Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehnter Abschnitt

Unvermutete Vorfälle, welchen Anselms Klugheit und philosophische Spekulation beinahe nicht gewachsen gewesen wäre

Anselm hatte nun in kurzer Zeit schon mancherlei Erfahrungen gemacht und vieles in seinem Ehestande, welcher immer das äußerste Ziel seiner jugendlichen Entwürfe eines glücklichen Lebens gewesen war, ganz anders gefunden, als seine Imagination und seine Spekulation, die beiden Grundpfeiler aller seiner Pläne, es ihm hatten vorstellen können. Seine Theorie vom häuslichen Glücke fand er immer noch vollkommen gegründet, besonders nachdem er sie nach der kritischen Philosophie berichtigt hatte; aber da kam der verzweifelte Hausfreund und die Verbürgung als zwei Tatsachen dazwischen. Nun sind Tatsachen eigensinnige widerspenstige Dinge, wodurch, wie die traurige Erfahrung lehrt, oft die hellesten Theorien dunkel gemacht werden. Zuweilen hatte unser dicker Mann darüber mancherlei Gedanken, denen er nicht lange nachhängen mochte und sich daher bald entweder der kritischen Philosophie oder den Liebkosungen seiner Angelika in die Arme warf, welche seit der letzten Gefälligkeit durch die geleistete Bürgschaft für ihren gemeinschaftlichen Freund viel häufiger wurden. Anselm fühlte sich dadurch so glücklich, daß er darüber oft sogar nicht nur den transzendenteilen Schein, sondern auch den empirischen Schein, als möge in seinem Hauswesen und in seinem Ehestande nicht alles nach seinem Plane gehen, auf eine Zeitlang vergaß.

So waren etwa sieben Monate seit der Verheiratung unsers guten dicken Mannes verflossen. Anselm war eines Tages sehr vergnügt gewesen, weil Frau Angelika, obgleich kränklich, ihre Liebesbezeigungen gegen ihn verdoppelte. Er fühlte das große Glück, diese Frau zu besitzen, und überzeugte sich, daß die kleinen vorübergehenden Launen unbedeutend wären. Er überlegte nicht allein, wie schön und wie herzlich sie war, sondern auch wie voll von feinen Gesinnungen, wobei er sich lebhaft der ersten glücklichen Zeit der Bewerbung und der Lektur der neuen Heloise, begleitet mit den moralischen Betrachtungen der Frau Angelika, erinnerte. So war unser dicker Mann frohen Mutes, als sich mit einemmale plötzlich in seinem Hause alles änderte. Den ersten Anfang machte ein Zufall, den niemand, und er am wenigsten, vermutete. Die schöne Angelika ward in der Nacht unpaß; und wenige Stunden darauf ward sie von einem Knaben entbunden, der gesund und ebenso vollständig und rund war als Anselm selbst, wie er geboren ward. Diesen Zeitpunkt glücklich zu erleben, war immer sein liebster Wunsch und der Gegenstand mancher Ausrechnung gewesen; aber diesen Wunsch so früh erfüllt zu sehen, machte ihn staunen und etwas bestürzt. Er hatte zwar die gerichtliche Arzneikunde zu gut studiert, um nicht zu wissen, daß eine siebenmonatliche Geburt für echt erkannt werde; aber daß ihm gerade selbst ein so seltener Fall begegnen sollte, gefiel ihm nicht und brachte ihm allerlei Gedanken in den Kopf. Doch er hatte nicht lange Zeit, denselben nachzuhangen; denn andre Gemütsbewegungen warteten seiner. Das Kind verfiel am dritten Tage in Gichter und starb aller von ihm angewandten Mittel ungeachtet. Er lenkte nun seine Sorgfalt auf die Mutter, welche nicht aus einer sehr schädlich auf sie wirkenden Unruhe zu bringen war. Sie erlag unter derselben und starb wenige Tage darauf unter vielen Tränen, welche Tränen der Reue schienen.

Anselm war durch diese Vorfälle im Innersten gerührt. Bald aber stürmten noch mehrere Unfälle auf ihn zu. Platter verschwand, und es zeigte sich, daß er sehr viele Schulden hinterließ. Für Anselm blieb nichts übrig, als die Verschreibung zur Verfallzeit zu bezahlen. Als er darauf dachte, kam die Nachricht, daß der größte Teil der nach Polen in Kommission geschickten Tücher noch unverkauft läge und daß der auswärtige Kaufmann, auf den, für verkaufte Tücher, der Wert von 6000 Talern Species trassiert war, zu zahlen aufgehört habe. Die vermehrten Stuhlarbeiter erforderten wöchentlich eine ansehnliche Bezahlung; und die Tücher, welche sie lieferten, waren vor der Hand nicht abzusetzen. Alle diese Unglücksfälle mußten den gänzlichen Sturz des Hauses und der Manufaktur verursachen. Durch Anselms neue Einrichtungen war also das ganze Werk, welches sein Vater mit so viel Fleiß und Sparsamkeit gestiftet und viele Jahre lang erhalten hatte, in wenig Monaten zusammengestürzt und seine eigene Wohlfahrt unwiderbringlich verloren. Er überließ sich, beinahe ohne Besinnung, einem wütenden Schmerze.

