Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Fünfunddreißigster Abschnitt

Anselm findet unvermutet einen Bekannten. Hoffnung der Einwohner einer gräflichen Residenzstadt

Anselm ging mit einigem Mute auf dem ersten Wege fort, auf den er bei dem Ausgange des Wäldchens traf und gelangte am späten Nachmittage zu einem in der benachbarten kleinen Grafschaft gelegenen Flecken. Er hatte diesen Tag noch nichts gegessen, seine erste Frage war also nach dem Wirtshause. Er erstaunte nicht wenig, unter der Tür desselben einen Bedienten der Signora Bellonia zu sehen. Er fragte, ob sie da wäre? Auf die Bejahung geriet er dermaßen in Zorn, daß er seinen Hunger vergaß. Erlittenes Unrecht und Wahrnehmung niederträchtiger Gesinnung konnten ihn, seinem Charakter gemäß, gleich aus der Fassung setzen. Er ging gerade in ihr Zimmer, um ihr zu sagen, was sie verdiente. Er erstaunte, Plattern bei ihr allein zu finden, mit Weingläsern auf dem Tische, beide halb berauscht.

Er brach in gerechte Vorwürfe aus gegen die Signora und ihren Helfershelfer; diese wurden aber nur mit Lachen und Hohnnecken aufgenommen. Platter schenkte ein Glas Wein ein, das Anselm, obgleich nüchtern und durstig, mit Unwillen verschmähte. Platter stand auf, nahm ihn bei der Hand, ob er sie gleich zurückzog, und sagte:

»Sei kein Narr! Die Sache ist nun vorbei. Ich will ganz aufrichtig reden. Du hast gedacht, wie wunderklug du wärest, daß du eine alte Obligation, die ich schon ganz vergessen hatte, an Philipp zediertest, um mir fünftausend Speziestaler wieder abzujagen. Dies konnte ich freilich nicht hindern, und ich bewunderte dich in Gedanken, daß du pfiffiger warest als ich. Um dir aber zu zeigen, Kamerad, daß ich doch noch pfiffiger bin als du, machte ich einen Bund mit dieser schönen Nymphe, um dir den größten Teil wieder abzunehmen. Es tat mir leid, daß es nicht alles sein konnte! Doch bin ich auch nicht so arg, als du wohl denkst. Ich habs dir genommen; ich wills dir mit Wucher wiedergeben. Das tut nicht jeder in meiner Lage. Ich bin jetzt der Fratello dieser schönen Schwester; denn der andere ist abgedankt. Wir wollen dich zum zweiten Bruder annehmen. Ich will dir zeigen, wie man die Gimpel fängt; du aber sollst kein Gimpel mehr sein. Ich will dich lehren, wie man die Karten mischt, wie man das Buch da abhebt, wo man will, wie man Bilder oder Nichtbilder mit den Fingerspitzen erkennt, wie man jedes Blatt ganz unvermerkt zeichnet und ein gezeichnetes Buch statt eines ungezeichneten auf den Teppich bringt, wie man die Volte mit einer Hand schlägt und wie jedes Blatt rechts oder links fallen muß, so wie man will. Dies sollst du von mir lernen; dann wollen wir mit Hilfe dieses Lockvogels« – er schlug die Signora auf die Schulter – »schon die Gimpel ins Netz ziehen, und dann sollst du dein Geld bald wiederbekommen. Wir haben uns hier nur ins Inkognito gezogen, um uns ein paar Wochen gütlich zu tun. Morgen reisen wir nach der Frankfurter Messe, da müssen wir wieder nüchtern und ehrbar sein.« Und hiermit brachten ihm beide nochmal das Glas zu, auf gute Brüderschaft!

Anselm wich voll Abscheu zurück und rief aus: »Weil Ihr mich schändlich betrogen habt, will ich deswegen nicht andere betrügen!« Mehr andere Wahrheiten sagte er, ebenso bitter zu hören. Der schon vom Weine erhitzte Platter fuhr wütend auf unsern dicken Mann zu, ihn aus der Stube zu werfen. Dieser, dem der Unwillen die Kräfte verdoppelte, warf den Betrunkenen zu Boden. Platter raffte sich auf, griff nach seinem im Winkel stehenden Degen und fuhr damit auf den unbewehrten Anselm zu. Diesem half seine kleine Statur und seine, obgleich seit der Universität nicht geübte Fechtkunst, um unter den Stoß zu schlüpfen und Plattern auf den Leib zu kommen. Er wand ihm den Degen aus der Hand und setzte sich in Defension. Platter, durch Zorn und Wein halb sinnlos gemacht, fuhr blindlings auf ihn zu, lief sich seinen eigenen Degen in den Leib und fiel in seinem Blute ohnmächtig nieder. Signora Bellonia schrie im Sopran, der Wirt heulte im Tenor: Plater sei tot. Anselm ließ den aus Platters Leib gezogenen Degen fallen und stand stumm in äußerster Bestürzung da.

