauen gesagt,« – hier beugte er sich von neuem ganz dicht zu den Schwestern hin – »es war dort oben beim General eine recht ansehnliche Versammlung von Herren; ich habe hier ein Wort aufgefangen, da einen Ausruf, und aus allem mir soviel zusammengesetzt: Ihr Bruder wird unser nächster Bürgermeister!«

Und ohne noch das freudige Staunen der Mädchen abzuwarten, trabte er davon.


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