Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Siebenunddreißigster Abschnitt

Veränderte Reise. Unvermutete Vorfälle mancherlei Art

Anselm ward von seinem großmütigen Freunde Philipp mit Wäsche, Kleidern und Gelde versehen unter der einzigen Bedingung, die er schon seinem Bruder gemacht hatte, daß er ihm nicht danken sollte. Alle Bedingungen würde Anselm erfüllt haben, nur diese nicht; denn sein Herz dankte ihm, und der Dank strömte in seine gerührten Augen über, wenngleich der Mund schwieg.

Sie standen eben im Begriffe, nach Elberfeld abzureisen. Da bekam Philipp einen Brief von Köln, worin ihm Frau Sophie meldete, daß ihr Mann gestorben sei. Er hatte sich in der letzten Zeit sehr dem Trunke ergeben, wobei der Advokat Hiffer, der seit einiger Zeit seine Freundschaft noch mehr gesucht hatte, sein treuer Kamerad gewesen war; sein Tod war plötzlich erfolgt. Die gute Frau sah sich also von einem großen Übel erlöset, aber es schien, als ob das Schicksal sie zu noch fast größern Übeln aufbehalten hätte, wie wir gleich weiter vernehmen werden.

Anselm und Philipp hielten sich nur noch in der gräflichen Residenz auf, um sich in Trauer zu setzen; und es ward beschlossen, anstatt nach Elberfeld lieber gleich nach Köln zu reisen. Anselm, obgleich jetzt sehr bescheiden, konnte doch nicht umhin, insgeheim Hoffnungen zu schöpfen. Jetzt war es wenigstens möglich, zu Sophiens Besitze zu gelangen und den höchsten Gipfel seines Glücks zu ersteigen, weil er sie innig liebte. Aber konnte er sie auch noch glücklich machen? War er noch ihrer würdig? Sollte sie ihn wohl wählen, ihn, dessen öftere Vergehungen ihr nicht verborgen geblieben waren? – Diese Fragen beunruhigten ihn. Er sah alle Fehltritte seines törichten Lebens so sehr in ihrer wahren Gestalt, daß er selbst glaubte, sie könne diesen Schritt nicht tun. Und gesetzt, es sei möglich, daß er dennoch der Ihrige würde, wie wenn er denn wieder eine Torheit oder Unbedachtsamkeit beginge, die sein ganzes häusliches Glück umstürzte? Alsdann würde er auch das Glück dieser edlen Frau umstürzen! Er erlag unter dem Gedanken, daß dies geschehen könne; und gleichwohl sah er ein, es würde dazu nichts mehr als eine einzige von den Unbedachtsamkeiten gehören, deren er schon so manche begangen hatte.

Philipp, der einen Teil seiner Gedanken erriet, tröstete ihn wegen der Gesinnungen Sophiens gegen ihn durch die Versicherung, sie würden gewiß unveränderlich sein. In Absicht der eigenen Gesinnungen unsers dicken Mannes aber las ihm Philipp zum ersten Male eine recht derbe Sittenlehre. Anselm stimmte so sehr mit ein, beschuldigte sich selbst so sehr, verzweifelte selbst so sehr an seiner Festigkeit in guten Entschlüssen, daß Philipp ihn nun wieder aufzurichten suchte. »Du wirst«, fügte Philipp hinzu, »nicht wieder eine Torheit begehen, die dich unglücklich macht. Dafür bürgen mir teils dein ausgestandenes Elend, das dich vorsichtiger machen wird, noch mehr aber deine Liebe zu Sophien. Der Mensch, der einzeln steht und nur auf sich selbst siehet, kann leichtsinnig sein und Torheiten begehen; denn er nimmt allenfalls über sich, die Folgen zu ertragen, wenn er sie gleich nicht vorher bedenkt. Aber einem andern die Folgen seiner Torheiten aufzubürden, widersteht jedem, der nicht ganz verworfen ist. Daher hat die Vorsicht verordnet, daß sich Mann und Weib lieben sollen, damit sie beide weiser und dadurch glücklicher werden.«

Sie kamen in Köln an. Sophie empfing sie viel ernsthafter, als sie gedacht hatten. Die schöne Witwe errötete, als Anselm unvermerkt in ihr Zimmer trat. Sie umarmte ihn zwar, nach einem augenblicklichen Bedenken, als ihren nächsten Verwandten; aber es war etwas Feierliches und sehr Zurückhaltendes in ihrem Wesen. Die kurze Zeit, die erst seit dem Tode ihres Mannes verstrichen war, der Wohlstand, die Pflichten gegen ihre Kinder, die Ungewißheit und die Wichtigkeit der Schritte, welche sie würde tun müssen und die sie zum Teil dunkel atmete, alles mochte dies wohl hervorbringen. Anselm aber legte es anders aus, und die Hoffnung, die er unter Weges geschöpft hatte, verlor sich beinahe ganz; selbst Philipp ward wegen ihrer Gesinnungen etwas irre.

