Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Zehnter Abschnitt

Doktor Anselms Eifer, die Arzneigelahrtheit zu praktizieren

Unser dicker Mann hielt sein Wort. Er blieb acht Tage in Aachen, er betrank sich nicht, er spielte nicht, aber er verliebte sich in eine Vettel, die ihn mit witzigem und empfindsamen Schnickschnack ankörnte und bei welcher er zwei lange breitschultrige, aber ganz artige Leute fand, voller Witz und lustiger Laune. Sie machten ein Gastmahl zusammen. Da ward freilich gegessen und getrunken, aber nicht bis zum Betrinken, sondern nur, um guter Dinge zu werden. Nun ward ein Spiel vorgeschlagen, aber Anselms Klugheit warf dies weit weg. Indes sah er zu, wie andere spielten. Es ward aufs Spielen gewettet. Wie es zuging, daß Anselm mitwettete, und noch mehr, wie er so schnell eine beträchtliche Summe verlor, wissen wir nicht, da ers sich selbst nicht recht erinnern konnte. Was er sich deutlich erinnerte, war, daß er glaubte, geprellt zu sein, daß er dies merken ließ und daß ihn darauf die beiden breitschultrigen Herren etwas unsanft zur Türe hinaus – und die Treppe hinunter schafften.

Es ist offenbar, daß hierbei gegen die Klugheit unsers dicken jungen Mannes nichts einzuwenden war; denn wer konnte so etwas voraussehen? Auch war wider seinen Mut nichts einzuwenden, denn es waren zwei gegen einen. Aber der strenge Philipp sagte doch: »Freund, hast du nicht Mißvergnügen für Vergnügen eingewechselt; und wär es nicht besser, Vergnügen für Arbeit zu kaufen?«

Die Wahrheit dieses Spruchs fiel nun unserm dicken Manne um so mehr auf, je stärker das ihm ganz unvermutete Mißvergnügen auf ihn wirkte. Seine Einbildungskraft ward entflammt durch die Vorstellung der neuen Art des Vergnügens, sich nützlich zu beschäftigen; und nun opferte er zwei Tage lang alle seine Gedanken den Göttern des Plato. Er war mit Ernste bedacht, sich der Ausübung der Medizin zu widmen, um sich dadurch ein neues Vergnügen zu schaffen. Damit er sich nun aufs geschwindeste in Praxis setzen möchte, fing er plötzlich an, alle kranken Armen in der Gegend zu besuchen und umsonst zu kurieren. Da er gleich anfangs das Vergnügen hatte, daß einige gesund wurden, so ergab er sich dieser menschenfreundlichen Beschäftigung mit verdoppeltem Eifer. Vom Morgen bis an den Abend war er und sein Karriol unterwegs, um in die Wohnungen des Mangels und des Elends Hilfe zu bringen. Ob ihn dazu bloß seine Menschenfreundlichkeit und Gutherzigkeit, zwei ihm angeborne Temperamentstugenden, so sehr antrieben, oder ob die Begierde, sich geltend zu machen, eine ihm ebenfalls angeborne Temperamentstorheit, einen beträchtlichen Anteil daran gehabt habe: möchte eine weitläuftige Untersuchung erfordern, die um so unnützer sein würde, da wir der Wahrheit zur Steuer berichten müssen, daß etwa nach einem Monate dieser Eifer ziemlich nachließ. Einige arme Kranke starben; andere waren unfolgsam und nahmen seine Arznei nicht. Die Unreinlichkeit ihrer Hütten ward ihm ekelhaft; und weil er, wie wir beiläufig bemerken müssen, noch die Temperamentseigenschaft der Bequemlichkeit in hohem Grade besaß, so fand er es bald sehr lästig, zu allen Zeiten des Tages und in aller Witterung in seinen menschenfreundlichen Geschäften auf den Landstraßen herumzurollen. Er gab zwar ferner den Armen guten Rat und Arznei, wenn sie sich bei ihm meldeten, aber seine Krankenbesuche wurden seltener und hörten endlich gar auf. Ja zuweilen, wenn ihm ein Rat wegen eines armen Kranken abgefordert ward und er gerade ein neues schönes Gesicht erblickt oder sonst etwas Neues im Sinn hatte, es sei nun eine heitere Romanze oder eine tiefsinnige Betrachtung über Substanzen und Accidenzen, so antwortete er zerstreut und kurz; und wer weiß, ob er nicht zuweilen radix Chinae mag verschieben haben, wo er cortex Chinae hatte verschreiben wollen. Das Beste ist, daß der Schaden für die Kranken so groß nicht kann gewesen sein; denn arme Leute werden gemeiniglich gesund, wenn sie nur Arznei nehmen, sei es, welche es wolle, so wie reiche Leute, die arm am Geiste sind, oft schon dadurch gesund werden, wenn sie den Arzt nur sehen und ihre ganz besonderen ganz unerhörten Krankheiten ihm nur klagen können.