Man sollte denken, die vielen Wissenschaften, besonders die Philosophie, wovon unser guter dicker Mann sogar zweierlei sich widersprechende Systeme vollkommen innehatte, müßten bei solchen harten Zufällen Stärke und gesetzten Mut geben, um Unglück zu ertragen und besonnen zu bleiben, aber die Erfahrung lehrt gemeiniglich das Gegenteil. Leute, welche den Kopf mit Wissenschaften und Weisheit vollstopfen, sind wie die guten Hausfrauen, welche ihre Wohnzimmer entweder beständig so naß waschen, daß sie nicht darin wohnen können, oder sie so weiß scheuern und zierlich aufputzen, daß sie sich darin zu wohnen nicht getrauen. Sie behelfen sich dann lebenslang in einer schmutzigen Schlaf- oder Polterkammer und wohnen lieber gar nicht in ihren Zimmern. Aus einer gleichen Ursache scheinen die gelehrten Philosophen ihre Philosophie in der wirklichen Welt so wenig brauchen zu können. Sie ist entweder noch scheuernaß, oder sie befürchten, wenn sie angegriffen würde, müßte sie wieder gescheuert werden.

Philipp, ohne alle Theorie und Philosophie, behielt bei diesem Unglücke seine Besonnenheit unter anderm auch deswegen, weil er einen Teil der Unfälle vorausgesehen und zuweilen auch, ohne gehört zu werden, vor deren Veranlassung gewarnt hatte. Er leistete die nützlichsten Dienste. Anselm, der nun allen Mut verlor, überließ sich und seine Wohlfahrt ihm ganz; und das war noch klug gehandelt. Philipp kannte die wahren Vorteile der Manufaktur und der Handlung, welche nur durch die unüberlegte Vergrößerung und durch die schlechte Haushaltung so sehr waren vermindert worden. Er verkaufte gleich Kutschen und Pferde und schränkte das Haus nur auf die allernötigsten Ausgaben ein. Er dankte einen Teil der nicht nötigen Arbeiter ab. Er fand Mittel, die übrigen, welche in Tätigkeit mußten erhalten werden, vor der Hand richtig zu bezahlen. Er hatte das Glück, durch einen treuen Korrespondenten das polnische Kommissionslager, obgleich mit Schaden, doch bar zu verkaufen, und dadurch, selbst zur Verwundrung des Wucherers, die Verschreibung zur Verfallzeit zu bezahlen. Anselm fing nun selbst an, wieder einigen Mut zu fassen. Philipp hatte zu allen nötigen Ausgaben Geld gefunden und war dadurch im Stande, die Manufaktur noch einige Monate lang mit Nutzen und Ehren zu führen. Aber nun häuften sich die Schwierigkeiten wieder. Das aufgenommene Kapital ward aufgekündigt, und es war aller angewandten Mühe ungeachtet keine Verlängerung der Verschreibung zu erhalten. Es schien also unmöglich, das Haus vor dem Umsturze zu sichern. Philipp aber verlor den Mut nicht. Er verhehlte möglichst die mißlichen Umstände, fand durch die weiseste Sparsamkeit und durch ein kleines Kapital, das er von seinem eigenen Gehalte erspart hatte, Mittel, abermal die Manufaktur fortarbeiten zu lassen, so daß man äußerlich nichts merkte; und unter der Hand suchte er einen Käufer dazu, den er auch an einem reichen Kaufmanne in Burscheid fand, welcher ziemlich den Wert dafür gab. Nun zahlte Philipp alle Schuldner richtig aus, und am Ende blieben noch ein paar tausend Taler übrig.

Anselm war in seinem Innersten gerührt und wollte den kleinen Rest seines Vermögens mit dem treuen Philipp teilen. Dieser weigerte sich aber schlechterdings, etwas weiter zu nehmen als seinen Vorschuß und seinen gewöhnlichen rückständigen Gehalt. »Was ich tat«, sagte er, »war ich meiner Pflicht und der Dankbarkeit schuldig.« Anselm verehrte diesen edlen Mann und fühlte nun in sich selbst zuerst, wie weit er, der sich immer so klug dünkte, demselben an wahrer Klugheit und ausdaurendem Mute nachzusetzen sei.

Es mußte jetzt eine ganz neue Ordnung der Dinge angehen. Anselm war sehr unschlüssig, was für ihn zu tun sei; aber darin war er mit sich einig, es werde ihm unerträglich sein, in Aachen oder Vaals sich ferner aufzuhalten, ob er gleich nicht eigentlich wußte, wohin. Philipp, welcher sich durch die kluge Führung von Anselms Geschäften bei den Kaufleuten in der dortigen Gegend sehr viel Achtung erworben hatte, ward von einem derselben nach Elberfeld empfohlen, um der Handlung und Manufaktur einer Witwe vorzustehen, deren Mann kürzlich gestorben war. Dies bewog Anselmen gleichfalls, Elberfeld zum Orte seines Aufenthalts und vielleicht seiner medizinischen Praxis zu wählen. Sie reiseten dahin ab; und kurz vorher nötigte Anselm seinen Freund Philipp, um gegen ihn doch einige Dankbarkeit zu beweisen, die Zession von Platters Verschreibung der für ihn bezahlten Summe als ein Geschenk anzunehmen. Philipp ließ der guten Gesinnung Gerechtigkeit widerfahren und nahm endlich die Zession aus bloßer Gefälligkeit an, weil es doch nicht im geringsten wahrscheinlich war, daß Anselm je auch nur den kleinsten Teil dieser Verschreibung bezahlt erhalten würde.


 << zurück weiter >>