Es fanden sich, wie es bei Sterbefällen geht, mancherlei Dinge im Hause anzuordnen und in Richtigkeit zu bringen, zumal da die Kinder noch minderjährig waren. Am Tage nach Anselms und Philipps Ankunft empfing Frau Sophie aus Limnich an der Roer die gerichtlich vidimierte Abschrift des Testaments, welches ihr Mann im ersten Jahre ihrer Verheiratung daselbst bei den Gerichten niedergelegt hatte. In demselben war sie zur einzigen Erbin seines ganzen Vermögens eingesetzt und ihren Kindern bloß das Pflichtteil vermacht. Sie sollte auch einzige Vormünderin' der Kinder sein, in allem Herr von dem ganzen Vermögen und dessen Anwendung bleiben; allen gerichtlichen Formalitäten war in diesem Testamente möglichst vorgebaut, und niemand sollte von ihr Rechenschaft fordern dürfen. Frau Sophie sah in diesem Testamente nur die wichtigen Pflichten, die es ihr in Ansehung ihrer Kinder auferlegte. Sie zog ihren Freund Philipp zu Rate, wie eins und das andere am besten möchte einzurichten sein. Bei den Beratschlagungen darüber war nichts von einer Zuneigung gegen Anselm zu merken, sondern bloß die Sorge für ihre Kinder. Sie war noch immer ungewöhnlich zurückhaltend und äußerte, das Herz sei ihr schwer vor Ahnung irgendeiner unglücklichen Begebenheit. Philipp, der dem Wohlstande und der mütterlichen Vorsorge für ihre Kinder alle Gerechtigkeit widerfahren ließ, gab doch auch die Aussicht für Anselm noch nicht ganz auf. Anselm selbst aber verlor allgemach die Hoffnung; denn Frau Sophie war gegen ihn ungewöhnlich zurückhaltend und in sehr trüber Stimmung. Sie hatte auf Philipps Rat einen Rechtsgelehrten in Köln zum Beistande genommen. An dem Tage, da dies bekannt ward, bekam sie einen Besuch von dem Doktor Hiffer. Dieser sagte zu ihr: Er höre mit einiger Befremdung, daß sie sich einen rechtlichen Beistand erlesen und durch denselben dem Waisengerichte ein Testament habe übergeben lassen, welches ihr verstorbener Mann angeblich vor mehrern Jahren in Limnich solle gemacht habe. Er wolle nicht untersuchen, ob es mit diesem Testamente seine Richtigkeit habe. Genug, es sei ungültig; denn ihr sel. Mann habe vor wenigen Monaten in einem zwei Meilen entlegenen Städtchen ein Testament gerichtlich niedergelegt, worin alle vorigen Verordnungen dieser Art widerrufen wären. Dies wisse er um soviel gewisser, weil ihr sel. Herr zur Besorgung der Wohlfahrt seiner Kinder in diesem letzten Willen ihn zum einzigen Vormunde ernennet und dies ihm mündlich selbst gesagt habe. Nichts glich dem Schrecken, der schon so betrübten Witwe bei diesem ganz unvermuteten Vorfalle. »Ach!« rief sie aus, »Meine bangen Ahnungen fangen an einzutreffen!« Auch Anselm und Philipp waren nicht wenig bestürzt. Es blieb indes nichts übrig, als sich an dem angezeigten Orte nach dem zweiten Testamente zu erkundigen. Es lag wirklich dort. Zu Eröffnung desselben ward ein kurzer Termin angesetzt. Der Inhalt erfüllte alle Anwesenden, außer Hiffer, mit Erstaunen. Nicht nur widerrief der Verstorbene in diesem gerichtlich niedergelegten Testament alle vorigen Willensverordnungen, die er könnte gemacht haben, und namentlich das zu Limnich niedergelegte Testament, welches er für ungültig erklärte; nicht nur setzte er den Prokurator Hiffer, den er seinen treuen und bewährten Freund nannte, zum einzigen Vormunde über seine Kinder ein, der ohne jemand Rechenschaft abzulegen, für derselben Wohl nach seiner besten Einsicht sorgen solle. Der Verstorbene machte auch in diesem Testamente seiner Frau Vorwürfe wegen ihrer, wie ers nannte, ungebührlichen Zuneigung zu ihrem Vetter Anselm, welcher, wie er sagte, schon manches Mißvergnügen zwischen ihnen zu erregen versucht habe. Aus Vorsicht, daß diese Neigung seiner Frau nicht seinen Kindern schaden möge, ließ er ihr den bloßen Nießbrauch seines Vermögens bis zur Volljährigkeit der Kinder, welche alsdann jedes seinen Teil der Hälfte erben sollten, doch auch jenes nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß seine Witwe seinen treuen Freund Hiffer heirate, dem der größte Teil ihrer Hälfte erblich zufallen solle, im Falle sie vor ihm stürbe, das Übrige aber den Kindern. Wollte sie hingegen, sagte der Erblasser, nach ihrer ihm schon bisher gezeigten verkehrten Neigung diese Heirat in Jahresfrist nicht eingehen: so solle sie mehr nicht als hundert Gulden erben, die Kinder sollten bloß das Pflichtteil haben und Hiffer sollte sogleich Erbe des ganzen Vermögens sein.

Ob die rechtschaffene Frau Sophie nach Vorlesung dieses Testaments mehr erschrocken oder mehr indigniert gewesen, möchte schwer können entschieden werden; und wir wollen daher keinem unserer Leser und Leserinnen in ihrer Meinung hierüber vorgreifen.


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