Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Erster Abschnitt

Von der Familie und den nächsten Vorfahren Anselms

In des heiligen Römischen Reichs Stadt Aachen, die sich den königlichen Stuhl nennet, ungeachtet seit Jahrhunderten in der Stadt und dem ganzen Reiche von Aachen eben kein König sich zu setzen Gelegenheit gehabt hat, wohnte ungefähr in der Mitte dieses achtzehnten Jahrhunderts Meister Anton Redlich, ein Tuchmacher, nebst seiner Frau Sabine. Er war fleißig und sparsam, sie war bieder, sparsam und ordentlich; so vermehrte sich seine Arbeit, weil jeder Kaufmann Meister Antons Tuch besser gearbeitet fand als andrer Meister.

Nun ist aber ein weises Gesetz in Aachen: ein Tuchmachermeister solle mehr nicht als auf vier Stühlen arbeiten und mehr nicht als vier Gesellen halten; ein Gesetz, welches ausdrücklich gemacht scheint, um die vielen Bettler, womit alle Straßen dieser Stadt so reichlich gesegnet sind, nicht zum Spinnen und Kämmen der Wolle kommen zu lassen. Ferner bestehet in Aachen ein andres Gesetz, welches den Protestanten nicht verstattet, ein eigenes Haus, noch weniger das Bürgerrecht zu haben. Eine solche Verordnung würde der philosophische Gesetzgeber Dohm nicht gegeben haben, der aber auch seine für die Stadt Aachen entworfene Konstitution im Jahre 1790 nicht einführen konnte; sie ist hingegen ein wesentlicher Teil der katholischen Konstitution, welche der militärische Gesetzgeber Spinola im Jahre 1641 mit gutem Erfolge in Aachen wirklich einführte. Dergleichen Verbote sind auf den frommen Grundsatz gestellt: Nötige sie hereinzukommen. Es ist aber ein Beweis, wie sehr der Verstand der Protestanten, verlassen vom unfehlbaren Richter, verkehrt worden ist, daß sie solche Verbote gewöhnlich so verstehen, als wäre ihr Sinn: Nötige sie hinwegzugehen. Meister Anton und Frau Sabine hatten das Unglück, nicht zur alleinseligmachenden Kirche zu gehören, und waren beständig mißvergnügt, daß immer für mehr als vier Stühle Arbeit da war und sie nur vier Stühle halten durften, daß sie ein eigenes Haus nötig hatten und es nicht zu besitzen berechtigt waren und daß sie zum Gottesdienste eine Stunde Wegs nach dem holländischen Dorfe Vaals gehen mußten. Daraus entstand endlich ganz natürlich der Gedanke, sich neben ihrer Kirche zu setzen. Meister Anton zog also nach Vaals, mit Frau Sabine und mit Leonoren, seiner unverheirateten Schwester. Er kaufte dort ein Häuschen, hatte mit keiner Zunft Streit, ließ auf so viel Stühlen arbeiten, als er wollte, legte eine eigene Tuchschererei und Färberei an, welches ihm in Aachen auch nicht erlaubt gewesen wäre, und hatte nur zwanzig Schritte bis zur Kirche zu gehen. Zu leugnen war es nicht, daß er anjetzt von den großen Reliquien der Reichsstadt Aachen, dem Rocke der Jungfrau Maria und den Windeln des Christkindes, nicht mehr wie ehedem nur zwanzig Schritte entfernt wohnte. Auch ist ausgemacht, wenn er die Fronleichnamsprozession und in derselben den kolossalischen vermummten Mann, welcher zur Erbauung der rechtgläubigen Bürger und Bürgerinnen Aachens Karl den Großen als einen Heiligen vorstellt, ferner anzusehen gemeint gewesen wäre, so hätte er eine Stunde Weges darnach gehen müssen. Aber Meister Anton war ein so verstockter Protestant, daß er auf alle diese Dinge eben so wenig zu achten schien, als die Reichsstadt Aachen darauf, daß in ihr eine Familie weniger wohnte und auf vier Stühlen weniger gewebt ward.

