Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Sechster Abschnitt

Anselmino wird im Philinthropine zu Horbock erzogen. Dessen Beruf zum Studieren

Das neu angelegte Philanthropin machte natürlich im Reiche von Aachen und in der umliegenden Gegend viel Aufsehn. Es empfahl sich im Hause Meister Antons durch einen zufälligen Umstand. Wir haben oben bemerkt, daß der Expastor Erasmus Quincunx vor Basedow mit dem Lateinreden nicht bestand; und mehrern der in Dessau abgewiesenen Lehrer, welche er für sein neues Institut von da mitbrachte, mochte es wohl ebenso gegangen sein. Daher verbannte er das Lateinreden ganz aus seiner Schulanstalt. Eben dieses, was bei vielen dem Lateine ergebenen Eltern und Schullehrern ein Anstoß war, empfahl sie in Meister Antons Hause, wo man seit dem letzten Examen des Lateins satt hatte. Es ward demnach beschlossen, den der Weisheit des Kandidaten zu Vaals entwachsenen Anselmino in diese Schule zu schicken. Unser Held mußte sich also unvermutet von seiner kleinen Sophie trennen, welches nicht ohne Tränen abging; aber Philipp zog mit ihm, nach Dessauer Weise als Famulant aufzuwarten und zu lernen.

Anselmino kam im Philanthropine zu Horbock in eine ganz neue Welt. Man muß dem wohlehrwürdigen Erasmus Quincunx zum Ruhme nachsagen, daß er die runden Hüte mit hohen Köpfen für sich und seine Zöglinge eher einführte, als sonst irgend jemand in Deutschland. Diese hohen Hüte, die rund abgeschnittenen Haare, die Wämser in Uniform, die Halbstiefel, die Verdienstorden und das Essen nach der Trommel machten die jungen Philanthropisten zu niedlichen Kerlchen; und Anselmino ward bald unter die Niedlichen der Niedlichste. Er dünkte sich selbst hübsch und ward bald vorschnell und trotzig. Er lernte meilenweit ohne Zweck zu Fuße laufen, sich täglich kalt baden, über einen Stock springen, kurz alles, was man in der wirklichen Welt nicht braucht; und er lernte es umso viel eifriger, da seine Lehrer laut sagten, die Welt würde bald ebenso werden wie das Philanthropin in Horbock, alle Menschen würden in kurzem sich kalt baden, laufen, springen, hohe Hüte und Halbstiefel tragen: so hielten sich demnach die kleinen Philanthropisten schon in Gedanken für die Muster der Bildung einer ganzen Generation.

Es ist wahr, statt daß in Anselms lateinischer Schule die Übung des Gedächtnisses alles gewesen war, so ward nun seine Denkungskraft geübt. Aber unglücklicher Weise dachten seine Lehrer ziemlich schief, und so lernte er schief denken. Man lehrte ihn Weisheit; aber es war nur die Weisheit frischgebackener weiser Lehrer, die vor kurzem erst Knaben waren und daher selbst nicht viel als die Weisheit eines Knaben bedurften. Diese Weisheit kam der angebornen Klugheit unsers dicken Männchens trefflich zustatten. Denn nun dünkte er sich viel klüger und wollte von jedem Warum das Darum sagen, eh ers gelernt hatte. Mit Lernen ward er überhaupt nicht sehr angegriffen. Zufolge der Grundsätze des Philanthropins zu Horbock sollte er nur lernen, wenn er Lust dazu hatte, und die hatte er selten: so daß er ohne seine natürliche Fähigkeit gar nichts würde gelernt haben.

Nachdem unser Held zwei Jahre dort zugebracht hatte, kam er als ein ganz andrer Mensch nach Hause; jeder, der ihn sah, staunte ihn an. Sein Verstand war zwar in gewisser Rücksicht mehr entwickelt, denn er hatte denken und räsonnieren lernen; aber völlig verlernt hatte er, sich im gemeinen Leben verständig aufzuführen. Er hielt es für ganz unnötig, sich nach der übrigen Welt zu richten; denn er hatte in Horbock so oft gehört, die Welt sei ausgeartet: daher forderte er, daß sich die Welt nach ihm richten solle, nach ihm, der aus der bessern Welt von Horbock kam. Er hielt sich nichts für übel, sprang über Stock und Block, verachtete alles, räsonnierte über alles. Wahr ist es, er hatte vieles gelernt, was sein Vater und sein Oheim nicht wußten, und was vielleicht auch in Vaals vor ihm niemals jemand gewußt hatte; doch fehlte ihm ganz die Geschicklichkeit, es gut anzubringen. Er wollte nicht beleidigen, ward aber wider seinen Willen durch sein ganzes Betragen beleidigend. Er würde noch unerträglicher geworden sein, wenn ihn nicht Philipp von manchen Dingen abgehalten hätte. Dieser sah mit seinem kalten gesunden Verstande die Wahrheit ein, schwieg zwar ungefragt, sagte sie aber, wenn er gefragt ward. Nun war Anselm sehr redselig, fragte daher sehr oft und hörte denn von Philipp manche Wahrheit, die er besser hätte nutzen können, wäre sein Leichtsinn nicht zu beständigen Seitensprüngen geneigt gewesen, so daß alle Nachbarn sagten: Musje Anselm ist ein Musje Naseweis!