Man rief den Kontributionseinnehmer des Orts herbei, der als Perückenmachergeselle – und folglich als Barbier – durch Holland und Brabant gewandert war. Er hatte die Bärte der Männer des Fleckens zu besorgen und auch die vorfallenden Wunden, ausgenommen die Beinbrüche und Verrenkungen, welche der Scharfrichter kurierte. Dieser Äskulap untersuchte und verband die Wunde, und da er sie für absolut tödlich erklärte, so ward Anselm gebunden ins Haus des Gerichtsdieners gebracht, dort auf die bloße Erde gelegt und bewacht. Man setzte einen Krug Wasser und ein Stück grobes Brot neben ihn, welches er, weil die Hände zusammengeschnürt waren, nicht hätte nehmen können, wenn er auch gewollt hätte. Am folgenden Morgen ward er durch eine kommandierte Wache von acht bewaffneten Einwohnern des Fleckens, denen die übrigen aus Neugierde freiwillig folgten, nach dem nicht weit entlegenen Residenzstädtchen der Grafschaft gebracht. Daselbst verhörte man ihn summarisch und brachte ihn darauf ins Kriminalgefängnis, in ein unterirdisches Loch, wo er mit Ketten kreuzweise an die Mauer geschlossen ward.

Die Langeweile war seit undenklicher Zeit in dieser Residenz eingekehrt; einer gähnte immer den andern an. Der regierende Graf und sein Hofstaat waren nicht gegenwärtig. Kein Geistlicher in der Stadt war wegen Ketzerei verdächtig und keine Frau wegen Liebeshändel. Es war seit langer Zeit keine Feuersbrunst gewesen und kein starker Hagel gefallen. Es war kein Kalb mit drei Füßen geboren worden, sogar war seit Menschengedenken niemand am Schlagflusse oder Überladung des Magens plötzlich gestorben. Man wußte also durchaus nicht, wovon man in den Zusammenkünften hätte reden sollen, wenn man auch vor argem Gähnen hätte dazu kommen können.

Nun war Anselms Mordtat, wie dieser Vorfall allgemein benennet ward, auf einmal eine unerschöpfliche Quelle der Unterhaltung. Alle Umstände wurden erzählt und unzählige hinzugedichtet; man hatte täglich eine neue veränderte Nachricht, wovon das Hauptsächliche doch immer darauf hinauslief, daß Platter an seinen Wunden gestorben wäre, deren ihm das Gerücht wenigstens zehn beilegte. Eine Menge Einwohner der Residenz wallfahrteten nach dem Flecken, wo der Verwundete lag, und, ob sie ihn gleich nicht zu sehen bekamen, kehrten sie immer mit der Nachricht zurück, daß er eben verscheiden wolle, wenn er gleich den folgenden Tag noch lebte. Jedermann wollte den Mörder sehen. Die Leute drängten sich, wenn er ins Verhör geführet ward; und der Kerkermeister fand ein gutes Auskommen dabei, daß er täglich einige Stunden unsern armen dicken Mann einer Menge von Menschen, jedem für zwei Stüber, sehen ließ. Da mußte denn der arme Anselm über seine schweren Fesseln Anmerkungen hören; da entdeckten Kenner in seinem runden Gesichte und in seiner gutmütigen Miene die Bosheit eines Mörders. Da ward in seiner Gegenwart von den Zuschauern gefühllos gestritten, wie bald er werde zur Tortur gebracht werden, weil er verstockter Weise den Mord noch immer leugnen wollte, und welche Art von Todesstrafe er wohl werde leiden müssen.

Das war mehr als die menschliche Natur ertragen konnte. Gram, Kummer, schlechte Kost und Lage und vor allem die feuchte Luft des Gefängnisses machten, daß Anselm nach wenigen Wochen in ein Faulfieber verfiel. Dies erregte die Besorgnis, er möchte vor Ausgang des Prozesses sterben. Es ward daher die einzige medizinische Person in der ganzen Grafschaft zu ihm geschickt, indem der Leibarzt seit mehrern Jahren mit dem regierenden Grafen auf Reisen war, auf welchen die Einkünfte des Ländchens und noch etwas mehr in fremden Ländern verzehrt wurden. Dieser Mann war ein Chirurgus, etwas über vierzig Jahr alt, der weit in der Welt herumgereiset war, sich aber erst seit einem halben Jahre hier gesetzt hatte und mit vielem Glücke praktizierte.


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