Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Vierunddreißigster Abschnitt

Verschiedene Versuche, Lebensunterhalt zu finden. Verzweiflung und ein kleiner glücklicher Zufall

Ganz betäubt schlenderte Anselm zum Ratinger Tore hinaus, ging wohl eine Stunde fort, ohne sich zu besinnen, und so kam er unvermerkt bis unter das Dunkel der dicht verwachsenen Bäume vor dem Eingange des Specker Mönchsklosters à la Trappe. Plötzlich ergriff ihn der Gedanke, der Welt, worin er gar keine Freunde mehr hoffen zu können vermeinte, zu entsagen und sich im Kloster à la Trappe zu vergraben. Gerade die Strenge dieses Ordens bemächtigte sich seiner Einbildungskraft. Er glaubte, dadurch für alle Torheiten seines Lebens zu büßen, besonders für die, wodurch er Sophien unglücklich gemacht hatte. Aber er war ja nicht katholisch? Was denn! Ihm war in seiner jetzigen Betäubung alles, gleich. Er hatte die katholischen Gebräuche ziemlich kennen gelernt und beschloß, für einen Katholiken zu passieren, um nur der Welt zu entfliehen, von der er sich ganz verlassen glaubte. Er zog die Glocke an der Klosterpforte, begrüßte den öffnenden Pförtner mit einem Memento mori! und verlangte, den Abt zu sprechen, weil er ins Noviziat des Klosters treten wolle.

Ein Abt, zumal ein Abt à la Trappe, ist der demütigste unter den demütigen Gliedern seines Konvents, so wie der Papst der Knecht der Knechte ist; dennoch ist jeder Abt viel zu erhaben, als daß ihn ein unbedeutender Ankömmling sogleich sprechen könnte. Vollends aber ein Abt à la Trappe ist ein sehr großer Mann. Er behauptete, er sei auf Erden ganz unabhängig und dürfe von seiner Klosterverwaltung niemand als Gott unmittelbar Rechenschaft geben, so wie der Rat von Nürnberg von seiner Finanzverwaltung nur dem Kaiser persönlich. Da er nun vermöge der Abtötungen und Kasteiungen seines Klosters mit dem lieben Gotte sehr gut steht, so wird dieser schon von seinem Freunde, dem Abte, nicht etwa eine Rechenschaft fordern, wie der Kaiser doch zuweilen von den Herren von Nürnberg. Also ist ein Abt à la Trappe ein Gott auf Erden und zeigt folglich sein Antlitz nicht jedem, der an die Klosterpforte klingelt. Anselm ward an den Subprior gewiesen, den Mann, der für das ganze stillschweigende Konvent mit den Fremden zu schwatzen hat. Dieser hohläugige, abgezehrte, blasse Mönch, von allen Sünden verlassen, außer von mildem geistlichen Stolze, hörte sein Begehren an und gab ganz kalt zur Antwort: »Freund, du bist viel zu dick für unser Kloster! Wie könnte ein so wohlbeleibter Sünder sein Fleisch bis dahin kasteien, daß er bis zur Magerkeit eines heiligen Mönchs à la Trappe abfiele? Zudem bist du Weltmensch ein Doktor der Arznei. Wer zu unserer hohen Vollkommenheit gelangen will, muß ungelehrt sein. Unser heiliger Reformator hat uns verboten zu studieren; denn – die selige Unwissenheit ist die Mutter des Gehorsams. Geh, du bist gelehrt und dick und also nicht für uns! Geh in Frieden! Dein bloßes Anschauen würde unsern Brüdern ein Ärgernis geben, daß sie lange Zeit nicht wieder zu der seligen Unempfindlichkeit gelangen würden, die unserer heiligen Regel gemäß ist. Memento mori!« Und damit ließ er ihn ganz sanft zum Kloster hinausschieben.

Anselm, der schon in seiner Einbildungskraft die ruhige Untätigkeit des Klosters genoß, ward durch die abschlägige Antwort insofern zur Empfindung seiner wirklichen Existenz zurückgebracht, daß er überlegte, welchen Weg er zu nehmen habe. Nach Düsseldorf durfte er nicht, nach Elberfeld wollte er nicht; er suchte also einen dritten Weg. Auf Nachfrage erfuhr er, daß er auf der Landstraße nach Lennep sei. Es war ihm genug, daß diese Straße von Elberfeld abführte, um derselben zu folgen; denn seiner Eitelkeit war der Gedanke unerträglich, seine Torheit dort wissen zu lassen; und ob sein treuer Freund Philipp in Kummer sein würde, wenn er seine traurige Geschichte erführe, ohne weiter Nachricht von ihm zu empfangen, daran dachte sein Egoismus nicht.