Meister Anton hatte einen Bruder, namens Georg, der von Jugend auf Trieb hatte, fremde Länder zu sehen. Dieser arbeitete daher eine Zeitlang als Geselle in Holland, wo er mit den Herrnhutern in Zeist bekannt und ihrer Gemeinde einverleibt wurde. Die Ältesten sendeten ihn mit einer Empfehlung an die Brüder nach London. Daselbst arbeitete er bei verschiedenen ansehnlichen Tuchmachern in Southwark und lernte manche in seiner Vaterstadt unbekannten Vorteile. Es ging alles gut, bis daß die Ältesten das damals noch geltende Los des Heilands über ihn warfen. Dasselbe wies ihm eine Gattin an, welche, vermutlich nur zufälligerweise, nach dem Sinne der Ältesten, aber gar nicht nach dem Sinne Georgs war. Er bezeigte sich mit dem Los des Heilandes unzufrieden und fiel in die Gemeindezucht. Allein, er hatte so viel eigenen Willen, daß er sich dem Heilande und den durch ihn losenden Ältesten nicht ganz ergeben wollte, verließ daher die Gemeinde und zugleich England. Er kam nach Vaals, kurz nachdem sein Bruder sich daselbst gesetzt hatte. Er wäre sonst wohl nach seiner Vaterstadt Aachen gezogen. Denn das Los in London hatte ihm alle Lust zum Heiraten benommen; daher war er als ein einzelner Mann gar nicht willens, seine Manufaktur über vier Stühle zu treiben. Aber nun blieb er lieber, wo seine Kirche und sein Bruder war, wurde in Vaals Meister; und so hatte Aachen noch einen Einwohner weniger.

Es fügte sich, daß Meister Georgs Zurückkunft seinem Bruder auf mannigfaltige Art nützlich ward. Außer dem stillen Vergnügen brüderlicher Gesellschaft, welches das häusliche Glück dieser kleinen Familie vermehrte, gereichten Meister Georgs Kenntnisse von der engländischen Art zu weben und von der Verbesserung des feinen Gespinstes, welche er seinem Bruder ohne Vorbehalt mitteilte, der Manufaktur des letzteren zu nicht geringem Vorteile. Meister Georg besaß ebenfalls den anhaltenden Fleiß und die Genügsamkeit seines Bruders, nebst der den Herrnhutern gewöhnlichen heitern Frömmigkeit und Gleichmütigkeit, ihre Gemeindezucht abgerechnet, die freilich, so wie alle Kirchendisziplinen, mehr der Gemeinde als den einzelnen Gliedern nutzt. Er besaß noch dazu die Weltkenntnis, welche durch Reisen erworben wird, und die Menschenkenntnis, die derjenige nach und nach erlangen muß, welcher jahrelang unter den Herrnhutern gewesen ist und sowohl die Ältesten und die Vorsteher als die Glieder dieser Gemeinde in der Stille beobachtet hat. Dies mögen wohl nicht alle Brüder tun können oder tun wollen. Auch soll ein alter Herrnhuter gesagt haben, wer auf solche Weise beobachte, werde mit der Zeit entweder ein Ältester werden oder die Gemeinde verlassen.

Diese Welt- und Menschenkenntnis Meister Georgs gereichte nach und nach der ganzen Familie zum Nutzen. Meister Anton war fleißiger im Arbeiten als im Sprechen. Wenn er daher mit seiner Sabine abends oder sonntags zusammensaß, dies oder jenes zu überlegen, so redete sie mehrenteils allein. War aber Meister Georg dabei, so redete er gewöhnlich, und Frau Sabine antwortete zuweilen. Meister Georg war das Orakel der Familie: manchmal redete er auch, wie sonst die Orakel, ganz allein, gewöhnlich aber doch deutlicher und nützlicher als diese.