Meister Anton, der mit stillem Vergnügen bemerkt hatte, daß sein Sohn anfing, sich mit Ernste auf etwas zu legen, und der daher das Geld für die Arzneien, welche die Kranken bekamen, mit doppeltem Vergnügen gegeben hatte, sah mit Betrübnis, daß er in kurzem diesen Anfang von Beschäftigung wieder verließ und in seine gewohnte verkehrte und zerstreute Lebensart fiel. Er sah ein, dies sei nicht der Weg, auf dem sich sein Sohn zu einem brauchbaren Manne bilden könne. So wenig auch Sprechen seine Sache war, so konnte er doch nicht umhin, ihm darüber einen Wink zu geben. Einst sagte er zu seinem Anselm: »Du hast nun so lange studiert, mein Sohn; und ich denke nach, was du bist! Mich dünkt: Nichts! Wisse aber, lieber Sohn: Aus Nichts wird Nichts.« Anselm rief mit Heftigkeit aus:

»Wie? Ich wäre Nichts? Bin ich nicht Doktor der Arzneigelahrtheit?«

»Ja, das hat mein Beutel empfunden! Aber die Kranken wissen von deiner Doktorschaft so viel wie nichts.«

»Aber rechnen Sie denn für Nichts, daß ich so viele Wissenschaften studiert habe und mich der Philosophie ergebe und die Ontologie und die Psychologie studiere?«

»Ich weiß nicht, was das ist und für wen du das studierst.«

»Für mich selbst! Ich habe mich selbst und meine Seele kennen lernen, und täglich entdecke ich neue Kräfte in derselben!«

»Du weißt also viel von dir selbst, oder dünkst dich viel zu wissen; und doch scheint es mir, wenn du dich selbst kenntest, so würdest du anders handeln, als du handelst. Doch wisse immer von dir selbst, so viel du willst. Es ist auch nötig, daß du weißt, was dich andere Leute angehn, damit du in der Welt fortkommst und auch andern nützlich wirst.«

»Ich denke zuerst an mich; und das mag jeder tun! Was gehn mich die andern an?«

»Auch ich nichts?«

»Lieber Vater, das will ich nicht sagen – Sie wissen ja wohl – ich liebe Sie – aber ...«

»Aber siehe nun, mein Sohn, hätte ich auch so denken wollen wie du und hätte nur an mich gedacht: so wärest du nicht mit so viel Kosten Doktor geworden; und wenn ich jetzt noch so dächte wie du, so könntest du jetzt nicht so viel Geld im Müßiggange verschwenden. Es ist ein herrlicher Spruch in der Bibel: Was du nicht willst, daß dir die Leute tun sollen, das tue du ihnen auch nicht. Wenn du, mein lieber Sohn, dich um niemand bekümmern willst, so wird sich künftig auch niemand um dich bekümmern! Dann wird es dir übel gehen; denn kein Mensch kann einzeln glücklich leben.«

»Aber Sie tun mir Unrecht, lieber Vater, hab ich denn nicht freiwillig angefangen, die armen Kranken zu kurieren?«

»Angefangen! – Das war recht gesagt, mein Sohn; denn du fingst nur an und hörtest gleich wieder auf; das ists eben, was mir leid tut. Ich weiß wohl, du hast manches Gute. Du kommst mir vor, wie ein Pack gut gekämmte Spanische Wolle oder fein gesponnenes Garn. Es könnte vielerlei schönes Zeug daraus gemacht werden. Wenn aber nicht wirklich etwas daraus gemacht wird, so wirds jahrelang auf dem Garnboden hin- und hergeworfen, verliegt, wird schmutzig und ist dann zum schlechten Zeuge nicht einmal tauglich. Sieh zu, daß es mit dir nicht auch so geht!«

Anselm hatte sehr viel zu seiner Verteidigung zu sagen. Meister Anton war nicht gelehrt genug, ihm zu antworten, und so glaubte Anselm, Recht zu behalten. Er ging in seiner bisherigen Lebensart fort, faßte gute Entschlüsse, die er nie ausführte, machte Theorien, die nie praktisch wurden, kam von einem aufs andere, bloß wie es ihm einfiel oder ihm eben Vergnügen machte, war Arzt, Dichter, Philosoph, weiser Mann, abwechselnd und ruckweise, und im Grunde keins von allem. Er wußte alles besser wie andere, wollte alles tun und tat nichts. Er suchte nur, seinen Willen zu haben und nach seiner Bequemlichkeit die Art seines Müßigganges zu wählen und abzuwechseln; und das hieß er, sein Vergnügen suchen. Denn schon fing er an zu fühlen, daß ein beständiges sinnliches Vergnügen einförmig wird und aufhört, Vergnügen zu sein.


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