Nachdem er die Nacht in einer Dorfschenke zugebracht hatte, kam er den folgenden Morgen in einem Wirtshause in der Vorstadt von Lennep an. Da fand er einen preußischen Werbeoffizier, welcher dort mit einigen Rekruten übernachtet hatte, die er von Köln nach Hamm transportierte. Schnell fiel unserm Anselm ein, in seiner äußersten Not zum Soldatenstande Zuflucht zu nehmen: er gab sich zum Rekruten an. Der Offizier maß ihn von oben bis unten und erklärte darauf, er sei zum Soldaten zu klein und selbst zum Trommelschläger nicht groß genug. Dieser Offizier war übrigens ein freundlicher und, bloß den Punkt von Rekruten ausgenommen, mitleidiger Mann. Er ließ, zur Vergütung der abschlägigen Antwort, unsern dicken und zu kleinen Mann mit sich frühstücken und einen Teil seiner Geschichte erzählen. Da er fand, Anselm wäre nicht ohne Geschicklichkeit, schrieb er, ehe er mit seinen Rekruten abmarschierte, ein Billett an einen jungen Edelmann, den er vorigen Abend in dem besten Wirtshause zu Lennep hatte kennen lernen. Dieser junge Mensch war eben mündig geworden und wollte sein Haus auf einen großen Fuß einrichten. Der Offizier meinte, Anselm würde bei ihm füglich die doppelte Person eines Kammerdieners und Leibchirurgus vorstellen können.

Anselm nahm die Empfehlung dankbar an und ging in die Stadt, das Billett abzugeben. Er mußte bis um elf Uhr warten, ehe der unmündige Mündige aufstand, und bis um halb ein Uhr, ehe er vorgelassen ward. Der junge Herr las das Billett, maß Anselmen der Länge und Breite nach und sagte: »Ich weiß nicht, wohin der Herr Lieutenant mit seiner Empfehlung gedacht hat. Mein Freund! er ist viel zu klein und ganz unförmlich dick. Wer kann solche Leute um sich leiden?« Damit kehrte er sich um und ließ ihn stehen.

»Mein Gott!« dachte Anselm bei sich, indem er die Treppe hinabging, »hier ist mir ja meine Statur in allem hinderlich! Wie muß man denn beschaffen sein, um hier zu Lande fortzukommen?« Indem ging er vor der Küche des Edelmanns vorbei, wo ihm der Geruch vieler köstlich zubereiteter Speisen in die Nase zog; er ward doppelt hungrig, hatte aber seinen letzten Stüber fürs Nachtlager ausgegeben.

Traurig wanderte er einige Straßen auf und ab, ohne zu wissen, was er beginnen sollte. Es fehlte ihm an Geld auch nur zum frugalsten Mittagsessen oder zum schlechtesten Nachtlager. Er sah die Menschen vor sich vorbeigehen, als wären es tote Bilder, welche ihn nichts und welche er nichts anginge. Der Anblick eines ihm begegnenden Juden erinnerte ihn, daß er von seiner wenigen Wäsche ein Hemd verkaufen könne, um doch für ein paar Tage sich Kost und Nachtlager zu sichern. Er redete den Juden deshalb an. Dieser nahm ihn mit sich nach Hause und kaufte das Hemd nicht. Er ließ sich erzählen, wodurch Anselm so herunter gekommen sei. Er tröstete ihn mit der Versicherung, bei so mancher Geschicklichkeit werde gewiß für ihn sich etwas finden. Obgleich der Jude selbst arm war, gab er ihm doch in seiner Hütte eine Schlafstelle und teilte seinen kärglichen Bissen Brot mit ihm. »Gottlob!« sagte Anselm, »das ist ein Mensch, der menschliche Empfindungen hat«, und prüfte sich selbst innerlich, ob er zur Zeit seines Wohlstandes nur verhältnismäßig halb so viel für das Bedürfnis seiner Mitmenschen getan hätte.

