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XXV.

Klärchen saß leichenblaß und starren tränenlosen Auges an dem Schmerzenslager ihres Gatten. Soeben war der Arzt dagewesen, hatte den Schwerverletzten untersucht und dann den Kopf geschüttelt.

»Fast sämtliche Knochen der Beine sind zermalmt!« hatte er sich geäußert, »unter normalen Umständen wäre er vielleicht zu retten, aber wo sollen wir ihn denn jetzt hinschaffen? Ganz San Franzisko steht ja in Flammen – sehen Sie doch nur!«

Und mit der ganzen empörenden Gleichgültigkeit eines Arztes, den ein »Aufgegebener« nicht weiter mehr interessiert, hatte er durch das offene Fenster nach dem Süden gewiesen, wo allerdings eine furchtbare Feuersbrunst zu toben schien, und sich dann wieder dem Hoffnungslosen mit den Worten zugewandt: »Alles, was ich für ihn tun kann, ist, ihm Beschwichtigungsmittel zu geben, bis ... na, bis eben die Auflösung kommt!«

»Und Mr. Williams!« fragte Klärchen tonlos.

»Ach, der wird bald wieder obenauf sein; bloß eine starke Kopfwunde, ein bißchen Hirnerschütterung, das ist nichts, adieu!«

Er ging und ließ die Ärmste allein, allein mit ihrer unaussprechlichen Trauer, ihrem trostlosen Elend, denn woher sollte ihr Trost kommen in dieser entsetzlichen, eigenen Lage und der grauenvollen, allgemeinen Verheerung da draußen, deren blutroter Schein so grausam auf die erstarrten Züge ihres sterbenden Mannes fiel?

Ach, welch furchtbares Geschick hatte sie doch nach dieser Stadt gebracht! Warum mußte ihr Gatte seinen zuerst gefaßten Entschluß, nur drei Tage in diesem modernen Gomorrha zu bleiben, so schnell aufgeben! Und warum mußte er gerade diese Nacht, diese eine Nacht, fern von ihr, von ihrem zärtlichen Schutze weilen, sich da unten herumtreiben unter Nachtgesindel, zusammenstürzenden Häusern und Flammen! Warum mußte ihn Mr. Williams, dieser sonst so einsichtsvolle, gute Mensch, grade diese Nacht von dem sicheren Hause wegnehmen, seinem Verderben zuführen! Warum?

So rang diese arme Frauenseele, unverständig, sinnlos in dem Übermaß ihres Schmerzes, während von der Straße her unausgesetzt eine Schreckenskunde nach der andern zu ihr drang, Verluste von Hunderten, von Tausenden, Zehntausenden – denn bei solchen Katastrophen ist alles übertrieben – von Menschenleben gemeldet wurden, wildes Brüllen erklang, aus dem das liebe Kind nur heraushörte, daß all die schönen, hohen Häuser, Theater, Museen und andere, die noch vor wenigen Tagen ihren unglücklichen Mann in solch wonniges Entzücken versetzt hatten, in Trümmern lagen!

O, was konnte ihr noch die Zukunft bieten? War ihr Gatte, dieser im Grunde doch so biedere, vortreffliche Mann, erst einmal dahin, dann konnte sie auch ihr nahen, die schwarze, ewige Todesnacht! – Dieser Gedanke löste endlich wohltätig ihren grimmigen, starren Schmerz: ein heißer Tränenstrom entrang sich nun unaufhaltsam ihren schmerzenden Augen, und so bemerkte sie auch gar nicht, daß Franziska und Cäcilie eingetreten waren, doch, als sie die so schwer leidende Frau in diesem erlösenden Zustande erblickten, sich still wieder zurückgezogen hatten.

Um den Jammer der so schwer getroffenen Frau noch zu vermehren, fing der Sterbende plötzlich an zu phantasieren.

»Doppelgrübchen! – Schlafengelchen! – Faulpelzchen!« lallte seine matte Stimme. Das was grauenvoll! Das war nicht zu ertragen! Das überstieg alle menschlichen Kräfte! Und wahnsinnig vor Schmerz sank Klärchen auf den Fußboden, – die Sinne schwanden ihr, – eine Ohnmacht hatte sich ihrer mitleidig bemächtigt!