Meister Antons Manufaktur bekam nach einiger Zeit durch einen Zufall eine große Verbesserung und der Wohlstand seines Hauses dadurch noch einen größeren Zuwachs. Als er in Aachen wohnte, war sein nächster Nachbar ein Doktor der Arzneigelahrtheit, der aber nicht praktizierte, sondern, wie es schien, von seinen Einkünften ganz stille lebte. Wir sagen, wie es schien; denn wirklich zehrte er nicht nur seine Einkünfte, sondern auch sein Kapital auf, und seine anscheinende stille Ruhe war eigentlich unordentliche Tätigkeit. Denn Doktor Anselm Ettmann war unablässig bemühet, den gebenedeiten Stein der Weisen zu finden, und suchte in Tiegeln und Kohlen so lange nach Gold, bis er weder Silber noch Kupfer besaß, um Tiegel und Kohlen zu kaufen. Doktor Ettmann besaß in der Tat soviel chemische Kenntnisse, daß aller dunkler Unsinn alchemistischer Schriften seinen Beobachtungsgeist nicht ganz hatten ersticken können. Dabei war er, seine Torheit ausgenommen, der beste Mann, weshalb auch Meister Anton, der von dieser Torheit kaum etwas wußte, beständig gute Nachbarschaft mit ihm gehalten hatte. Er kam endlich immer mehr herunter. Zum Kummer über seine fehlgeschlagenen Hoffnungen und zum Mangel an allem Nötigen kam noch eine tödliche Krankheit. Meister Anton, der, um Wohltaten zu erzeigen, nicht wartete, bis sie gefordert wurden, unterstützte seinen gewesenen Nachbar, als er bei seiner oftmaligen Anwesenheit in Aachen dessen betrübten Zustand vernahm, sogleich mit Arzneimitteln und Pflege, die sein Leben retteten; und da kurz darauf von den Gläubigern des Doktors dessen Wohnung ganz ausgeräumt und die sämtlichen Habe verkauft ward, nahm ihn Meister Anton in sein eigenes Haus zu Vaals auf. Doktor Ettmann war der Tätigkeit gewohnt, er wendete daher seine chemischen Kenntnisse zum Besten seines Wohltäters an, indem er ihm Anleitung zu großen Verbesserungen seiner Tuchfärberei gab. Es wurden ganz neue Farben erfunden, andere erhöhet und dauerhafter gemacht. Diese und die von Meister Georg mitgeteilten Vorteile, verbunden mit Meister Antons anhaltendem Fleiße und Eifer, gaben seiner Manufaktur die sichtlichsten Vorzüge. Die Anzahl der Stühle und des Absatzes nahm in wenig Jahren ungemein schnell zu, und Meister Anton ward dadurch binnen kurzer Zeit aus einem armen Aachener Tuchmacher ein reicher Manufakturist in Vaals.

Durch die Dankbarkeit des Doktors war der Wohlstand Meister Antons fest gegründet worden, aber dieser gab jenem an Dankbarkeit nichts nach. Er legte ihm ein beträchtliches Gehalt bei, kaufte ihm ein Haus und gab ihm seine Schwester Leonore zur Ehe.

So reich nun Meister Anton geworden war, so blieb doch die ganz einfache Einrichtung seiner Familie und ihre vorherige Frugalität unverändert. Es ward keine Schüssel mehr auf den Tisch gesetzt als im ersten Jahre der angefangenen Haushaltung; keine Veränderung in der Kleidung war zu merken, kein neumodisches Hausgerät ward eingeführt. Alle Tage der Woche wurden mit ununterbrochener Beschäftigung zugebracht; die Abendstunden und die verträglichen Sonntagsgesellschaften der Brüder und Schwestern wurden nicht zahlreicher als durch den Doktor, wenn er nicht etwa bei seinen Retorten und Schmelztiegeln saß. Der Herr des Hauses setzte etwas darin, auch nunmehr nicht Herr Redlich, sondern nur Meister Anton genannt zu werden, wie man ihn genannt hatte, da er noch selbst auf dem Stuhle arbeitete. Durch nichts verriet sich sein Reichtum als durch Unterstützung der Dürftigen. Aber Frau Sabine, die Ausspenderin dieser Wohltaten, wußte sie so vorsichtig zu verbergen, daß fast keine davon bekannt ward, wenigstens keine in die Augen fiel. Das Haus ward jährlich sehr durch Anbau vergrößert, aber wer die zunehmenden vorteilhaften Umstände der Familie nicht sonst kannte, erblickte nichts als die reinliche Wohnung eines fleißigen Handwerksmannes zwischen großen Manufakturgebäuden.


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