Anselm blieb einige Tage bei dem Juden, der sich in der Stadt zu erkundigen anfing, ob nicht irgendeine Stelle für seinen Hausgenossen gefunden werden könne. Unvermutet aber ging Anselms Hoffnung auf den ehrlichen Mann ganz zugrunde; der Jude ward an einem Morgen sehr früh nebst seiner Frau von den Stadtknechten aufgegriffen und ins Gefängnis geworfen. Er hatte sich unterstanden, für andere Juden Schuhe zu machen, und, obgleich gewarnt, es doch nicht unterlassen; sogar hatte kürzlich seine Frau für eine andere Jüdin ein Kleid zugeschnitten und genähet. Es war in der Tat ein scheußliches Verbrechen! Denn, wie könnte einem Beschnittenen erlaubt sein, einen Schuhpfriemen zu brauchen, oder der Frau eines Beschnittenen, Kleider zuzuschneiden? Der Staat müßte ja untergehen und vermutlich auch die Religion, wenn man solchem Frevel nicht steuren wollte! Wie ist es nicht der Republik Polen gegangen, wo von jeher den Juden diese und alle anderen Handwerke erlaubt waren! Um nun alles Übel von dem guten Herzogtume Berg abzuwenden, hatte die löbliche Schuhmacher- und Schneiderzunft zu Lennep darauf angetragen, den Juden seines Schutzes verlustig zu erklären und ihn über die Grenze zu bringen. Es war fast wahrscheinlich, daß eine so billige Bitte würde gewähret werden. Wenigstens versiegelte man die Wohnung des Juden, um nachher gerichtlich zu untersuchen, was an unerlaubtem Handwerkszeuge und hinterlistig verfertigten Schuhen zu finden sein möchte. Hierdurch verlor nun der arme Anselm seine Schlafstelle. Er dachte unökonomisch genug, an einen andern Juden drei Hemden zu verkaufen und den größten Teil des daraus gelöseten Geldes seinem Wohltäter ins Gefängnis zu bringen; worauf er noch denselben Vormittag Lennep verließ.

Er war über eine Meile in tiefen Gedanken fortgegangen und sann eben bei sich nach, wie es in der Welt so wunderlich zugeht, daß einige Menschen nicht fortkommen können, weil sie allzu klein oder allzu dick sind, und andere, weil sie Schuhe machen wollen. Da holte er einen schwerbeladenen Wagen ein. Derselbe gehörte einer Truppe wandernder Komödianten, die zu Fuße nebenher gingen. Er machte Gesellschaft mit ihnen bis zu dem Orte, wo die Pferde gefüttert und Mittag gehalten ward. Sie reiseten, wie sie ihm erzählten, nach einem Städtchen, wo sie während des Jahrmarktes spielen wollten. Nur waren sie in großer Verlegenheit: denn ihre lustige Person hatte ein Fieber bekommen und im letzten Nachtlager müssen zurückgelassen werden. Sie taten unserm Anselm die Ehre zu glauben, seine Figur sehe komisch aus, und wollten durch ihn ihren Mangel vor der Hand ersetzen. Sie gaben ihm Unterricht, und weil sie es ihm so leicht machten und die Probe, die im ersten Nachtlager in einem Zimmer mit ihm versucht ward, so ziemlich ablief, war er bereit, sich diese Rolle gefallen zu lassen, zumal da er gar keine andere Aussicht hatte.

Hier hinderte nun unsern Anselm nicht seine kleine Statur, noch sein runder Bauch; aber als er aufs Theater kam, war er zu furchtsam, seine Stimme zu schwach und seine Gebärden nicht lustig genug. Er fand keinen Beifall und wäre beinahe ausgepfiffen worden. Die rechte lustige Person hatte sich nach einigen Tagen vom Fieber erholt und kam zur großen Freude der Komödianten noch während des Jahrmarktes nach. Ein hohes und gnädiges Publikum des Städtchens bezeugte seinen lauten Beifall. Anselm ward vergessen und, da er die Stelle eines Lichtputzers, die eben vakant war, nicht annehmen wollte, ganz abgedankt.

Anselm mußte sich in sein Schicksal finden. Indem er voll Grillen über den Markt ging, sah er auf einem offenen Theater einen Marktschreier ausstehen. Er verweilte sich wundershalber vor der Bühne, um an der lustigen Person, deren Einfälle mit wieherndem Gelächter aufgenommen wurden, zu sehen, was ihm selbst wohl fehlen möchte, um auf dem Theater Beifall zu erhalten. Bald aber zog der Marktschreier selbst seine Aufmerksamkeit auf sich. Dieser Kerl redete das unsinnigste Zeug; dennoch wurden seine Arzneien sehr häufig gekauft, ob sie gleich für die Krankheiten, die er nannte, gar nicht helfen konnten. Anselm erschrak über diese Verblendung. Mit einemmal gab ihm seine Klugheit, mit Hilfe seiner Einbildungskraft, den Gedanken ein: wenn die Leute ganz unwirksame und zwecklose Arzneien so begierig kauften, so würden sie doch viel lieber solche kaufen, welche ihnen helfen könnten. Er baute hierauf die Hoffnung eines zwar kleinen, aber doch sichern Auskommens, bis sich etwas Anständigeres fände. Sogleich legte er alles Geld an, welches er von seinem kurzen Komödiantenleben erübrigt hatte und von dem Reste seiner jetzt verkauften Wäsche lösete, um einige wohlfeile Arzneien anzuschaffen, die er auf verschiedene Art zweckmäßig mischte und ihnen die Namen von Wunderpulvern und himmlischen Essenzen gab. »Die Welt will betrogen sein!« dachte er, »ich will sie wenigstens nur im Namen, nicht in der Wirkung betrügen. Es heißt im Grunde, den Leuten einen wahren Dienst tun, damit sie nicht von unwissenden Marktschreiern um ihre Gesundheit gebracht werden.« Diese menschenfreundliche Betrachtung tröstete ihn über das Niedrige seines Unternehmens.