Und nun träumte sie einen süßen, goldnen Traum: sie war wieder auf ihrer Hochzeitsreise, wieder auf dem schönen, blauen Meere, über dem ihr der Himmel, grade ihr, der Neuvermählten, der mit neuen, jungen Hoffnungen so reich Ausgestatteten, verheißungsvoll zulächelte; ihr Mann hatte ihre Hand ergriffen, sie geküßt, und nun rief er schmeichelnd von neuem: »Kleines, liebes Murmeltier! – Schlafelfchen! – Doppelgrübchen! –«

Jäh erwachte sie. Eine starke Hand hatte sie erfaßt, emporgehoben und sanft in den Sessel gleiten lassen. Verstört schrak sie einen Augenblick wieder in die Höhe und blickte in das braune, jetzt aber fahle Gesicht des Hauptmanns Davenport, der zusammen mit seinem Freunde Williams, dem Professor Swing und noch einem dritten, fremden Herrn eingetreten war. Dieser Fremde löste sich jetzt sofort von der Gruppe los, trat auf Eduard zu, und während er aus einer großen Tasche allerhand schauerliche Instrumente, sowie reichlich Verbandzeug hervorholte, rief er Klärchen leise zu: »Verzweifeln Sie nicht, gute Frau, noch nicht: vielleicht gibt es noch Hoffnung! Es war gut von unserm lieben Williams, der ja selber noch der ärztlichen Hilfe bedarf, mich sogleich zu holen. Ich werde mir die erdenklichste Mühe geben!«

Und er machte sich emsig mit dem Verwundeten zu schaffen.

Jetzt erst sah Klärchen, daß Mr. Williams eine breite, schwarze Binde über der Stirn und dem einen Auge trug, und daß sein sonst so rotes Gesicht sehr blaß war; aber der Ausdruck der Großherzigkeit war seinen lieben Zügen nach wie vor geblieben.

Er ergriff die Hand der jungen Frau, führte die Hand an seine Lippen und sagte nur: Vergeben Sie mir!«

Diese Worte machten Klärchen aufs neue zum Herzbrechen weinen, und sie konnte nur mühsam stammeln: »Es war wohl Gottes Hand; ich darf Ihnen nicht zürnen!«

»O, wehe unsrer armen Stadt!« ließ sich jetzt der Prediger vernehmen, »sie ist so gut wie völlig vernichtet; wenigstens das, was sie als Stadt typisch und charakteristisch auszeichnete, ist dahin – hoffentlich nicht auf immer!«

»Nein, bei Gott nicht!« riefen Williams und Davenport wie aus einem Munde, »sie soll neu erstehen, doppelt schön, dreifach herrlich! falls uns das furchtbare Schicksal nicht auch erfaßt!«

Der unverwüstliche kalifornische Lebensmut machte sich bei den beiden trotz der traurigsten Umstände schon wieder geltend.

»Nun, Doktor?« wandte sich jetzt Williams leise an den Arzt.

Aber dieser legte nur einen Finger an seine Lippen, wies auf Klärchen, die wieder bewußtlos zu sein schien, und schüttelte den Kopf.

Der Hausherr ließ das Haupt langsam auf die Brust sinken, wie im Gefühle einer tiefen, nicht zu sühnenden Schuld; aber der Soldat, in dessen rauhem Auge eine Träne glitzerte, trat ganz dicht an den Arzt hinan und fragte flüsternd: »Aus? Für immer?«

Und als der andere nur hoffnungslos nickte, sagte er wieder ebenso leise: »So töten Sie ihn sogleich! Seien Sie mitleidig! Brechen Sie, als freier, edler Mann, mit der alten, hartherzigen Tradition!«

Und während sich nun der Arzt, ohne ein Wort zu erwidern, mit einem kleinen Fläschchen in der Hand langsam über den Röchelnden beugte, faltete der Hauptmann und Williams die Hände zum Gebet. –

Eine Minute später rang sich der letzte Seufzer von Eduards Lippe; der Gute gehörte nun dem Schattenreiche an.


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