Anselmino bemächtigte sich Philipps als eines Freundes, ob er gleich eigentlich mehr der Kammerdiener des jungen Herrn war, welcher schon den Dünkel fühlte, ein Wesen wie Er müsse einen Kammerdiener haben. Philipp frisierte ihn, holte seine Kleidungsstücke zusammen, wenn er sie, wie gewöhnlich, herumgeworfen hatte, und brachte sein Zimmer in Ordnung, welches gemeiniglich sehr unordentlich aussah. Wenn Philipp da nichts zu tun hatte, bot er sich freiwillig an, alles zu tun, was im Hause vorfiel. Er hatte eine sehr schöne Hand schreiben lernen, er rechnete aus dem Kopfe auf philanthropinsche Art und hatte noch manche anderen nützlichen Kenntnisse unvermerkt gesammelt, so daß er zu allen Manufakturgeschäften brauchbar war und jedermann ihn lobte.

Anselmino hingegen fühlte sich berufen, nichts zu tun; auch lobte ihn eben niemand. Seine Hauptleidenschaft war, nach hübschen Mädchen – in allen Ehren – zu sehen; und er lief oft ein paar Stunden zu Fuße, um eine recht ins Gesicht zu fassen. Erblickte er sie nicht, so hatte er doch die schöne Natur gesehen und glaubte, die Natur zu genießen, wenn er müßig ging. Er badete sich in jedem Bache oder Teiche und fiel zuweilen auf die Nase, wenn er seine Geschicklichkeit im Springen zeigen wollte. Er glaubte, nach der Natur zu leben, wenn er so lebte, wie es seinem Dünkel gefiel; der bürgerlichen Gesellschaft aber meinte er, nichts schuldig zu sein. Er moralisierte über alles dies oft stundenlang mit Philipp; denn moralisieren war, immer reden und seine Klugheit zeigen. Beides aber liebte unser dicker Mann; und Philipp, der Anselms Taten nicht bewunderte, kam immer zu kurz, wenn er ihn eines Bessern überweisen wollte. Anselmino hatte seine eigene Moral lieber, weil sie ihm erlaubte, alles zu tun, wozu er Lust hatte; und er besann sich nach vielem Moralisieren sogar, er müsse wohl lauter Gutes tun, denn ihm fiel ein, er habe noch nichts getan, was er selbst für Böse gehalten hätte.

So sehr die Eltern ihren Sohn liebten, so schüttelten sie doch über dies geniemäßige Leben die Köpfe. Es erfolgten auch gelinde Verweise. Oheim Georg schalt tüchtig. Anselm disputierte, wollte Recht haben, ward widerlegt und nicht überzeugt. Dann erzählte er einmal wieder etwas von der Naturgeschichte oder der Geographie, was er im Philanthropin gelernt hatte; und da freute man sich, daß er doch nicht unwissend war. Dann machte er wieder einmal ein gutherziges Stückchen, das die Herzen mit ihm vereinigte, lebte ein paar Tage eingezogen und beging sodann wieder einen dummen Streich, welcher den gesunden Verstand des ganzen Hauses empörte. Kurz, die Sache blieb, wie sie war, wenn auch manchmal Hoffnung zu erwachen schien, sie möchte anders werden; und dies drückte auf die guten Eltern um so viel mehr, weil sie immer weniger wußten, was denn nun aus ihrem einzigen Sohne werden sollte.

»Was aus ihm werden soll?« rief Oheim Georg aus: »Nun ist der Junge zum Tuchmacher gar nichts nütze! Die neumodische Schule hat ihn unklug gemacht. Sein Hin- und Herlaufen, sein Müßiggang würde deine Manufaktur noch mehr in Unordnung bringen als das Latein. Ich wollte, er wäre so wie Philipp; den hat niemand zu etwas angehalten, doch er ist zu allem brauchbar und Anselm zu nichts!«

Vater und Mutter seufzten heimlich: »Das ist wohl war!«

»Laß ihn studieren, Bruder Anton!« fuhr Georg fort: »Laß ihn studieren; er ist zu nichts Besserm nütze. Es wird weniger schaden, wenn er ein gelehrter Hasenfuß ist als ein hasenfüßiger Fabrikant! Der, welchen die andern ernähren, mag noch eher ein bißchen geckisch sein, wenn es einmal so sein muß; aber, wer andere ernähren soll, muß arbeiten und ordentlich arbeiten!« Also studieren sollte nun Anselm. Aber was? Frau Sabine mußte ihrem Manne um so mehr nachgeben, weil Anselm selbst die Theologie weit von sich warf; und so ward die Arzneiwissenschaft gewählt.


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