Er ging mit diesem Vorrate nach einem andern Jahrmarkte an die Grenze einer benachbarten kleinen Grafschaft, worin er ihn gewiß den ersten Tag teuer zu verkaufen und auf die folgenden Tage schon mehr anzuschaffen meinte. Er mietete sich ein Pferd auf einen Tag und bot so auf dem Jahrmarkte seine Arzneien feil. Aber der Erfolg war ganz anders, als er gehofft hatte. Er war kein Charlatan. Er konnte nicht genug schreien und nicht Gesundheit genug versprechen. Er wollte die Kranken untersuchen. Das nahm Zeit weg und schien den Leuten nicht wunderbar genug. Die Beschaffenheit der Arzneien wußte er nicht künstlich genug zu verbergen. Der eine schmeckte den Rhabarber, der andere roch den Kampfer. Dies, meinten sie, könnten sie sich aus der Apotheke selbst holen und brauchten dazu keinen reitenden Doktor. Anselm hatte auch keine lustige Person, um das Volk heranzulocken. Es blieb also niemand bei ihm stehen, und er verkaufte den ersten Tag kaum so viel, um die Miete des Pferdes zu bezahlen, und sah deutlich, daß er es nicht wagen dürfe, es auf den zweiten Tag zu mieten. Nachdem er sein Nachtlager bezahlt hatte, war abermal sein letzter Stüber ausgegeben; und es blieb ihm im eigentlichsten Verstande auf den folgenden Tag zur Nahrung nichts übrig als einige Portionen Rhabarber und Glaubersalz, die er nicht hatte verkaufen können.

Nun war also auch sein letzter Plan gescheitert, dessen Erfolg er für völlig sicher gehalten hatte, weil er seiner Meinung nach auf gemeinnützige Wohltätigkeit abzweckte. Er ging, da seines Bleibens hier nicht mehr war, zum Tore hinaus, um seinem Unmute Luft zu machen, der nahe an Verzweiflung grenzte. Seine Torheiten kamen ihm in dieser Gemütsstimmung nicht zu Sinne, sondern nur seine mannigfaltigen Unglücksfälle und fehlgeschlagenen Pläne, die er als eben soviele Unbilligkeiten des Schicksals gegen ihn betrachtete, ohne in Anschlag zu bringen, wieviel davon er selbet möchte veranlaßt haben. Er sagte sich: daß er doch viel Geschicklichkeiten erworben, daß er ein gutes Herz habe und sich keiner schlechten Handlung schuldig wisse, gleichwohl gehe alles, was er unternähme, ohne seine Schuld beständig den Krebsgang. Ihm fielen, in dieser schwarzen Laune, von seiner Jugend her verschiedene Dordrechtsche Lehren aus Braunii Doctrina Foederum im Kapitel de reprobatione ein, und – wie denn weltliche Menschen immer die heilsamsten Lehren der Dogmatik unrichtig anwenden – er betrachtete sich als reprobiert, als zum Unglücke prädestiniert, und glaubte, es sei für ihn auch gar keine einzige Aussicht zum Wohlstande mehr übrig. Je mehr er um sich sah, fand er sich von aller Welt verlassen, hoffnungslos, in schrecklicher Einzelnheit; er, der doch ein besseres Schicksal verdient hätte, indes die Reitheime, die Platter und andere Leute der Art schwelgen. Alles Unglück war nur über ihn verhängt! Was halfen ihm seine erlernten Kenntnisse, was half ihm sein weiches Herz, was seine guten Gesinnungen gegen alle Menschen? Er war verachtet, verlassen, unwiederbringlich unglücklich! Während er fortfuhr, über diesen schwarzen Gedanken zu brüten, kam er unvermerkt in ein Wäldchen, das immer dichter ward, und, indem er in düsterer Betäubung fortging, stand er auf einmal vor einem ziemlich großen See. Er sah starr in den Spiegel des ruhigen Wassers. Der Ort war heimlich, und melancholisch die bis ins Wasser hangenden Weiden. Sein düsteres Sinnen über sein Unglück und über die Härte der Menschen, die ihn ganz verstießen, ging allgemach in Verzweiflung über. »Ruhe ist im Tode zu finden«, sagte er, »Ruhe werde mir in diesem stillen See!«

Stolz und weichliche Trostlosigkeit sind die gewöhnlichsten Ursachen des Selbstmordes. Diese kamen hier zusammen, und er war eben bereit, ins Wasser zu springen; aber als er nochmals in den See hineinsah, kam er ihm so naß und so tief vor! Er schauderte und trat einen Schritt zurück. Noch einen Augenblick wollte er warten. Die starre Verzweiflung lösete sich in laute Klagen über sein unabsehbares Unglück auf. Er raufte sich die Haare aus, schlug wütend vor seine Brust und zerriß dadurch das Bändchen um den Hals, an dem Sophiens Bild in seinem bloßen Busen hing; es fiel ihm in die Hand. Er blickte darauf und fuhr noch zwei Schritte zurück. Seine klagende Wut verstummte. Er sah dies holde, edle, leidende Gesicht! – Durch ihn war sie unglücklich gemacht; sie war unverändert gegen ihn – und duldete! – »Sollte ich nicht auch dulden!« rief er aus. »Könnte ich wohl Sophiens Leiden vermehren, durch die Nachricht – von meinem schimpflichen Tode! – Schrecklich! – Nein! – Ich muß leben; denn meine Todespost würde Sophien noch unglücklicher machen. – Das kann nicht, das muß nicht sein! – Ich will dulden nach ihrem Beispiele, – muß dulden! – dulden alles Unglück, wenngleich unverdient! – Dulden das Leben in dieser öden Welt, wo ich da stehe, – unglücklich! Von jedermann verlassen! Ohne Hilfe! Ohne Freunde! Hoffnungslos!«

Er starrte nochmal zurück und schwieg einige Minuten. – »Hoffnungslos?« fuhr er fort. »Habe ich keinen Freund? Da ist Philipp, edler und besser als ich; da ist der Pastor in ..., mein Wohltäter!«

Er schwieg abermal eine Minute und sagte leise zu sich selbst: »Nein! der ist nicht ganz unglücklich zu nennen, der zwei wahre Freunde hat; – er müßte denn ihrer ganz unwürdig sein. – Ja! das bin ich; und verdiene mein Unglück!« – Er seufzte tief, und ein Strom von Tränen wahrer Reue stürzte aus seinen Augen.

Er setzte sich auf den Rasen, Sophiens Bild in der Hand, und benetzte es mit Tränen. Hierdurch bekam sein Herz Luft, und er gewann endlich soviel Besinnung, um zu fühlen, er müsse weder verzweifeln noch verzagen, und über seine Lage nachzudenken und zu überlegen, wohin er gehen und was er anfangen sollte. Zu Philipp oder zum Pastor in ...? Er hätte sich bis dahin durchbetteln müssen. Und dann konnte ers auch nicht ertragen, diesen Freunden abermal beschwerlich zu fallen. Im Grunde hatte er aber noch eine Ursache, diese Freunde zu meiden, die er sich selbst kaum entwickelte. Es war ihm unerträglich, vor ihnen zu stehen, beladen mit der Notwendigkeit, ihnen die unverzeihliche Torheit zu bekennen, die ihn in diese äußerste Stufe des Elendes durch eigne Schuld gebracht hatte. Aber wohin sonst sollte er sich wenden, in einem ihm unbekannten Lande, von allen Menschen verlassen? Das wußte er nicht. Indes raffte er sich auf, und indem er Sophiens Bildnis mechanisch in seine Westentasche steckte, fühlte er etwas Hartes. Es war ein Konventionstaler, der durch ein Loch in der Tasche ins Futter gefallen und daher nicht bemerkt worden war. Anselm staunte diese unvermutete Hilfe an und beschloß, in dem nächsten Orte, wo es auch sei, die Wohltat einer genügsamen Abendmahlzeit und eines ruhigen Lagers, sei es auch nur auf Stroh, zu genießen. Das Schicksal hatte es aber anders beschlossen und ihn einem schrecklichern Unfalle vorbehalten.


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